Hände in Unschuld

Grüne Europapolitik Der Programmentwurf der Parteiführung ist ein durch und durch laues Papier

Ein Europaprogramm der Grünen könnte der Ort sein, wo man das Blaue vom Himmel herunter verspricht, denn verwirklicht kann es ohnehin nicht werden. Es lässt höchstens den Gehalt künftiger Reden im Europaparlament erahnen. Regierungskoalitionen werden dort auch nicht gebildet, wir werden also Worte und Taten nicht miteinander vergleichen können. Ein Freibrief für klare Worte? Nein, darauf sind die Grünen nicht aus. Das 50-seitige Fleißpapier der Parteiführung ist noch harmloser, als man es selbst dieser Partei zugetraut hätte, die nicht gerade im Ruf der Unbesonnenheit steht.

Gewiss quellen alle grünen Programme und so auch dieses von nützlichen Bastelbausteine über. Findige Referenten haben wieder erfolgreich recherchiert. Aus Japan zum Beispiel übernehmen sie das "Top-Runner-Prinzip", wollen es in der EU durchsetzen: "Die jeweils energieeffizientesten Geräte einer Produktklasse geben den Maßstab vor, den alle vergleichbaren Produkte innerhalb eines festgelegten Zeitraums erreichen müssen." Sie informieren über den Ansatz der "Greenhouse Development Rights": Die "Reichen aller Länder" zahlen für notwendige ökologische Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern. Auf diese Weise könnte Europa seiner historischen Verantwortung für die früheren Kolonialländer gerecht werden. Natürlich wird das nicht geschehen - deshalb kann es auch keinen Parteiführer geben, dem solche Forderungen zu radikal wären.

Wenn man sehen will, wie wenig aggressiv sie sind, muss man lesen, was sie zum derzeitigen Ausbau von Kohlekraftwerken zu sagen haben. Ein Moratorium, "solange die Technologie der CO2-Abscheidung und -Speicherung nicht erprobt, langfristig sicher und ökonomisch einsetzbar sind", ist alles, was sie fordern. Dabei haben sie jetzt schon Argumente, die auf eindeutige Ablehnung solcher Kraftwerke hinauslaufen müssten: Die Abscheidungstechnik, wenn sie denn überhaupt zur Reife gelangt, kann frühestens 2020 wirtschaftlich einsetzbar sein, dann aber "werden erneuerbare Energien viel günstiger als heute zur Verfügung stehen". Der Preisvergleich wird deutlich für letztere sprechen. Warum also die nur halbe Ablehnung der Kohle? Man kann es sich nicht anders erklären, als dass eine Parteiführung, die "realpolitisch" an mögliche Koalitionen in Deutschland denkt, zugleich ihren ökologisch engagierten Aktivisten einen Laufstall einräumt.

Ähnlich ist es mit dem Autoverkehr. Von einer "neuen Kultur der Mobilität" ist die Rede, von "Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung" und "nachhaltiger Mobilitätsgestaltung". Aber dann werden nur die verschiedenen Verkehrsträger abgehakt, und das Äußerste, was man sich zu fordern erlaubt, ist die europaweite LKW-Maut. In einem anderen Kontext des Programms wird der wichtige Hinweis gegeben, das Internet trage "mit einem enormen Stromverbrauch zum Klimawandel bei". Keinerlei Schlussfolgerungen werden daraus gezogen. Wahrscheinlich ist es fatal, wenn zum Autoverkehr der Internet-Stromverbrauch sich einfach noch hinzuaddiert, statt dass man überlegt, bis zu welchem Grad die Kommunikation übers Netz den Autoverkehr ersetzen könnte. Aber wo sind diese Überlegungen? Ebenso müsste es welche zur Abhängigkeit der Verkehrsdichte von der Siedlungsstruktur geben. Diese wird aber in wieder anderem Kontext völlig isoliert erörtert. Man legt "ein Bekenntnis zur Bedeutung des öffentlichen Raums" ab, spricht sich gegen die Konkurrenz der Regionen um die niedrigsten Unternehmenssteuern aus und dergleichen mehr - vom Problem der Verkehrsdichte kein Wort.

Die Grünen wissen auch, dass viele Agrarinvestitionen heute weltweit zur Erzeugung von Treibstoffen verwendet werden und dass dies zur Ernährungskrise in Ländern des Südens führt. Kommen sie deshalb auf die Idee, zur Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs aufzurufen? Im Gegenteil: Ein hinreichend scharfer CO2-Grenzwert soll "einen Innovationsschub im Autobau" ermöglichen. Warum sollen wir noch auf die "international anerkannte Folgenabschätzung für den Energiepflanzenanbau im Hinblick auf die globale Ernährungssicherung" warten? Das erinnert schon fast an die Taktik der antiökologischen Lobby, mehr Untersuchungen zur Erderwärmung zu fordern, weil man noch zu wenig wisse, um handeln zu können.

Agrarinvestitionen - was man von einem Europaprogramm vor allem erwartet, ist ein Wort zu den Subventionen in diesem Bereich, mit denen Europa das von ihm selbst hoch gehaltene Prinzip des freien Welthandels ständig verletzt und den ärmeren Ländern Handelschancen beschneidet. Es ist kaum zu glauben: Dazu findet sich in diesem Entwurf kein Wort. Wir lesen nur, dass es "klar sein" müsse, "wer aus den EU-Agrar- oder Strukturfondstöpfen Gelder erhält". Erfreulich zwar, dass noch ein weiterer Faktor der Welternährungskrise benannt wird: die "wachsende Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten". "So werden auf rund einem Drittel der genutzten Agrarflächen Futtermittel für die Massentierhaltung angebaut. Verantwortung tragen vor allem Europa und die USA." Aber auch hier werden keinerlei Konsequenzen gezogen. Jeremy Rifkin schrieb zu dieser Frage schon 1992, hier zeige sich "eine neue Seite des Bösen, das in dieser Form vielleicht schwerwiegendere und langfristigere Folgen haben wird als alle Gewalt, die in der Vergangenheit von Menschen gegen Menschen ausgeübt worden ist".

Von Problemen, die sich in Europa anders als in Deutschland stellen, spricht der Entwurf eher am Rande. Immerhin wird das europäische Versteckspiel analysiert: Wo der Ministerrat der EU nur einstimmig entscheiden kann, tut die deutsche Regierung so, als ob sie nicht einverstanden sei, die Entscheidung aber ausführen müsse; wo Mehrheitsentscheidungen vorgeschrieben sind, setzt sie in Brüssel die Politik durch, die in Deutschland auf der Strecke geblieben wäre. Dagegen mehr Transparenz und europäische Öffentlichkeit, Volksentscheide und überhaupt eine "bürgernahe EU" zu fordern, ist sicher die richtige Antwort. Es gibt auch allerlei punktuelle Ideen zu einer Verfassungsänderung, zum Beispiel die europäische Wirtschaftsregierung, die Stärkung des EU-Parlaments und die Mehrheitsentscheidung in der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Um einen systematischen Entwurf hat man sich aber nicht bemüht. Stattdessen ruft man zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon auf.

Es ist ein durch und durch laues Papier. Das zeigt sich auch in der außenpolitischen Haltung. Der EU-Beitritt der Türkei wird zwar weiter unterstützt. Aber sonst waschen sie ihre Hände in Unschuld. Das ist fast schon kabarettreif: Der russische Militäreinsatz in Georgien "ist nicht akzeptabel, genauso wenig wie der Versuch Georgiens, gewaltsam abtrünnige Landesteile zurückzuerobern". Und ein Land namens Afghanistan, so muss man aus diesem Papier schließen, kommt auf der Erde gar nicht vor.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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