„Hermeneutik“

Musikfest 2014 Mit welchem Recht "interpretiert" man Musik? Ist es besser, nur die Regeln ihrer Abläufe zu analysieren? Eine Frage von öffentlichem Interesse

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Ich will hier nur auf eine Diskussion unter meinem vorletzten Eintrag reagieren, wo es um die Frage ging - sie ist von allgemeinem Interesse -, was von „musikalischer Hermeneutik“ zu halten sei. Es scheint ja, dass ich eine solche betreibe. Ich würde aber differenzieren: Der Begriff kann eigentlich nur auf die Linie bezogen werden, die von Schleiermacher ausgehend über Dilthey und Gadamer bis hin zu Szondi verlaufen ist. Sinnverstehen, mit Gadamer zu sprechen, als „Verschmelzung der Horizonte“ des Werks und seines Interpreten.

So einer Hermeneutik bin ich nie gefolgt, sondern orientiere mich am französischen Strukturalismus und Neostrukturalismus. Hier geht man nicht davon aus, dass ein Text (und ich übertrage das auf den musikalischen Text) „einen Sinn hat“, der à la Gadamer oder wie auch immer „festgestellt“ werden kann, sondern dass er Sinneffekte verursacht, und zwar viele, ganz verschiedene und oft auch gegensätzliche (Derrida). Eine vorgetragene Interpretation (auch die des Textproduzenten sogar) hat dann keinerlei Geltungsanspruch, ist aber doch eine Anregung zum öffentlichen Geschmacksurteil im Kantschen Sinne.

Das heißt zum einen nicht, dass sie dem Text äußerlich wäre, denn sie kann ja nur aus dem Aufgreifen von Sinneffekten hervorgegangen sein, die der Text selbst ausgeworfen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es dann geradezu als absurd, wenn behauptet wird, Interpretationen müssten von Textanalysen abgehalten werden; diese Behauptung impliziert ja im Grunde, dass der Text als sinnloser schon produziert worden ist. Niemand würde zu behaupten wagen, Goethe habe den Faust nur geschrieben, um eine Kollektion von Vers- und Strophentypen zu schaffen, aber beim musikalischen Text soll es so sein? Nein, wie mir scheint, ist eine Textanalyse nicht nur unvollständig, sondern im Ansatz verfehlt, wenn sie die Frage des Textsinns nicht aufwirft.

Zum andern „darf“ die Textinterpretation ihrerseits nicht beliebig vorgehen. Der Nachweis, nicht „welchen Sinn“ ein Text „hat“, wohl aber ob er die behaupteten Sinneffekte hat, auf die sich die Interpretation stützt, der muss geführt werden können. Das Mittel dazu ist die strukturale Analyse, in der man (jeweils) ein musikalisches Muster mit einem anderen Muster vergleicht und die gemeinsame „Struktur“ entdeckt (Lévi-Strauss). Die Interpretation kann dann behaupten, das zweite Muster „antworte“ dem ersten, sei also als „Kommentar“ aufzufassen. Ähnlichkeit und Differenz der Muster ergeben zusammengenommen den Sinneffekt. Der „Kommentar“ kann Affirmation der Ähnlichkeit, aber auch Hervorheben der Differenz sein. Die Frage, ob der Produzent ihn „absichtlich“ geschaffen hat, kommt hinzu und ist wichtig, es geht aber nicht nur darum.

Wesentlich ist, dass man Muster verschiedener Produzenten und sogar weit auseinanderliegender Zeiten auf diese Weise miteinander vergleichen kann, man spricht dann von „Intertextualität“ (Kristeva). Die Musik bietet dafür ein unerschöpfliches Untersuchungsfeld. Nur ein einziges Beispiel: Man vergleiche das erste Thema des Parsifal-Vorspiels von Wagner mit dem Thema der Kunst der Fuge von Bach. Ich würde hier interpretieren, der Kommentar bei Wagner hebe die Differenz hervor und sei beabsichtigt. Diese Interpretation kann falsch sein, sei’s in beiden Punkten oder nur im zweiten, sie ist aber begründet. Darum geht es. Das Wagner-Thema aber gar nicht zu interpretieren, wäre ihm unangemessen. Und wenn behauptet würde, solche musikalischen „Kommentare“ seien nur für Wagner oder nur für Komponisten der „Tondichtung“ typisch oder dergleichen, ließe sich zeigen, dass das nicht stimmt.

Mich interessiert stark, ob die skizzierte Art der Interpretation in der Musikwissenschaft irgendwo vorkommt oder vorgekommen ist, ob sie wenigstens diskutiert wurde usw. Wenn jemand das beantworten kann, es gehört, wie gesagt, zu den Fragen des öffentlichen Geschmacksurteils und ist also von öffentlichem Interesse.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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