Wer mag noch mit den Grünen streiten? Jetzt feiern sie wieder: Ein Vierteljahrhundert haben sie überstanden, regieren fleißig mit, stellen den beliebtesten Minister, werden dauerhaft von zehn Prozent gewählt - wenn das keine Erfolgsbilanz ist. Aber sie sind das Gegenteil der Partei, als die sie einst antraten. Nicht den Atomausstieg haben sie durchgesetzt, sondern den garantierten Atombetrieb bis zur ohnehin vorgesehenen Abschaltung; nicht den Antimilitarismus, sondern die deutsche Beteiligung an Kriegen in aller Welt; nicht die Grundsicherung, sondern die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Diese Partei ist ein einziges Desaster. Sie ist es vor allem deshalb, weil eine so gigantische Enttäuschung den Glauben vieler Menschen nährt, es könne Parteien, die kein Desaster anrichten, gar nicht geben. Mussten die Grünen schon deshalb scheitern, weil sie sich überhaupt als Partei konstituierten? Allein dies soll hier interessieren.
Hinter der Frage steht die Vorstellung, von Parteiform und Parlamentarismus gehe ein ebenso unwiderstehlicher wie fataler Zwang aus: Die hehren Ziele eines Parteiprogramms seien stets nur ideologische Begleitmusik der todsicher eintretenden "parlamentarischen Integration". Doch so stimmt es nicht. Nicht alle Parteien der Geschichte gaben im Parlament ihren Geist auf. Lassen wir Fälle beiseite, bei denen sich Nichtintegrierbarkeit bloß von Parlaments- und Demokratiefeindschaft herleitet. Denn sich irgendwo einschleichen, um zu zerstören, ist eine recht banale Kunst, die auch jedem Mörder gelingt. Darum geht es natürlich nicht. Den Grünen war ja nicht aufgegeben, das Parlament zu zerstören, sie sollten dort nur ihrem Programm treu bleiben. Aber hat sich die irische Sinn Féin-Partei integrieren lassen, als sie 1918 ins britische Parlament gewählt wurde? Oder war Zerstörung des Parlamentarismus ihr Ziel? Sie definierte sich nicht mehr, wie andere irische Parteien, die ihr vorausgingen, als Minderheitspartei Großbritanniens, sondern ihre gewählten Abgeordneten proklamierten ein eigenes irisches Parlament, das zunächst den Untergrundkrieg gegen England leitete und später zur Grundlage des neuen irischen Staates wurde.
Damit ist schon einmal bewiesen, dass es dem demokratischen Nationalismus gelingen kann, sich gegen Integration zu wehren. Für uns sind die Beispiele aus der Welt des demokratischen Sozialismus instruktiver. Die chilenische Volksfront unter Präsident Allende hatte ein gesellschaftsumwälzendes Programm und wagte es, als stärkste parlamentarische Minderheit zu regieren. Sie zog diesen dornigen Weg allen wohlfeilen, politisch wirkungslosen Bündnissen vor. Nur mit Gewalt konnte sie gestoppt werden. Dasselbe gilt für das noch interessantere Experiment der italienischen KP in den siebziger Jahren. Der damalige KP-Führer Berlinguer konnte nicht auf die Idee kommen, ein Parlament nach irischem Vorbild in zwei Parlamente zu zerlegen, aber selbst in der Zerlegung eines einzigen Parlaments in Parteien zweier Bevölkerungshälften sah er nach der chilenischen Erfahrung ein Problem.
Er erkannte einen Hauptfaktor "parlamentarischer Integration" in dem Willen einer "linken" Partei, mit "51 Prozent" regieren zu wollen, das heißt gegen eine ganze Bevölkerungshälfte. Eine solche Regierung bleibt entweder beim gesellschaftsumwälzenden Programm und geht unter, weil die andere Bevölkerungshälfte es sich nicht gefallen lässt, oder sie nimmt vom Programm Abstand und ist somit integriert. Die Lösung kann nur eine andere sein: Die Minderheitspartei treibt mit dem Umwälzungsprogramm die jeweilige Regierung in ihre Richtung, kritisiert sie, arbeitet auch fallweise mit ihr zusammen und verändert so die Wähler aller parlamentarischen Strömungen. Dass eine solche Partei möglich ist und standfest bleiben kann, hat Berlinguers KP bewiesen; sie fing schon an, die Democrazia Cristiana zu verändern. Auch dieser Prozess wurde nur durch Gewalttaten gestoppt.
Eine ähnliche Strategie hätten auch die Grünen verfolgen können. Es war nicht naturgegeben, dass sie ihr Ursprungsprogramm der Zwangsidee opferten, sie hätten sich zwischen CDU und SPD zu entscheiden. Warum wiesen sie nicht beide zurück? Warum fehlte ihnen die Standfestigkeit, durch Bündnisse nur in Einzelfragen an der Auflösung beider zu arbeiten? Manche stellen sich vor, dass das Parlament schon allein durch die Aussicht auf Posten korrumpiert. Und gewiss stellt die Aussicht auf Ministergehälter eine Versuchung dar, der man nur nachgeben kann, wenn man sich der CDU oder der SPD als "Kellner" zur Verfügung stellt. Aber es ist Menschen doch nicht schon aus anthropologischen Gründen unmöglich, sich einfach mit dem Abgeordnetensalär zu bescheiden, das immerhin deutlich über Hartz IV liegt. Nein, für die "parlamentarische Integration" gibt es in letzter Instanz nur eine Erklärung. Das ist nicht der Parlamentarismus, nicht die Parteiform, nicht die Korrumpierbarkeit. Übrigens auch nicht der Klassencharakter; auch proletarische Parteien werden mal integriert, mal nicht.
"Parlamentarische Integration" gibt es dann, wenn eine Partei nicht durch eine starke Überzeugung zusammengehalten wird. Die Überzeugung der Grünen wurde nicht stark. Sie war anfangs visionär, ohne zugleich pragmatisch zu sein. Dann wurde sie pragmatisch und verlor die Vision. Diesen Prozess erlebt man immer wieder, aber er ist nicht zwangsläufig, sondern indiziert nur das Scheitern eines Erkenntnisprozesses. Wie Hans im Glück haben die Grünen ihr Pfund vertauscht, statt mit ihm zu wuchern: Nachdem aus Naturschutz "Ökologie" und "die Energiefrage" geworden war, definierte man Ökologie als Programm der "Nachhaltigkeit" und lernte schließlich, dass Nachhaltigkeit nicht auf Ökologie reduziert werden dürfe. Zuletzt sind wir bei Hans Eichel, der einen nachhaltigen Haushalt anstrebt, weshalb auch Grüne bereit sind, ihn durch Hartz IV finanziell zu entlasten. So verging der Ruhm der Vision - aber doch nur, weil sie nicht zu Ende gedacht worden war. Weil man zu faul war, die Einzelheiten durchzurechnen. Dann ist man auch nicht überzeugt, und die Fahne dreht sich im Wind.
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