Eine Ausstellung in Eisenach erinnert uns an Martin Luthers brutalen Antijudaismus. Die Musik ist dabei das Medium: Luther, Bach – und die Juden. An Luther wird erinnert, weil er vor 500 Jahren gelebt hat und verstummt ist. Dagegen hören wir Johann Sebastian Bachs Musik wie aus dem Mund eines Nachbarn. Er war Lutheraner, aber hören wir lutheranische Musik? Die Schau, die von Bachhausleiter Jörg Hansen organisiert wurde, streicht Luthers Brutalität gebührend heraus. Es werden seine Empfehlungen an deutsche Fürsten zitiert: Die Synagogen sollen verbrannt, alle Juden vertrieben werden. Auch sein Brand-und-Mord-gefährlicher Tonfall wird dokumentiert. Warum er so agierte, lässt die Ausstellung als Frage, die man sich heute noch stellen muss, offen. Ja, gerade heute in der „Lutherdekade“. Ein Wandtext betont die Fragwürdigkeit dessen, dass sich in Deutschland alle Reformationsfeierlichkeiten, die 2017 ihren Höhepunkt erreichen sollen, um die Person dieses Mannes zentrieren. Musste das denn sein? Aber auch Bach wird in Frage gestellt. Besonders dessen Johannes-Passion, die pauschal „die Juden“ als Übeltäter hinstellt, ist schon häufig des Antisemitismus geziehen worden.
Soziale Quellen
Nicht nur musikalisch, indem er mit Luthers Chorälen arbeitete, war Bach dessen Erbe, sondern kannte sich auch im Antijudaismus des Reformators bestens aus. Das wird anhand seiner Bibliothek vorgeführt, in der sich einschlägige Bücher von Luther und anderen finden. Diese hat er, wie seine Anstreichungen und Randbemerkungen ausweisen, sorgfältig und offenbar ganz unkritisch studiert. Luther war zwar nicht der Einzige, der seinerzeit „die Juden“ öffentlich verdammte, doch tat sich niemand mehr darin hervor als er. Bach hat das tradiert und zum Teil unserer Erfahrungswelt gemacht. Immerhin gliedern die Johannes-Passion, die Matthäus-Passion und das Weihnachtsoratorium das deutsche Musikjahr wie sonst nur noch Beethovens 9. Sinfonie. Wer Bach Jahr für Jahr hört, findet sich auf das Überschneidungsfeld von tradiertem Antijudaismus und heute noch wirksamem Antisemitismus geworfen.
In der Ausstellung liest man die schlimmen Ausfälle Luthers und setzt zugleich den Kopfhörer auf, um einem von Bachs aggressiven Judenchören zu lauschen. Und wird nachdenklich: Was hat er denn anderes getan, als Bibeltexte zu vertonen? Es steht alles im Johannesevangelium, kein Wort hat er verändert oder ergänzt. Die Choräle, Rezitative und Arien handeln niemals von Juden. Vielmehr stets von Christenmenschen, die Christus durch ihre Sünden mit ans Kreuz gebracht haben. Teilt sich denn da eine Judenfeindschaft überhaupt mit? Im Johannesevangelium wohl. Da erinnert man sich, dass vor Jahren Daniel Goldhagen forderte, das Neue Testament zu revidieren. Der Vorschlag war überspitzt, aber keineswegs absurd. Die Quelle zu verändern, geht zwar nicht an, aber man könnte es sich als kommentierte Ausgabe vorstellen. Warum eigentlich nehmen die Kirchen das nicht in Angriff? Es wäre ganz falsch, das Neue Testament mit Hitlers Mein Kampf zu vergleichen, der Kommentierung indessen bedürfen beide.
Da sie aber versäumt wird, ist Bach wirklich ein Problem: weil er den Text des Johannesevangeliums über Kirchenkreise hinaus im Kollektivgedächtnis hält. Die schlimmsten Passagen, wie Jesu Wort „Ihr seid von dem Vater, dem Teufel“, vertont er zwar nicht, aber was er vertont, ist schlimm genug. Da kann nur die Durcharbeitung des Problems weiterhelfen. Nichts führt daran vorbei, sich Luthers zu erinnern, auch wenn seine Texte noch so vergessen sind. Tut man das, stellt man erschrocken fest, dass manche seiner Gedanken heute leider gar nicht so unvertraut wirken. Sein Judenhass hat nämlich neben theologischen auch soziale Quellen: Die Juden, so stellt er sie in seiner Spätschrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) dar, seien wie Junker über uns gekommen, die mittels Zinswucher von den Früchten unserer Arbeit leben, während wir selbst um sie betrogen werden. Es ist schon sehr merkwürdig, dass er die wahren Junker nicht ebenso beschimpft, sondern stattdessen die Bauern angreift, die sich gegen sie erheben. Aber wir kennen das: Heute lebt nicht nur der Antisemitismus fort, sondern es sind auch muslimische Migranten, die sich Hassgesänge gefallen lassen müssen, weil sie deutschen Arbeitern angeblich etwas wegnehmen. Darin wird auch eine große Angst sichtbar, heute wie damals. Luther fürchtete, dass sein Reformationswerk rückgängig gemacht werden könnte. Noch in seiner Todesstunde, mitten im Schmalkaldischen Krieg, hatte er Grund, es zu befürchten. Dass er glaubte, die Juden könnten die Reformation beschädigen, weil er von einem Fall hörte, wo sich einer in lokale Gemeindewirren eingemischt haben soll, zeigt, wie angespannt seine Nerven waren.
Man muss wissen, Luther griff Juden und „Papisten“, also romtreue Katholiken, fast stets in einem Atemzug an. Hier findet sich die Erklärung dafür, dass er zunächst ganz anders von den Juden gesprochen hatte. Er hatte anfangs gerade umgekehrt kritisiert, sie würden zu sehr unter Druck gesetzt, und gefordert, ihnen freundlich zu begegnen. Dann aber, je länger er lebte, machte er eine Erfahrung: Viele Katholiken ließen sich zur Reformation bekehren, Juden praktisch kaum. Da kippte seine Haltung. Hinter den Juden, dachte er, muss wirklich der Teufel stecken. Auch wenn Paulus ganz anders über sie geschrieben hatte.
So ist es kein Widerspruch, dass Luther im Frühesten, was von ihm zur „Judenfrage“ publik wurde, der Psalmenvorlesung (1513/15), die Juden bereits so scharf angreift wie in jener Spätschrift, sie da schon Lügner und Götzendiener nennt und doch noch nicht Pogrome empfiehlt, sondern eine freundliche Behandlung. Da hofft er noch. Als Lügner und Götzendiener greift er ja auch die „Papisten“ an. Er glaubte, das Weltende stehe bevor, das sich durchs Erscheinen des „Antichristen“ ankündigt. In diese Figur teilen sich für den späten Luther der Papst und die Juden. Wenn man sie dulde, handle man sich Gottes Zorn ein und gehe im Weltende mit unter. Hier lässt sich der Bogen zu Bach schlagen und, ja, noch zu uns Heutigen. Denn was hören wir, wenn wir Bachs Passionen lauschen? Warum ist uns diese 300 Jahre alte Musik noch immer vertraut? Weil sie von einer Verzweiflung spricht. Von deren religiöser Artikulation abstrahieren wir leicht, selbst wenn Bach den Satz „So ist mein Jesus nun gefangen“ vertont.
Die Musik dazu, ohne die Worte, konnte Gustav Mahler in einem Lied zitieren, das am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Verunglückung von Kindern beschwört, und sie war nach dem Zweiten in Queimada zu hören, einem Film mit Marlon Brando, der das Elend des Kolonialismus nachfühlbar macht. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um Katastrophen, die ausweglos erscheinen. Ein Weltende signalisieren sie zwar nicht, aber vielleicht doch die Hoffnung, dass es mit gewissen Zuständen ein Ende haben wird. Und mag das nicht schon der Hintergrund von Luthers religiöser Wahnfantasie gewesen sein?
Warten auf Gott
Wenn man es so sieht, tritt eine Alternative hervor, die von Luther über Bach bis zum Brando-Film reicht, nämlich die Frage, ob man den Ausweg herbeizuführen versucht oder auf ihn wartet. Für Luther war klar, man hatte darauf zu warten, dass Gott es richten würde. Daraus folgte für ihn: Was irdisch gerichtet werden konnte, war Sache der von Gott eingesetzten Obrigkeit. Weil die Bauern ihre Sache selbst in die Hand nahmen, forderte er, sie totzuschlagen. Während Luthers Antijudaismus bei Bach „nur“ dazu führt, dass er dem neutestamentlichen Antijudaismus keinen Widerstand entgegensetzt – er hätte ja Johannes von der Vertonung ausnehmen können –, ist das, was seine Musik hörbar gestaltet, etwas ganz anderes: der Gegensatz zwischen dem politischen Agieren der jüdischen Jesus-Gegner, das sich in ihren Chören äußert, und der pietistischen Innerlichkeit der Christen zur Bach-Zeit.
Diese befassen sich mit ihren Privatsünden und bringen auch im gemeinsamen Gesang, dem Choral, nur das stille Warten auf Gott zum Ausdruck. Da ist es gut, dass die Ausstellung auch auf Felix Mendelssohn Bartholdy hinweist, der Bachs Matthäuspassion durch die Wiederaufführung 1829 der Vergessenheit entriss. Man erfährt, dass ausgerechnet Mendelssohn, dessen jüdische Familie zum Christentum konvertierte, und andere Juden sich für die Bach-Renaissance stark einsetzten. Mendelssohn aber hat das Thema der Judenchöre musikalisch auf seine Weise variiert. In seinem Oratorium Elias (1846) macht er sie zu Baalspriesterchören. Der gegen diese Priester auftretende Prophet Elias wartet nicht ab, bis sie von selbst oder durch Gott verschwinden, sondern greift sie öffentlich an und stürzt sie vom Felsen herab. Und auch Jesus war kein Stiller im Lande: Er hat die Händler aus dem Tempel getrieben.
Info
Luther, Bach – und die Juden Bachhaus Eisenach Bis 6. November
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