Im Schatten von morgen

Musik In der Weimarer Republik zählte Walter Braunfels zu den meistgespielten Komponisten. Die Nazis nahmen ihm alle Ämter. Seine "Große Messe" ist ein erhellendes Zeitdokument
Ausgabe 29/2013
Im Schatten von morgen

Foto: Archiv Bruse-Braunfels

Walter Braunfels, geboren 1882, war in den zwanziger Jahren einer der meistgespielten Komponisten der Weimarer Republik. Dabei sind seine oft religiösen Werke gänzlich tonal, ja spätromantisch zu nennen. Mit der Vorstellung, die Zeit tonaler Komposition sei damals schon abgelaufen gewesen, nur Hitler habe versucht, sie wiederzubeleben, läge man falsch. Hitlers Regime hatte aber zur Folge, dass nach 1945 fast nur die unter ihm geknebelten Neutöner bekannt wurden, während viele, die traditionell komponiert hatten, nun erst wirklich in Vergessenheit gerieten. Wie Walter Braunfels. Als „Halbjude“ verlor er 1933 alle Ämter, seine Musik durfte nicht mehr aufgeführt werden. 1947 machte ihn Konrad Adenauer erneut zum Rektor der Kölner Musikhochschule. Als Komponist war er unbekannt, als er 1954 starb.

Seine Große Messe für gemischten Chor, Solo-Quartett, Knabenchor, Orgel und großes Orchester op. 37, komponiert zwischen 1923 und 1926, orientiert sich an großen Vorbildern – Mahler, Bruckner, Beethoven – und hat doch einen eigenen Ton, der nicht leicht einzuordnen ist. Man kann das Werk auch sehr unterschiedlich hören. Der CD-Beilage zufolge beginnt das Kyrie „in geheimnisvollem und fast impressionistischem Moll“, während sich der Rezensent vor allem in Angst gesetzt fand. Man sagt, dem Komponisten habe der Schrecken des Weltkriegs, an dem er als Soldat teilgenommen hatte, vor Augen gestanden. Doch die Angst ist so gegenwärtig, dass auch an Joachim Fests Hitler-Buch zu denken ist, in dem jene Zeit als eine „der großen Angst“ analysiert wird. Einem damaligen Buchtitel zufolge fand man sich Im Schatten von morgen wieder. Drohende Schatten, ein Gefühl wie Würgen im Hals sprechen aus den ersten, sich hart aneinanderreibenden Tönen des Kyrie. Und wenn der Chor im nachfolgenden Gloria sein Jubelgebet an Gott in der Höhe herausschreit, ist es fast noch beklemmender.

In solche Ekstase bricht man aus, um Angst zu übertönen, vielleicht gerade vor dem, den man anbetet. Es ist das Faszinierende an dieser Musik, dass sie sich Gefühlen so hemmungslos überlässt. Das tut sie nicht überall, auch im Gloria nicht, wo eine Passage an Palestrina erinnert, den Kirchenmusiker des 16. Jahrhunderts. Die Hauptwirkung aber ist: Man hält den Atem an. Am meisten beim Credo, das beim ersten Hören wie eine Reihung wirrer Traumszenen anmutet. Es beginnt wie das Kyrie, doch die Stimmung ist anders geworden. Es hellt auf. So scheint es. Das Gewitter ist nicht abgezogen, der Chor wagt nur unsichere Hoffnung zu äußern. Zugleich spielt sein Gesang auf den Beginn des Credo in Beethovens Missa Solemnis an.

Die Hoffnung festigt sich schnell und glaubt sich belohnt zu sehen, wenn Christus auftaucht. Dass er „Fleisch angenommen“ habe, wird mit heiligem Erschauern als Wunder erfahren. Doch die Idylle hat keine Zeit, sich auszubreiten, denn als würde "Hilfe, Hilfe!“ gerufen, kommen schon die „Crucifixus“-Schreie. Wenn der Chor bald wieder Fassung gewinnt, indem er sich zum Auferstehungsglauben bekennt, geschieht es zeitweise in der Art einer wütenden Militärkapelle. Später, beim Glauben an Kirche und Heiligen Geist, erinnert sich die Musik vergangener Polyphonie und triumphiert. So geht es weiter. Man muss dieses Werk nicht gern hören. Doch es ist ein bewegendes und erhellendes Zeitdokument.

Walter Braunfels Große Messe. Manfred Honeck dirigiert Staatsorchester, -opernchor und Knabenchor Stuttgart (Decca)

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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