Im Neuen, doch Ungewissen

Musikfest Berlin Es gelingt dem Festival gut, auf Zusammenhänge in der osteuropäischen Musik hinzudeuten

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Die Vorstellung so vieler Hauptwerke des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski macht den Hauptreiz des diesjährigen Musikfests aus. Besonders lobe ich die Dramaturgie, in der seine großen Sinfonien aufeinander folgten: die zweite, die ich letztesmal vorstellte, am 7./8., die dritte am 9., die vierte und letzte am 12. bis 14. September. Ergänzend zu dem, was ich zur zweiten schrieb, will ich hier noch auf die gute Dramaturgie des sie enthaltenden Konzertabends hinweisen (mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern), es erklang da nämlich nach ihr die Glagolitische Messe von Leos Janacek.

Dies Werk ist in Deutschland kaum bekannt, gehört aber zu den Kompositionen aus Janaceks Spätzeit, in der er nach langer Vorbereitung seinen Stil gefunden hatte, den Stil, der uns aus der oft gehörten, auch hier beim Musikfest an einem anderen Abend gespielten Sinfonietta vertraut ist (11. September, Deutsches Sinfonie-Orchester Berlin unter Tugan Sokhiev). Die wenig später entstandene Messe ist der Sinfonietta durchaus ebenbürtig. Hervorheben will ich, dass sie auch praktisch genauso beginnt: mit einem großen Blechbläserchor, der - wenn man im Konzertsaal zusieht - die ganze hintere Linie des Orchesters einnimmt und von diesem ein wenig abgesetzt ist. Der Chor verwendet auch ein sehr ähnliches Ton- und Akkordmaterial wie in der Sinfonietta, so dass man fast sagen kann, deren "Fanfare" werde ungefähr zitiert. Man staunt zuerst, weil es sich dort um die Beschwörung der guten Zukunft der Stadt Brünn handelte. Was hat das in einer Messe zu suchen, ihr als Einleitung vorgeschaltet, auch als Schluss nachfolgend? Nun: Die Messe war nicht religiös gemeint, Janacek hat das deutlich gesagt. Die Dramatik des Geschehens und der Affektgegensätzlichkeit, die im Text einer Messe liegt, ist hier zur Hülle des Nationalen, auch der Naturdarstellung geworden.

Indem jedenfalls Janaceks "Fanfare" am selben Abend wie Lutoslawskis zweite Sinfonie erklang, war es möglich geworden, deren Beginn auf die "Fanfare" zurückzuführen. Es gelingt dem Festival überhaupt recht gut, auf Zusammenhänge in der osteuropäischen Musik hinzudeuten und von dieser dadurch einen kompakten und konturierten Begriff zu geben. Dass Lutoslawski sich namentlich Bela Bartok verpflichtet weiß, wurde schon anlässlich seiner Musique funèbre vermerkt. Da aber hört man es nicht so leicht, als wenn man sein Konzert für Orchester und Bartoks gleichnamige Komposition nebeneinanderhält, was am 6. September geschah (Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons). Es stand auch ein charakteristisches Chorwerk wie Janaceks Glagolitische Messe nicht allein, sondern Strawinskis Les Noces ist daneben zu hören (heute Abend mit James Wood, dem Ensemble Musikfabrik und dem Rias Kammerchor). An Ballettmusik gibt es nicht nur, wie schon besprochen, Prokofjews Romeo und Julia, sondern auch von Bartok Der wunderbare Mandarin (11. September) und, weniger bekannt, Der holzgeschnittene Prinz (12. bis 14. September, im Anschluss an die Vierte von Lutoslawski). Der Prinz wiederum ist sozusagen die ungarische Entsprechung zur Petruschka von Strawinski (Bartok war aufgefordert worden, eine solche Entsprechung zu schreiben), die im Musikfest zwar nicht vorkommt, aber ja ziemlich bekannt ist.

Von Lutoslawskis dritter und vierter Sinfonie einen Begriff zu geben, das heißt von ihrem Verlauf, ist nicht einfach. Bei der zweiten konnte ich noch ein fast klassisch zu nennendes Geschehen schildern, von der wirren Nacht über die Erwartung zur Erfüllung, "per aspera ad astra" sozusagen; der Unterschied zur Tradition lag nur darin, und das war freilich viel, dass man immer zugleich das Unselbstverständliche einer solchen Abfolge heraushörte, die insofern keine "Entwicklung" war. Bei der dritten wirkt sich gravierender aus, dass man bei Lutoslawskis Kompositionsweise überhaupt nicht wissen kann, ob ein Werk sich in eine Richtung wenden wird - in eine oder mehrere oder gar keine. Immerhin lässt auch die Dritte es zu, dass man sich nach mehrmaligem Hören einen Reim auf sie macht. Sie ist der Zweiten darin sehr ähnlich, dass sie im ersten Teil einzelne, zerfallene Episoden bringt, um im zweiten sich zu sammeln und zur Steigerung anzusetzen. Doch stehen nun gegensätzliche Steigerungen nebeneinander, eine optimistisch drängende und eine höchst traurige, wobei doch eher die letzte - aber klar ist das nicht - die Oberhand zu gewinnen scheint.

Das Charakteristische der Komposition ist ihr schneidendes Eröffnungssignal, viermal der Ton e kurz hintereinander von Blechbläsern vorgetragen, dem einleitenden "Schicksalsmotiv" der Fünften von Beethoven offenkundig verwandt. Es bildet nicht nur die Eröffnung, sondern unterbricht mehrmals, gliedert so den ganzen Verlauf und steht auch am Ende. Die Komposition wurde 1983 uraufgeführt, als sich die Zeit des Kriegsrechts in Polen dem Ende zuneigte, und ich vermute, dass sie Beethoven nicht nur zitieren, sondern auch seine Botschaft weitergeben will: lotta continua. Die Aufführung der Dritten durch das Philharmonia Orchestra London unter Esa-Pekka Salonen - neben den anderen Werken des Abends, darunter Prélude à l'aprés-midi d'un faune von Debussy -, habe ich übrigens, was die Künste der Präzision und Farbmischung angeht, als einen absoluten Höhepunkt erlebt.

Eine Botschaft der Vierten von Lutoslawski wage ich gar nicht mehr zu entziffern, obwohl auch sie der Zweiten vergleichbar aufgebaut ist: erst Episoden, dann kontinuierliche Steigerungsanläufe. Letztere freilich erscheinen mir wie Traumszenen, obwohl der Dirigent eine einheitliche Vorwärtsbewegung daraus zu machen versuchte (Alan Gilbert mit den Berliner Philharmonikern). Neu ist formal gesehen das Melodiöse, das in viele Passagen eingreift und den Anfang ganz beherrscht. Die Komposition wurde 1993 uraufgeführt, als andere Avantgarde-Komponisten, wie der Landsmann Krzysztof Penderecki, schon begonnen hatten, zur tonalen Musik zurückzukehren; das tut Lutoslawski nicht, baut aber diese Brücke des (atonal) Melodiösen zurück. Sonst bleibt er bei seinem Stil. Man fragt sich natürlich, ob sich in der Komposition das Bewusstsein ihres Schöpfers spiegelt, im Nachkommunismus angekommen zu sein. Vielleicht verhält es sich so. Ich denke an den großen atonalen Akkord, mit dem der längere zweite nach dem kürzeren ersten Teil beginnt.

Das Vorausgegangene hat sich immer schon auf ihn zubewegt, das heißt wie man schon spürte - obgleich im Stadium der "Episoden" -, wurde etwas erwartet. Oder richtiger, es war wie vorausgesetzt, dass etwas Neues schon eingetreten war, sich aber noch nicht gezeigt hatte. Das geschah dann mit jenem Akkord, der dadurch so ungemein faszinierend ist, dass ein tiefer Blechbläserton (wohl von der Basstuba) in ihm dominiert; es hört sich an, als ob der doch atonale Akkord tonal wäre. Er ist es ja nicht. Jener Ton kann nicht, nur weil er tief ist, "Grundton" sein und genannt werden, oder man müsste sagen, er sei Grundton nur dieses einzigen Akkords und schon der nächste habe einen anderen. Wiederum hinterlässt aber der Akkord, von dem wir sprechen, einen so gewaltigen Eindruck, dass man sich dennoch sagt, genau hier müsse man wohl "auf Grund gestoßen sein". Nur weiß man nicht, auf welchen... Wir sind im Neuen, doch ganz Ungewissen, scheint Lutoslawskis Botschaft zu sein. Es ist alles so zweideutig. Die Schlusstakte klingen nach Himmelfahrt, der Anfang indes spielt auf Alban Bergs todtrauriges Violinkonzert an, das "Dem Andenken eines Engels" gewidmet ist. Auch noch gegen Ende hin hat man den Eindruck, dass Berg zitiert oder doch evoziert werden soll. Lutoslawski hat die weitere Entwicklung des Weltgeschehens nicht mehr verfolgen können: Er starb 1994.

Einen letzten Bericht vom Musikfest gebe ich am Dienstag oder Mittwoch der nächsten Woche.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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