Im Orchestergraben

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Die Berliner MaerzMusik 2012 stellt wieder eine zentrale Figur der Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum: John Cage. Er wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden. Vor 20 Jahren, am 12. August 1992, ist er gestorben. Neben Cage wird auch Wolfgang Rihm geehrt, der vor ein paar Tagen seinen 60. Geburtstag feierte. Über ihn habe ich schon beim Musikfest 2011 geschrieben und will das jetzt nicht fortführen. Cage aber, wenn er schon einmal mit vielen Werken vorgestellt wird, verlangt auch die volle Aufmerksamkeit - von mir jedenfalls, den seine Musik bisher eher befremdet hat. Er soll sie bekommen, für die ganze Dauer des Festivals vom 17. bis 26. März.

Man kann über Cages Musik nicht anders schreiben, als dass man auch seine Konzeption diskutiert: die Grundidee, Musik aus dem Zufall entstehen zu lassen; die Behauptung, ältere Musik wie die von Beethoven sei unfreie und unfrei machende Musik; die Praxis der Gleichberechtigung nicht bloß von konsonanten und dissonanten Klängen, so dass der Begriff "Dissonanz" seinen Sinn verliert, wie das von Arnold Schönberg längst gelehrt worden war, sondern Gleichberechtigung nun überhaupt aller Klänge, egal ob von vertrauten Konzertinstrumenten oder von Alltagsgeräuschen herrührend; die Praxis schließlich, Hörer mit extremer Stille oder jedenfalls Leere zu konfrontieren. Spricht es gegen Cage, dass man seine Musik nicht "einfach so" hören kann? Dass sie der Erklärung bedarf? Manche meinen, Musik, die nicht für sich selbst spreche, sei minderwertig. Aber dann müsste auch Goethe minderwertig sein, der seine Autobiographie Dichtung und Wahrheit nicht zuletzt deshalb verfasste, weil er sah, dass das Publikum den Sinn seiner verstreut scheinenden Dichtung nicht verstand. Er erklärte es ihm so, dass er schrieb, es handle sich um "Bruchstücke einer großen Konfession". Was natürlich bedeutete, er musste sich selbst erklären.

Nein, wenn Cages Musik in Cages Gedanken begründet ist, erkennen wir das auch an und erörtern beides, die Gedanken vielleicht sogar noch eher als die Musik. Denn mit ihnen, denke ich, hängt es mehr als mit seiner Musik zusammen, dass er zur zentralen Figur geworden ist. Man kann es am Beispiel seiner Praxis der Stille und Leere illustrieren: Sein berühmtes Stück 4'33'' ist so komponiert, dass n i c h t s gespielt wird, vier Minuten dreiunddreißig Sekunden lang, obwohl diese Minuten sogar in Sätze unterteilt sind; ein Werk für Orgel hat er komponiert, dessen Aufführung länger als 600 Jahre dauern würde, so dass nur alle paar Jahre einmal ein Ton zu hören wäre (es läuft eine Aufführung seit 2000 in Halberstadt) - wer sich dergleichen "anhört", wird der nicht wissen wollen, wie ihm geschieht? Ich will also nicht bloß über das schreiben, was zu hören ist, sondern auch Cages Gedankenwelt erörtern. Und nicht nur Cage, auch seine Anhänger und deren Versuch, Cage zu interpretieren, erregen unser Interesse. Zu ihnen gehört ein so bedeutender Kopf wie Heinz-Klaus Metzger, der 2009 verstarb. Im April wird eine Sammlung seiner Cage-Aufsätze in Buchform erscheinen, ich werde manches davon hier vorstellen. Überhaupt wird das eine oder die Hauptfrage sein: Was "bedeuten" die Suchbewegungen von Cage? Darüber sind ganz verschiedene Vorstellungen im Umlauf. Auch weil er selbst sich mal so, mal anders interpretierte.

Heute will ich aber mit dem musikalischen Höreindruck einsteigen und ihn beschreiben, als ob ich von Cages Konzepten gar nichts wüsste. Denn so ist es mir wirklich ergangen, als ich gestern seine Komposition 103 für Orchester hörte, die mit dem Film One11 zusammen erklang (wie er selbst es arrangiert hat), aus den Jahren 1991 und 92: Ich konnte auf meine Weise davon berührt sein, unbekümmert um jene Konzepte. Es war nicht zu erwarten gewesen, denn das ist ein Werk, in dem es neunzig Minuten lang kaum Abwechslung gibt: ein ununterbrochenes Tonfeld, mal dünner, mal dichter gewebt von 103 Orchestermitgliedern - deshalb der Titel -, immer recht leise, akzentuiert durch einzelne Paukenschläge oder Trompetenstöße, die sich ziemlich gleichmäßig über die 90 Minuten verteilen. Der Film dazu zeigt Lichtwanderung auf dunklem Hintergrund, also eigentlich "gar nichts". (Er heißt One11, weil es die elfte Komposition für einen Einzelspieler ist, das ist hier - nicht, wie ich zuerst dachte, der Regisseur, der den Film nach Cages Vorgaben gedreht hat, sondern wie bei allen "Number pieces" der Aufführende, also der Filmvorführer.) Muss es nicht äußerst langweilig sein, so etwas anderthalb Stunden lang zu ertragen? Nicht einmal an einem Dirigenten konnte man sich sattsehen. Es gab keinen. Das Orchester orientierte sich an zwei Computerbildschirmen, die fortwährend anzeigten, wie viel Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden seit dem Aufführungsbeginn verstrichen war.

Es war nicht langweilig. Im gut besuchten Konzerthaus am Gendarmenmarkt verließen während der Aufführung nur zwei oder drei Personen den Saal. Am Ende gab es viel Beifall. Eine sehr interessante Musik, denn trotz einer gewissen Eintönigkeit im Ganzen passierte im Detail eine ganze Menge. Und sie gab auch zu denken. Wenn Musik zu denken gibt, heißt das, sie erinnert an andere Musik. Das tat dieses Werk. Nach einer Weile fiel auf: Das Orchester sitzt im Dunkeln! Na klar, unter der Filmleinwand. Im Dunkeln von der ersten Minute an - aber bis man den Gedanken fasst, dass es ungewöhnlich ist, vergeht Zeit. Ist der Gedanke da, muss er gleich in den nächsten umschlagen, dass es nur im Konzertsaal ungewöhnlich ist, nicht in der Oper. Das Orchester unter der Filmleinwand ist dem Orchester im ebenfalls dunklen "Graben" unter der Opernbühne vergleichbar. Nun springt die vergleichbare M u s i k ins Auge: Richard Wagners Rheingold. Da hören wir nämlich auch zu Beginn ein "ununterbrochenes Tonfeld, mal dünner, mal dichter gewebt", wie ich oben formulierte. Wogendes Wasser. Dieser Beginn ist nur viel langweiliger als Cages 103 für Orchester, weil er nur einen einzigen Dur-Akkord wiederholt und aufrechterhält und weil er ganz einfach vom dünnsten zum dicksten Gewebe, hier nicht der Tonhöhen, sondern der Instrumentalklänge, gleichmäßig voranschreitet.

Cage möge mir den frevelhaften Vergleich verzeihen. Er macht sehr viel Sinn, ich kann ihn nicht für eine belanglose Assoziation halten. Denn auch bei Wagner geht es ums Licht. Das Tonfeld am Anfang ist das Urmeer gleichsam vor der Schöpfung der Welt. Es birgt Gold, das vor denkbaren Räubern geschützt, zugleich aber periodisch von der Sonne beschienen wird und so der Aufmerksamkeit der Räuber gerade preisgegeben ist. Ein seltsamer Widerspruch, den wir aber schon aus der Paradiesgeschichte kennen: Der Baum, dessen Obst tabu sein soll, wird ins grellste Licht gestellt. Es kommt wie es kommen muss, mit der Eintönigkeit des Rheins, des Paradieses ist es irgendwann vorbei. Das Gold oder Obst wird ergriffen, und so beginnt d i e G e s c h i c h t e . Oder soll man sagen, so geht sie weiter? - falls wir nämlich annehmen, dass eine Ursprungserzählung immer eine mythische Erzählung ist. Was sich da als leerer Anfang darstellt, ist womöglich gar nicht der Anfang, sondern wie ihm Geschichte folgt, mag ihm Geschichte auch vorausgegangen sein. Kein leerer Anfang also, sondern nur überhaupt eine Leere. Im Verhältnis zur Geschichte, die vorausgeht und folgt, eine Unterbrechung. Geschichtslose Zeit: Vielleicht ist geschichtlich Bewährtes gerade zerbrochen, oder es ist gar das "Ende der Geschichte" proklamiert worden. Nun lebt man in diesem Ende, findet aus ihm lange nicht heraus, dann aber doch.

Vor diesem Hintergrund wird das Eigene von Cages Musik fasslich: In 103 für Orchester ist kein Gold oder Obst zu finden, die herausgehoben werden könnten, so dass Geschichte wieder in Gang käme. Dass der Klang "golden" ist, kann d a r a n nichts ändern. Die Leere bleibt unerbittlich. Man ist gleichsam verdammt, ewig im Paradies zu bleiben. Oder sollte es die Hölle sein? Gleichviel, wir wundern uns jetzt nicht mehr, dass es so lange dauert, anderthalb Stunden: In dieser Zeit begreifen wir, dass es immer so weiter geht. Ob 90 Minuten oder 600 Jahre, egal. Nichts führt heraus. Wenn es nach Cage geht, soll wohl auch nichts herausführen. Verweile doch, du bist so schön! Die Frage nach dem, was außen wäre, steht trotzdem immer im Raum. Alle Paukenschläge und Trompetenstöße scheinen sich dahin zu strecken, auch liegt viel Spannung in der zugleich so ruhigen Musik. Man kann nicht sagen, sie sei auf dem Sprung, aber dass sie springen k ö n n t e , daher auch auf dem Sprung sein könnte, dann jedenfalls, wenn es ein Wohin gäbe, ist nicht zu überhören.

Das ist der Höreindruck, von einem der Werke, die am ersten Wochenende zu hören waren. Auf die anderen Werke komme ich auch noch zu sprechen. Morgen beginnen wir uns auf Cages Konzepte einzulassen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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