Im Sommer vergangenen Jahres hatte der WASG-Vorsitzende Axel Troost eine ganz klare Vorstellung davon, was die Einfügung des Begriffs "Demokratischer Sozialismus" in die Dokumente der Vereinigung mit der Linkspartei erschwerte. Würde nämlich der Begriff, so Troost, "als Ziel der gesamten Partei definiert", dann käme "eine sozialistische Richtungspartei" heraus. Nun bestehe zwar die WASG mehrheitlich aus Sozialisten, doch würden auch "andere, natürlich humanistische, Ziele" vertreten. Deshalb sei es besser, bloß eine "antineoliberale linke Sammlungsbewegung" zu organisieren.
Spätestens Ende Februar 2007 wird er erkannt haben, dass den Verfechtern der "Sammlungsbewegung" ganz andere Motive unterstellt wurden. Da war der Aufruf eines "Forums Demokratischer Sozialismus" veröffentlicht, unterzeichnet von bekannten Linkspartei-Politikern wie André Brie, Stefan Liebich, Petra Pau, Heidi Knake-Werner, Harald Wolf und vielen anderen; da lesen wir: "Die Trennung von sozialen Menschenrechten einerseits und individuellen Bürgerrechten andererseits, die einseitige Betonung der einen oder der anderen Seite, die Vernachlässigung oder gar Preisgabe des Einen zugunsten des Anderen führt gerade nicht zu einer zukunftsfähigen, sozial gerechten Gesellschaft."
Gegen wen geht das? Soll man wirklich glauben, "die Trennung" werde den Anhängern der Sammlungsbewegung unterstellt? Unterstellt von "Demokratischen Sozialisten", die Anlass haben, sich mit solchen Warnungen gegen eine drohende "Vernachlässigung oder gar Preisgabe" demokratischer statt bloß sozialer Ziele zur Wehr zu setzen? Das wird in dem Aufruf nicht ausdrücklich gesagt. Aber in Gesprächen hört man es häufig. Verschiedenste Menschen scheinen sich in Empörung über einen Satz Oskar Lafontaines, der immer wieder zitiert wird, zusammengefunden zu haben: Weil erst das Fressen, dann die Moral komme, seien die Menschen in Afrika nicht an Belehrungen über Demokratie interessiert.
Das wäre nun wirklich schlimm, wenn uns in diesem Sinn eine Afrikanisierung zugemutet würde. Andererseits ist man erstaunt, einen Mann wie Brie mit denen vereint zu sehen, die solche Ängste kolportieren. Denn er war es doch, der als erster die Idee einer Sammlungsbewegung "aller Linken" propagiert hatte. Von Sozialismus sprach er da nicht einmal in Andeutungen. Vielmehr ging es um die Chance der PDS, in den Bundestag zu gelangen, wofür sie, wie Brie erkannte, die Hilfe der WASG brauchte. Auf die Idee, dem Wunschpartner Belehrungen über Demokratie zu erteilen, ist damals niemand gekommen. Die Sache hat ersichtlich einen verqueren Zug. Denn Lafontaine war Vorsitzender der SPD gewesen - einer Partei, die den Demokratischen Sozialismus schon in ihrem Programm hatte, als seine jetzigen Kritiker noch SED-Mitglieder waren. Hat er den SPD-Vorsitz etwa deshalb niedergelegt, weil er zum Undemokraten wurde?
Aber die Sache hat auch einen ernsten Kern. Lafontaine war in seiner Beziehung zur SPD tatsächlich einem, sagen wir: glücklichen Missverständnis erlegen. Im SPD-Programm figuriert der Demokratische Sozialismus bloß als ein "Wert", dem sich die Partei verpflichtet fühlte. Sozialdemokraten können, wenn sie wollen, noch Hartz IV an dem "Wert" messen und zu dem Schluss kommen, unter Bedingungen der Globalisierung sei diese Reform das immer noch Demokratischste und Sozialistischste oder doch Sozialste, was sich gestalterisch herausholen lasse. Lafontaine jedoch dachte auch in Zielen. Das Ziel, keine deutschen Tornado-Einsätze in Bosnien zuzulassen, war ihm 1995 so wichtig, dass er seinen Vorgänger im SPD-Vorsitz, Rudolf Scharping, deswegen stürzte. Wegen des Ziels, Hartz IV rückgängig zu machen, trat er von der SPD zur WASG über. Jetzt in der Vereinigung mit der Linkspartei hat er auch den Demokratischen Sozialismus unter der Frage geprüft, ob er als Ziel in Frage komme. Seine Antwort ist, dass sich eine aus dem Kapitalismus herausführende Perspektive nicht abzeichne: "Deshalb kämpfe ich politisch nicht für die Abschaffung, sondern für die soziale Ausrichtung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung."
Die Führung der Linkspartei jedoch, die sogenannte Reformergruppe, hat in der eigenen Organisation das Programm auf "Werte" gegründet. Weil die SPD den Wert Gerechtigkeit aufgebe, müsse und könne die PDS ihn für sich proklamieren, erklärte sie vor Jahren. Der Aufruf des "Forums" legt sich zwar nicht fest: Hier lesen wir, es solle am Demokratischen Sozialismus "als Bewegung, als Ziel und als Wertesystem" festgehalten werden. Aber dann wird das Ziel, die "zukünftige Gesellschaft", selbst wieder nur wertmäßig als eine Gesellschaft "sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit" beschrieben. Dass es nicht so sehr um Ziele geht, obwohl mehrmals von solchen abstrakt die Rede ist, zeigt der Argumentationsverlauf. Vom Bekenntnis zum Demokratischen Sozialismus geht es da weiter zum "strategischen Dreieck", das man aus PDS-Dokumenten kennt: "Protest, Gestaltungsanspruch und über die derzeitigen Verhältnisse hinausweisende demokratisch-sozialistische Alternativen". Nun wissen wir ja, wie die Unterzeichner Liebich, Knake-Werner, Wolf in Berlin "gestalten" und dass sie die "hinausweisenden Alternativen" anderen überlassen; aber mit keinem Wort wird die Frage berührt, ob vielleicht auch anders "gestaltet" werden könnte. Was ist von den Zielen der "Gestaltung" zu halten? Worin bestehen sie überhaupt? In der Haushaltskonsolidierung? In manchen Privatisierungen? Wird der Weg zu demokratisch-sozialistischen Zielen stets durch Regierungsteilnahme und nie durch Opposition "gestaltet"? Aber wie auch immer es um die Ziele steht, das "Gestalten" ist schon als solches ein Wert, und schon dafür, dass sie ihn pflegt, will die Partei gewählt werden.
Das sind die seit langem bekannten Debatten. Aber es gibt auch einen wichtigen aktuellen Hintergrund. Die von Hartz IV Entrechteten sollen also nach dem Willen Lafontaines und der WASG in eine antineoliberale Sammlungsbewegung gezogen werden. Schielt er, wenn er das versucht, nach rechts? Auch das wird ihm oft vorgeworfen. Auch Neonazis protestieren gegen Hartz IV. Der Vorwurf ist gewiss absurd. Lafontaine hat erklärt, nur radikaler Protest von links könne die Demokratie vor dem Angriff derer retten, die immer schon wussten, dass der Parlamentarismus nur Übles hervorbringe. Er sollte aber den Unterzeichnern des "Forum"-Aufrufs zugestehen, dass eine Partei sich nicht lediglich auf eine entrechtete Gruppe stützen kann. Sie muss vielmehr ein Bündnis von Gruppen und sogar Klassen organisieren. Nicht nur die Arbeitslosen, die unter den Hartz-Reformen leiden, und auch nicht nur die Arbeiter, die von ihnen bedroht sind, sondern ebenso die Staatsangestellten, die Selbstständigen, die Mittelständler, denen die pure Ungerechtigkeit der Reformen zuwider ist, sollen sich hinter der Partei sammeln können. Das muss Auswirkungen auf die Art haben, wie man potenzielle Wähler anspricht. So verquer die Rede des "Forums" immer geht, transportiert sie doch auch diesen Gedanken. Lafontaine ist er sicher nicht fremd; aber er spricht manchmal wirklich so, als wäre nicht die ganze Gesellschaft, sondern nur das Segment der Ausgegrenzten sein Publikum. So abstrakt richtig, wie der "Forum"-Aufruf gehalten ist, könnte und sollte er ihn schlicht und einfach unterschreiben.
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