Im virtuellen Zoo

Erfolgstierfilm Über drei Millionen Zuschauer haben die Dokumentation "Unsere Erde" bislang gesehen. Am ökologischen Anspruch liegt das wohl nicht

Naturfilme über tierisches Leben, die zugleich ökologische Kritik üben, haben etwas Zwiespältiges. Zunächst weil die Ökologie selber zwiespältig ist. Ihr ist ein gewisser Biologismus angeboren, der entweder dazu führt, dass wir uns selbst bloß in der tierischen Dimension wahrnehmen: Wir fressen alles kahl und rauben uns so die Lebensgrundlage. Oder dazu, dass uns der Untergang der Tiere nicht wirklich berührt, weil wir einer anderen Welt anzugehören scheinen. Unsere Welt ist eine künstlich geschaffene. In ihr stellt sich die Frage, ob originale Natur überhaupt noch gebraucht wird, wenn sie doch nachproduziert werden kann. Energieressourcen sind notwendig. Aber die Tiere? Muss es Tiere, die im Film verewigt werden, überhaupt noch real geben? Erst der Film, den diese Frage erschreckt - den sie zur Selbstreflexion führt, statt dass er sie verdrängt -, wäre ein radikal ökologischer Film.

Wem nützt die Existenz der Tiere, Haustiere einmal beiseite gelassen? Die meisten von uns können ihnen ja doch nicht in die Wildnis folgen. Während es leicht ist, Menschenmassen mit Filmbühnen zu beglücken. Heucheln wir also nicht, wenn wir ins Kino gehen und den schönen, sterbenden Wildfang bemitleiden, wohl wissend, dass wir ihn wiedersehen können, so oft wir wollen? Trotz seines Untergangs? Ein Film etwa wie Unser Planet von Michael Stenberg, Linus Torell und Johan Söderberg (Freitag 44/07) hat das Problem zu reflektieren begonnen. Durch Naturfilme, erklärt er uns, werden Orte angeblich unberührter Natur suggeriert; dort angelangt, sehen die Massentouristen in der Ferne hinter dem vorbeilaufenden Zebra die Menschenstadt. Wir begreifen: Film und Realität hängen nicht bloß durch Abbildung zusammen. Aber auch Unser Planet ist ein Film. Wir werden letztlich in denselben "Naturpark" geführt, nur kritischer vielleicht als es die Reisebegleitung vor Ort sein mag. Wir fahren virtuell mit demselben Bus am selben Zebra vorbei wie jene Massentouristen, nur dass der Film uns die Reisekosten erspart.

Wenigstens ist hier der ökologische Anspruch glaubhaft. Beim derzeitigen Kinohit Unsere Erde von Alastair Fothergill und Mark Linfield ist das anders. Der Film zeigt die Natur "als solche". Menschen wirken darauf nur ein, indem sie das Klima verändern. Sie werden nie sichtbar; der Zuschauer könnte phantasieren, dass auf der Erde nur Tiere leben und der Mensch vom Mars aus CO2 in die Erdatmosphäre schickt. Man führt uns Tiere vor, die an den Folgen des Treibhauseffekts leiden. Elefanten zum Beispiel, deren jährlicher Marsch zu den Wasserquellen immer länger und prekärer wird. Aber daneben sehen wir auch Tiere, die aus anderen Gründen gefährlich leben. Es gibt Vögel, die jährlich den Himalaya überfliegen müssen: Manchmal kehren sie um, weil der Wind zu heftig weht, und zerschellen beim zweiten Versuch an der Felswand. Was lernen wir daraus? Dass es viele Todesarten gibt, von denen die ökologische nur eine ist?

Eine recht häufige Todesart in der Natur besteht darin, dass Tiere von anderen Tieren gefressen werden. Das zeigt jeder Tierfilm. Werden dadurch ökologische Gefühle geweckt? Es hat schon Menschen gegeben, die deshalb den Weltuntergang herbeigewünscht haben. Die Gnostiker waren der Ansicht, eine so grausame Welt verdiene es nicht, weiter zu existieren. In Unsere Erde wird gezeigt, wie ein Löwe der Gazelle, nachdem er sie eingeholt hat, zuerst den Hals durchbeißt. Er frisst sie also nicht bei lebendigem Leib. Aber dann sehen wir den Haifisch, der nicht so gebaut ist, dass ihm solche Schonung möglich wäre. Die Gnosis ist lange her. Uns steht der Vitalismus näher. Der ist nicht besser, wollte er uns doch erziehen, den Daseinskampf der Tiere als natürliches Vorbild hinzunehmen, in dem sich nun einmal "das Leben" zeige. Was ist eigentlich genau der Schatz, den wir ökologisch verteidigen?

Vielleicht ist ein Film mit solchen Fragen überfordert. Aber wenn es wirklich um Tierschutz ginge, hätten die Tötungsorgien der Ernährungsindustrie gezeigt werden können. Ulla Lachauer hat in einem ihrer Bücher daran erinnert, warum es im Kurischen Haff längst keine Fische mehr gibt. Dort vertieften sich Fischer in die Lebensgewohnheiten der Fischarten, entnahmen aus den Beständen, was nachwachsen konnte, und gaben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter. Dem sah die Regierung nicht länger zu, denn das ging alles so langsam. Inzwischen konnte man Riesenfangnetze von japanischen Firmen kaufen. Man setzte große, motorisierte Kutter ein und hatte märchenhafte, gigantische Fänge. Ein paar Jahr lang. Danach war es ein totes Meer.

Wenn man Unsere Erde als virtuellen Zoo versteht, hat der Film sein Gutes. Der Mangel des hergebrachten Zoos ist, dass er die Tiere an der Bewegung hindert. Unsere Erde zeigt sie geradezu als Wesen, die sich durch die verschiedene Struktur ihrer Reiserouten charakterisieren lassen. Das sind oft sehr weite Wege, manchmal gehen sie über Kontinente oder führen an ihnen vorbei. Irgendwie rücken die Tiere uns dadurch näher. Wir sind nicht die einzigen Jetsetter. Mit Flugzeug und Auto haben wir nur eine andere Technik als sie, eine künstliche eben.

Allerdings ist auch dieser Gesichtspunkt zwiespältig. Schon was es mit dem Tierschutz des herkömmlichen Zoos auf sich hat, sollte nachdenklich machen. Der Argwohn, dass "die Zoologischen Gärten nicht bloß Veranstaltungen zur Volksbelehrung sind", wurde vor mehr als hundert Jahren geäußert, von Wilhelm Bölsche, einem Schriftsteller: "Diesen alten Planeten zu studieren, ist bloß noch ein paar Generationen vergönnt. Was wir noch einheimsen, bleibt, der Rest ist Schweigen. Wäre es möglich, diesen Gedanken an die rechte Stelle zu bringen, so müßten Millionen flüssig gemacht werden für diese Stunde vor Torschluß in der Zoologie, sie müßte alle Vorschüsse für diesen Moment bekommen, die denkbar sind."

Der Naturfilm als virtueller Zoo ist demselben Verdacht ausgesetzt. Was wir noch abfilmen, bleibt. Und, dankenswert genug: Die Filmtechnik wird immer besser. Der Rest ist Schweigen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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