Im Treibhaus

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Schlag oder Laut

In den nächsten drei Wochen will ich wieder vom Berliner Musikfest berichten, wie letztes Jahr, als Pierre Boulez im Zentrum stand. Die diesjährigen Festspiele haben mehrere Zentren: Gustav Mahler, Luigi Nono mit wenigen, aber gewichtigen Werken sowie in größerem Umfang Franz Liszt und vor allem Wolfgang Rihm. Was verbindet diese Komponisten, was ist die Klammer der Festspiele? Zum Teil geht es darum, an Todes- und Geburtstage zu erinnern. Mahler starb vor hundert Jahren, Liszt wurde vor 200 Jahren geboren. Auch Hans Zender, der 75 Jahre alt geworden ist, wird gewürdigt. Hans Werner Henze übrigens, in diesem Jahr 85 Jahre alt, wurde anderswo gefeiert, von ihm steht kein Werk auf dem Programm.

Aber bei Rihm rundet sich der Geburtstag nicht und bei Nono weder Geburts- noch Todestag. Die Begegnung ihrer Werke und der Abende insgesamt ist einer anderen Logik geschuldet: "Klavier hier, Stimme da", "Schlag oder Laut", das Programm "ist ganz aus diesem Dualismus entwickelt", lesen wir in der Ankündigung. Dem einen Extrem zufolge können Klavier und Orchester als "Maschine" erscheinen, das andere liegt in Mahlers rhetorischer Frage: "Können Sie sich eine Symphonie vorstellen, die von Anfang bis Ende durchgesungen wird?" Die Frage ist rhetorisch, weil Mahler, als er sie 1906 stellte, schon dabei war, seine "durchgesungene" Achte zu komponieren. Sie ist am 15., 17. und 18. September zu hören und wird hier besprochen werden.

"Durchgesungen" ist auch Nonos Prometeo, die zweieinhalbstündige "Tragedia dell'ascolto" (Tragödie des Hörens) nach Texten von Aischylos, Hölderlin, Walter Benjamin und anderen, und ebenso Zenders Logos-Fragmente aus biblischen und apokryphen Texten, deren Uraufführung am 4. September, dem kommenden Sonntag, erfolgt. Acht der neun "Fragmente" wurden zwischen 2006 und 2010 komponiert, mit dem neuen neunten ist jetzt das Gesamtwerk vollendet. Von Rihm gibt es gleich heute, am traditionellen Vorabend vor dem morgigen "Eröffnungskonzert", ein Werk für Vokalensemble und Streichquartett, ET LUX aus dem Jahr 2009 mit Textfragmenten der römischen Requiemliturgie (20 Uhr Gethsemanekirche). Dem kann man etwa noch Ferruccio Busonis Konzert für Klavier und Orchester mit Schlusschor op. 39 aus dem Jahr 1904 zur Seite stellen, das am 8. September gegeben wird. Über all diese Werke und noch andere soll hier nachgedacht werden. Auf der ersten Blick drängt sich ja etwa die Frage auf, warum sich so viele bedeutende Werke, auch Mahlers Achte gehört dazu, religiös konnotieren.

Eine andere Klammer der Festspiele, von der Ankündigung nicht erwähnt, liegt noch in der besonderen Beziehung, die Rihms Musik gerade zu Nono und Mahler unterhält. "Mahler, Nono, Rihm" sind deshalb meine Schwerpunkte. Die Festspiele feiern sich übrigens auch selbst, denn es gibt sie nun seit 60 Jahren, und seit 10 Jahren ist Joachim Sartorius ihr Intendant.

Liszt und Beethoven

Auf Liszt werde ich nicht eingehen und will daher wenigstens heute von ihm sprechen. Zur Erinnerung an ihn wird dieses Jahr viel getan, in Weimar zum Beispiel hat man sein gesamtes Klavierwerk "durchgespielt". Aber es ist schwer, ihn in lebendiger Erinnerung zu halten, das heißt seine Werke wieder und wieder zu hören; sind sie doch vielen Hörern zu "bombastisch" und zu pathetisch. Der Vorwurf des Bombastischen, auch im Sinn der Überfrachtung mit äußerlicher Virtuosität, geht wohl an der Sache vorbei. Es ist wahr, er wollte Paganinis Virtuosentum der Violinkunst aufs Piano übertragen und tat es erfolgreich; äußerlich jedoch erscheint seine Musik nur dem, der sie sich von unverständigen Interpreten vorspielen lässt. Wenn Pierre-Laurent Aimard am kommenden Montag unter anderm Liszts Hauptwerk, die Sonate für Klavier h-moll von 1852/53, erklingen lässt, ist Unverständnis schwerlich zu erwarten. Mit Liszts Pathos indes habe auch ich meine Schwierigkeiten.

Es ist ein Pathos, dem jeder Sonnenschein abgeht. Ob wir die h-moll-Sonate nehmen oder die Dante-Symphonie (1855/56), mit der die Festspiele am 19. und 20. September enden, jedesmal hören wir eine Musik, die über weite Strecken nur stockend vorankommt, sich nie zu schönen, gar lächelnden Melodien verdichtet, dabei aber entweder heftig rast oder, wenn sie ruhiger fließt, das Schöne nur als das Hoffnungslose vorträgt. Der Klang hat überall etwas Hohles, was freilich nicht heißt, dass sie unwahr wäre oder schwach gefertigt. Ganz im Gegenteil. Die Musik ist nicht selbst hohl, beschreibt aber Hohles, das Hohle der Hoffnungslosigkeit. Deshalb wahrscheinlich erträgt man es schwer, sie anzuhören. Man weiß ja, wie schön sich auch Hoffnungslosigkeit anhören kann, bei Wagner etwa, Tristan und Isolde - jemand indes, der das Hoffnungslose tiefer erfährt, muss wohl hinnehmen, dass es aushöhlt und leer zurücklässt, derart eben, dass stockende Impulse zu keiner Linie mehr sich zusammenfügen, vielmehr ein ums andere Mal ins Leere greifen und aus ihm nicht herauskommen.

Wenn man die h-moll-Sonate mit Beethovens Hammerklavier-Sonate vergleicht, springt der besondere Charakter des Lisztschen Pathos ins Ohr. Pathetisch und schwer bedrängt von Lebensstürmen gibt sich auch Beethoven, an den Liszt vielleicht sogar anknüpfen will, wird doch etwa ein monoton "hämmerndes" Motiv in beiden Sonaten zum wichtigen Signal. Aber Beethovens Musik beruhigt noch im wilden Aufruhr des Anfangs mit klaren Dur-Akkorden, während Liszt schon zu Beginn nur schräge Töne zusammenführt, die an den (antisemitisch) komponierten Wahnsinn mancher Judenchöre in Bachs Johannespassion erinnern. Beethovens Seitenthema, das zweite des Sonatenhauptsatzes, welches man nach gängiger Übung "weiblich" zu nennen hätte, ist, so sehr es vorüberhuscht, hell und ungebrochen. Mögen die Stürme toben, der Seele passiert nichts - die Zeit reicht, das zu denken. Bei Liszt ist das zweite Thema, abgeleitet aus dem ersten, nur haltlos sehnsuchtsvoll. Gerade die h-moll-Sonate, die an die klassische Beethovensche Form erinnern will, gibt zu verstehen, dass erstes und zweites Thema auseinandergebrochen sind, mögen sie sogar demselben Motiv entnommen sein. Das "männliche" erste, das bei Beethovens stets himmelswärts strebt, illustriert bei Liszt nur die Hölle als den Ort, von dem her gestrebt wird. Das "weibliche" zweite hält keine Hoffnung aufrecht, sondern zeigt deren Vergeblichkeit.

Liszt und Wagner

Erhellend ist auf andere Weise der Vergleich mit Richard Wagner. Wagner wollte offenbar dieselbe Verzweiflung vertonen wie Liszt. Haltlose Sehnsucht, die ins Leere greift, vermittelt auch Wagners Lied "Im Treibhaus", dem das berühmte Tristan-Motiv entstammt. Nur klingt es bei ihm so, dass auch glückliche Liebespaare sich wohlfühlen können. Nicht so bei Liszt. Etwas dem Lisztschen Klang Vergleichbares findet man allenfalls in der "Rom-Erzählung" Tannhäusers aus Wagners gleichnamiger Oper. Das aber ist eine Spur. Was Tannhäuser zustößt, ist Liszt nicht fremd gewesen.

Den Minnesänger lässt Wagner auf der Wartburg die freie Liebe verkünden, weshalb ihn die übrigen Minnesänger und der anwesende Adel für höllisch verdammt halten und nur noch seine Begnadigung durch den Papst zu erhoffen wagen; Tannhäuser, der sich vom bigotten Entsetzen ringsum anstecken lässt - anders, wohlgemerkt, als sein zur Zeit der Komposition auf Ludwig Feuerbach schwörender Schöpfer -, schließt sich deshalb den Pilgerscharen an, die nach Rom ziehen, wo ihn aber ein so engstirniger wie selbstgefälliger Stellvertreter Christi nur donnernd abkanzelt. Mit dem Ruf "Da ekelte mich ihr holder Sang", gemünzt auf den Pilgerchor, endet daher Tannhäusers "Rom-Erzählung". Wagner macht dennoch die Religion nicht nieder, sondern legt im Gegenteil alle Hoffung gerade in die Pilger-Musik, die an bis heute ungeborene Päpste scheint appellieren zu wollen.

Weder Wagners noch Liszts Verzweiflung galt nur dem gesellschaftlich schweren Stand der freien Liebe. Nein, sie standen beide der scheiternden 1848er Revolution nahe. Liszt war Anhänger des Sozialrevolutionärs Saint-Simon. Wenn es bei Wagner offensichtlich ist, dass er die neuen Fabriken in der Hölle situiert (unter Alberichs peitschenschwingender Aufsicht im Rheingold), muss man sie doch auch in Liszts Höllenmusik annehmen. Dem ersten Motiv der Dante-Symphonie hat Liszt die Inschrift über der Höllenpforte zugeordnet - dieselbe, die Karl Marx über die Fabriktore schreibt -: "Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, [...] Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten." Aber auch mit der freien Liebe war es für Liszt zum Verzweifeln. Zumal er in höherem Maß als Wagner dem katholischen Christentum anhing.

Die gewollte Hohlheit und Schwärze seiner Musik ist überhaupt nur daraus erklärlich, dass er mit religiösem Blick in nihilistische Abgründe schaut. Mit 54 ist er schließlich noch nach Rom gegangen, um sich zum Franziskaner-Abbé weihen zu lassen. Vorher jedoch lebte er in freier Liebe. Mit seiner zweiten Lebensgefährtin, der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein, war er nach Weimar gezogen. Die Residenzstadt erlebte durch ihn, nach Goethe, noch einmal eine kulturelle Blütezeit. Gerade den Tannhäuser setzte er durch, die Oper wurde zum meistaufgeführten Musikstück des Hoftheaters. Doch der Hof schnitt seine Gefährtin, wie er Goethes bürgerliche Ehefrau geschnitten hatte; und als sich zuletzt Hof- und Bevölkerungskreise im Affront zusammentaten, um die anderswo gefeierte Musik seines Schülers und Freunds Cornelius auszubuhen, räumte er das Feld.

Man wird seiner mit Achtung gedenken. Doch wenn ich die Musik höre, dann will mir scheinen, dass es ein Irrweg war, den Nihilismus durch Dur und moll zu veranschaulichen. Denn Tonalität, auch die eher hässlich ausgeführte, lässt immer etwas wie Ordnung durchschimmern; dadurch wird das vertonte nihilistische Gefühl zum Faszinosum. Erst recht gilt das vom schöner klingenden Nihilismus bei Wagner. Dessen Klänge in der Götterdämmerung stehen den Lisztschen, was Schwärze angeht, nicht nach, sind aber voll statt hohl und ein wahres Opiat. Daran haben die Nazis sich berauscht, die auch auf die Idee kamen, mit der Fanfare aus Liszts Les Préludes die Siegmeldungen des Weltkriegs einzuleiten. Man kann es Liszt und Wagner nicht vorwerfen - aber es zeigt doch, dass über den Nihilismus das Bilderverbot verhängt sein sollte.

Ich meine, es gehört zu den stärksten Gründen für die Notwendigkeit des Übergangs zur atonalen Musik im 20. Jahrhundert, zur "seriellen" schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Nihilistisches artikuliert und dabei das falsch Faszinierende abgewehrt werden musste. Pli selon pli von Boulez, das anhebt mit Mallarmés Vers "Ich bringe dir das kind aus Edoms nacht geboren", fasziniert nicht mehr. "Edom" ist die Hölle. Ich habe voriges Jahr darüber geschrieben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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