Ein Buch über „Deutsche Musik“ zu schreiben, ist eine Mammutaufgabe – man kann nicht erwarten, dass jemand sie beim ersten Anlauf vollendet löst. Friederike Wißmann, die in Frankfurt und Wien Historische Musikwissenschaft gelehrt hat, bezieht alle Arten von Musik ein: Händel und Stockhausen, Schumann, Wagner, Pfitzner, Henze, aber auch Schlager, Rechtsrock, Filmmusik, Nina Hagen, das Heavy Metal-Festival Wacken in Schleswig-Holstein und noch viel mehr. Die Vorläufigkeit ihrer Bemühung scheint sie selbst einzusehen, denn sie legt ihr Buch als Mosaikbild an. Zwölf der dreizehn Kapitelüberschriften sind bloße Stichwörter wie „himmlisch“, „diskursiv“, „gesellig“, „regional“...
Selbst- und Fremdbild
Das resümierende dreizehnte Kapitel überschreibt sie „Faust und der Mythos der deutschen Musik“. Was heißt das? Gibt es keine deutsche Musik? Nationen hätten keine „‘Seele‘ im Sinne eines Wesenskerns“, befindet sie einleitend. Die Auseinandersetzung mit einer nationalen Musik werde also „eher“ auf das Selbst- und Fremdbild einer Nation bezugnehmen. Dann sagt sie, das Phänomen deutsche Musik setze sich aus vielen Einzelbilden zusammen, womit sie auf ihr Verfahren anspielt. Erst im Kopf des Hörers entstehe das Gesamtbild. „Somit ist eine nationale Klammer immer ein synthetisches Konstrukt“. Eine „eindeutig zuzuschreibende Landessymbolik“ sei selten in einer Musik zu erkennen. Sie will deshalb nur nach der Rezeption fragen, vor allem dem deutschen Selbstbild, und findet, deren roter Faden seien Überlegenheitsphantasien. Gleich danach muss sie feststellen, dass es solche Phantasien vorher in Frankreich gegeben hat, wo man Deutschland, weil es nur eine Anhäufung von Völkern sei, eine nationale Musik rundheraus absprach. Dem hätten deutsche Autoren zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der „deutschen Tiefgründigkeit“ gekontert und sich dabei auf Johann Sebastian Bach berufen. Dann zitiert sie noch Claude Debussy, der sich am Ende desselben Jahrhunderts gegen „diese Sucht nach deutscher Tiefe“ wandte, um ihr eine französische Tradition entgegenzustellen, die „aus empfindsamer und liebeswürdiger Zartheit“ geformt sei.
Wißmann schlussfolgert, dass die „Rückständigkeit“ Deutschlands „auch für die Musik ein entscheidende Rolle“ gespielt habe, sei sie doch bis ins 18. Jahrhundert hinein „von Fremdimpulsen“ abhängig gewesen. Und dann kam Bach, hätte sie hinzufügen können. Die Eigenständigkeit der deutschen Musik sei also aus der Rezeption des Fremden entstanden. Dass dennoch die Überlegenheitsphantasie aufkam, sei „umso erstaunlicher“. Nun, der Rezensent findet eher Wißmanns Urteil erstaunlich, zumal sie zehn Seiten zuvor eine Studie lobt, in der „einzelne Nationaltraditionen nicht isoliert, sondern als wechselseitiges Ereignis rezipiert werden“. Ist nicht auch die Eigenständigkeit der antiken griechischen Kultur – Aischylos, Phidias, Thukydides, Platon - aus Fremdimpulsen entstanden, die Aphrodite zum Beispiel aus Kleinasien gekommen, die Schrift aus Phönizien und so weiter? Waren deshalb die Griechen „rückständig“? Wie soll eine Kultur denn anders entstehen als so, dass „Fremdimpulsen“ eigenständig geantwortet wird? Das hat in Deutschland Bach getan, und daraus ist eine nationale Musiktradition entstanden - beginnend bei Haydn, der auf Techniken von Bach zurückgriff, und bis hin zu Schönberg.
Und ist es wirklich so absurd, ein Wort wie „Tiefe“ mit ihr zu assoziieren? Ein blödes Wort zweifellos, aber wenn jemand wie Debussy es aufgreift, mag es doch mit der Sache irgendwie zusammenhängen. Wie Wißmann bemerkt, wird es in Deutschland nicht nur von der Publizistik benutzt, sondern auch schon früh von E. T. A. Hoffmann, einem nicht gänzlich unbedeutenden Komponisten. Der komponierte nicht nur, sondern war vor allem Dichter und konnte deshalb das Musikalische, wie er es sah, auch sprachlich artikulieren. Wißmann hätte besser gefragt, worauf das blöde Wort denn anspielen mag. Den Weg zur Beantwortung schlägt sie selbst ein, indem sie gleich zu Beginn auf Martin Luthers Musikverständnis eingeht, ihn nur leider nicht als Weg erkennt. Wie sie in Erinnerung ruft, hatte Musik für Luther theologischen Sinn – er komponierte selber, übte sich in der Satzweise eines Josquin -, doch wie Bach auf ihn zurückgriff und ihn in seine neue Synthese aller vorausgegangenen und gleichzeitigen Musik einfügte, zeigt sie nicht auf. Es gab dazu vor zwei Jahren eine Ausstellung in Eisenach.
Indem dann wiederum seit Haydn auf Bach zurückgegriffen wurde, entstand eine Musiktradition mit stark theologischer oder mindestens metaphysischer Note, die nun allerdings eine deutsche Besonderheit war. Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“, Wagners „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal, Bruckners „dem lieben Gott“ gewidmete neunte Sinfonie, Schönbergs Jakobsleiter waren nur weithin sichtbare Blüten einer Musik, deren „tiefe“ Dimension auch in gewöhnlicheren Werken immer präsent war. „Überlegen“ war sie deshalb nicht, aber „rückständig“ nun auch gerade nicht.
Entdeckungen und Klischees
Trotz dieser Schwächen ist das Buch sehr interessant geworden, schon weil es von Material nur so strotzt, so dass wohl jeder etwas findet, was er noch nicht wusste. Hans Pfitzners Kantate Von deutscher Seele zum Beispiel, 1922 uraufgeführt, dürfte noch nicht wieder sehr bekannt sein. Dass Wißmann sie als bedeutende Komposition vorstellt, hätte man von ihr, der so viel an linker Korrektheit liegt, nicht unbedingt erwartet. Aber sie tut es mit Recht. Wer die Kantate gehört hat, muss sich wirklich fragen, warum sie nicht ebenso oft zur Aufführung kommt wie etwa Gustavs Mahlers Lied von der Erde (1908). Die Antwort fällt zwar leicht: Pfitzner war Antisemit, hat sogar Hitlers Judenvernichtung verteidigt. Wohl kommt an seiner Oper Palestrina niemand vorbei, weil sie zu den größten Werken der Gattung gehört. Alles andere ist aber wie verloren. Als Ingo Metzmacher die Kantate aufführte, wovon es übrigens eine hervorragende Einspielung gibt (CAPRICCIO 2011), wurde er von Dieter Graumann, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, scharf kritisiert. Und doch wird auch auch diese Musik sich behaupten. Sie enthält übrigens nur Vertonungen später Eichendoff-Gedichte und einige Orchester-Zwischenspiele.
Wißmann schildert ausführlich den Ablauf der Komposition, wie sie anderswo den Freischütz Carl Maria von Webers oder Händels Caesar in Ägypten durchnimmt. Ihre Mosaiksteine sind nicht knapp und flüchtig gehalten, sondern haben viel Substanz. Zwar findet sie bei Pfitzner, dass er „dem Klischee des deutschen Gemüts“ entspreche, an einer Stelle, wo er weiter nichts tut als Eichendorffs Romantik auszukomponieren. Sie attestiert seiner Musik aber auch „eine philosophische Dimension“, die sie mit den Worten „Pfitzner zu hören ist ein wenig so wie Nietzsche zu lesen“ sehr glücklich charakterisiert. Da sieht man, wie sie im Grunde begreift, was mit „Tiefe“ gemeint ist, als nicht nur technisch kundige, sondern auch sensible Musikhörerin, die sie ist.
Info
Deutsche Musik Friederike Wißmann Berlin-Verlag 2015, 512 S., 38 €
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