Die erste Reaktion der etablierten Parteien auf den Parteitag der AfD war hektisch, und das nicht ohne Grund. Gerade von Spitzenpolitikern der CDU waren deutliche Worte zu vernehmen. Die AfD trete unsere Werte mit Füßen, sagte etwa Generalsekretär Peter Tauber. Sie ist ja so etwas wie die Abspaltung des rechten Rands der Unionsparteien, was diese auch dann beunruhigen müsste, wäre ein harmloseres Programm beschlossen worden. War es doch immer Unionsvernunft gewesen, dass rechts von ihr nur noch die Wand sein solle. Aber nun hat sich gezeigt, dass die AfD-Delegierten nur mit Mühe von einem noch deutlicher rechtsradikalen Programm zurückgehalten werden konnten. Wie soll die neue Partei bekämpft werden? Was würde es nützen, ihr Programm zu zerpflücken, wenn sich hinter ihm eine noch dunklere Gesinnung versteckt?
Am Mittwoch nach dem Parteitag meldete die Bild-Zeitung, die Kanzlerin wolle die Union wieder mehr nach rechts lenken. Das war aus vielen Gründen unwahrscheinlich und wurde sofort dementiert. Aber etwas veränderte sich von da an tatsächlich: Viele Politiker riefen nun dazu auf, sich mit der AfD inhaltlich auseinanderzusetzen. Der Sozialdemokrat und Hamburger Oberbürgermeister Olaf Scholz verlangte, dass Rechtspopulisten nicht gleich als Nazis qualifiziert werden sollten. Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, ging noch weiter, indem er einem zentralen Satz des AfD-Programms zustimmte: Der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Kauder hatte den Satz schon früher vertreten, wie übrigens auch Bundespräsident Joachim Gauck. Aber stellt man sich so die Auseinandersetzung vor?
Ganz falsch wäre es nicht. Man kann keinem ein Gespräch aufzwingen, den man in allem verteufelt. Eine Debatte funktioniert nur, wenn man unterscheidet: Wo greift die AfD Positionen auf, die auch andere vertreten, wo beginnt das Inakzeptable und wo wird beides vermengt? Es ist allerdings sehr zweifelhaft, ob die anderen Parteien zur Debatte wirklich bereit sind. Der Zentralrat der Muslime wäre es, auf sein Gesprächsangebot reagierte die AfD nicht. Kämen von der Union und der SPD solche Angebote, könnte sie sich nicht wehren. Das müssten aber Auseinandersetzungen vor laufender Kamera sein, organisiert wie das Hearing über Stuttgart 21 vor ein paar Jahren oder wie die TV-Duelle von Parteiführern vor einer Bundestagswahl.
Christlich oder nicht?
Es wäre eine bemerkenswerte Veränderung der politischen Kultur, die aber nur den Charakter einer Erweiterung und Zuspitzung hätte, denn mit Recht gilt die deutsche Gesellschaft als besonders konsensuell; man kann sich tatsächlich vorstellen, dass ein schwerer politischer Konflikt, wie wir ihn gegenwärtig erleben, auf der Gesprächsebene wenn nicht entschärft, dann doch in rationale Bahnen gezwungen werden kann. Die Debatte könnte zwar nur das AfD-Programm zum Gegenstand haben. Wenn man vorausschickte, das Diskussionsangebot sei nicht ernst gemeint, würde es verweigert werden. Findet die Debatte dann aber statt, können die AfD-Politiker nicht mehr anders, als sich zu bekennen, auch ihrer eigenen Parteibasis gegenüber.
Das Problem ist nur, dass die etablierten Parteien sich dann auch selbst bekennen müssten. Sie alle sind in Entwicklungsprozesse verstrickt, die sie nicht gern eingestehen. Was soll die Union darauf antworten, dass die AfD sich auf die „religiöse Überlieferung des Christentums“ und auf die Erneuerung der „antiken Wurzeln“ des Humanismus „in Renaissance und Aufklärung“ beruft? Wenn das wirklich eine christlich-demokratische und -soziale Union wäre, dürfte es nicht schwerfallen. Sie würde an den Multikulturalismus der zuletzt christlichen Antike erinnern und daran, dass zum Beispiel der heilige Mauritius von dem Renaissancemaler Matthias Grünewald als schwarzhäutig dargestellt wird. Oder dass Augustinus, der Kirchenvater des Westens, eine Berberin zur Mutter hatte.
Schon darin hätte sie Mühe, denn sie hat zwar große Fortschritte bei der Adaption des Multikulturalismus gemacht, ihn aber kaum wirklich verdaut. Das eigentliche Problem liegt aber darin, dass sie endlich einmal bekennen müsste, ob sie sich überhaupt als christliche Partei versteht oder im Zweifel lieber doch nicht.
Wie Politologen längst herausgearbeitet haben, gab es unter europäischen Parteien, die sich christlich nannten, die einen, die auch christlich waren, und andere, die nur konservativ waren und das christliche Panier bloß zum Zeichen einer diffusen Traditionstreue vor sich hertrugen. Dass die Union zur zweiten Sorte gehörte, war immer eindeutig. Dies Diffuse und im Grunde Verlogene ist es genau, was die AfD nicht missen möchte. Um sich dagegen zu wenden, müsste sich die Union am Papst orientieren, der zeigt das Maß an. An dem, was Franziskus zum Flüchtlingsdrama sagt, ist abzulesen, dass selbst Angela Merkels Flüchtlingspolitik nicht christlich genannt werden kann. Darin wird ihr ganzes Dilemma deutlich. Unter ihrer Führung hat die CDU, die nie christlicher war als andere Parteien, auch noch aufgehört, konservativ zu sein. Das war der Preis, den sie zahlen musste, um die SPD dauerhaft zu schwächen. Die CDU sieht inzwischen selber sozialdemokratisch aus und kann die ständige Kanzlerpartei sein. Würde sie wieder konservativ werden, käme die SPD wieder hoch. Es gibt aber noch konservative Wähler, die nun heimatlos werden: Ihrer nimmt sich die AfD an. Selbst denen könnte Merkel etwas bieten, würde sie die Konfusion von Konservatismus und Christentum bewusst machen und angreifen. Aber so christlich ist sie eben selbst nicht. Aus dem unbarmherzigen Neoliberalismus ihrer Partei, der sich etwa im Umgang mit Griechenland zeigte, findet sie nicht heraus, gehört sie doch zu denen, die ihn in die Wege geleitet haben.
Da kann man nicht auf eine besondere Nähe der Union zu den Kirchen setzen, sondern nur auf die Kirchen selbst, die sich in letzter Zeit nach links gewendet haben. Wenn die AfD sich auf das Christentum beruft, kann sie Debattenangebote der Muslime, nicht aber der Kirchen ablehnen. Die Kirchen müssten sie erinnern, dass mehrere Päpste in Moscheen gebetet haben. Den albernen Satz des AfD-Programms, dass ein Muezzinruf ein „islamisches Herrschaftssymbol“ sei, weil er besage, dass es „außer dem islamischen Allah keinen Gott gibt“, würden sie zurückweisen. Nicht nur, weil dann auch das Glockengeläut ein Herrschaftssymbol wäre. Sondern auch, weil Allah kein „islamischer“, sondern der abrahamitische Gott ist, den auch die Christen anbeten und für den einzigen halten.
Über den Schatten springen
Ein solches Engagement der Kirchen würde die Schwierigkeiten der Union noch vergrößern. Obwohl sie nicht christlich ist, hat sie starke christliche Wählergruppen. Es liefe darauf hinaus, sie der Linie des Papstes auszuliefern, nicht nur in den Fragen der Flüchtlinge und der religiösen Toleranz, sondern letztlich auch bei der Kapitalismuskritik.
Andere Parteien und Strömungen müssten ebenfalls Federn lassen bei einer ernsthaften Debatte mit der AfD. Kann es sich die SPD erlauben, die antisoziale Politik Gerhard Schröders, ihres letzten Kanzlers, aufrechtzuerhalten, wenn nun die neue Partei unter Arbeitern und Arbeitslosen wildert? Das tut sie gar nicht so sehr durch ihr Programm, das sich eher an bürgerliche Kreise richtet, dafür aber durch Hoffnungen, die sie unausgesprochen weckt: Wenn es keine Einwanderung gäbe, ginge es den schlecht gestellten Deutschen besser. Die SPD könnte das aufdecken, wenn sie – im Unterschied zur AfD – ein soziales Reformprogramm hätte. Aber sie hat keines.
Auch die Linkspartei hat Schwierigkeiten mit der Arbeiterklasse, aber andere. Ihre Politiker werden nicht damit fertig, dass diese Klasse, auf die sie sich immer noch gern beruft, in Teilen nach rechts abdriften kann. Wenn sie den besonderen Bezug aufrechterhalten will, muss er sich zurzeit in der kritischen Debatte mit diesen Teilen äußern. Hat die Linkspartei dazu den Mut? Und was soll sie erst zu manchen ihrer Anhänger sagen, die der Behauptung des AfD-Programms, die deutsche politische Klasse habe vor allem das eigene „materielle Wohlergehen“ im Auge, womöglich zustimmen würden? Sie müsste über ihren Schatten springen, um Angela Merkel und andere vor dieser antidemokratischen Schmähung in Schutz zu nehmen.
Am besten stünden noch die Grünen da. Sie bräuchten sich nicht zu verbiegen, um auf Gender Mainstreaming zu beharren und darauf, dass der Treibhauseffekt menschengemacht ist, was die AfD bestreitet. Allerdings hätten sie es schwer, den nicht ganz weltfremden Angriff der AfD gegen das System des Euro abzuwehren.
Die offene Auseinandersetzung mit der AfD zu postulieren, war auf jeden Fall richtig. Aber nur wenn alle bereit sind, etwas dazuzulernen, kann es zu ihr auch kommen. Das wäre wünschenswert und ist leider sehr unwahrscheinlich.
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