In den Fluten des Vorfelds

Kommentar Angela Merkels schwerste Woche

Es ist immer schwierig, im Vorfeld eines Ereignisses Analysen und gar Behauptungen zu wagen. Vielleicht tritt es dann doch nicht ein - wenn es zwangsläufig käme, wäre es ja kein Ereignis. Das Ereignis, dessen hohe Wahrscheinlichkeit hier dennoch vermerkt werden soll, ist Angela Merkels baldiges Scheitern als CDU-Chefin. Denn es gibt eine oft bewährte Logik des Vorfelds, die hier mühelos wiedererkannt werden kann. Zu ihr gehört das Element der Beschleunigung. Wie Merkel schon seit vielen Wochen unter dem Druck des Konflikts um ihre Gesundheits-Prämie steht, hat Ulrike Baureithel in der vorigen Ausgabe des Freitag dargestellt und daran bereits die Frage knüpfen müssen, ob sie sich als Kanzlerkandidatin halten kann. Da war auch schon der Rückzug von Friedrich Merz aus der Fraktions- und Parteiführung bekannt. Was ist seitdem, in nur einer weiteren Woche, nicht alles dazugekommen!

Als müsste Merkels Inkompetenz erst auf möglichst unterschiedlichen Feldern bloßgestellt sein, bevor man sie guten Gewissens abschießen kann, sah sie sich gleich nach Merz´ Rückzug gezwungen, die Unterschriftenkampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei abzublasen, den sie eben erst befürwortet hatte. Tatsächlich war dieser Plan ein schwerer Fehler gewesen. Man sieht das sehr deutlich seit Anfang dieser Woche, als für Merkels schon länger gebrauchte Formel, der Türkei solle eine "privilegierte Partnerschaft" angeboten werden, sogar aus der französischen Sozialistischen Partei Zustimmung kam. Sie hatte da ein Pfund in der Hand, mit dem sie hätte wuchern können. Aber mit der Absicht der Unterschriftenaktion, die ohne antitürkische Begleiterscheinungen gar nicht gedacht werden kann, ist die angeblich gewollte "Partnerschaft" nachhaltig diskreditiert. Der Fehler ist geradezu schülerhaft, weil man seine Herkunft aus der einst erfolgreichen Unterschriftenaktion gegen das rot-grüne Einwanderungsgesetz von 1999 leicht erkennt: Wie kann man eine Methode des innenpolitischen Hickhacks auf einen Streit über die Zukunft der EU übertragen wollen?

Vielleicht konnte die Katastrophe des Merz-Rücktritts erst nach diesem nächsten Schlag im vollen Umfang erkannt werden. Merz ist offenbar der einzige Finanzfachmann der Union von Rang, Finanzpolitik aber, als Heimspiel des Neoliberalismus, ist die seit Jahren für entscheidend gehaltene Trumpfkarte im Dauerwahlkampf. Wie peinlich, dass Merkel einen Außenpolitiker von Rang um die Nachfolge bitten musste, zudem einen, der ihr Intimfeind ist und es sie auch sogleich spüren ließ, indem er die Bitte abschlug. Nun steht die CDU an dieser Front nackt da, und die Folge kann eigentlich nur sein, dass Merkel zurücktritt, damit Merz in seine alte Rolle zurückkehrt. Denn wie will die Union mit den beiden jetzt nominierten Ersatzmännern, die niemand kennt, gegen Hans Eichel und Wolfgang Clement bestehen? Nur die trunkene Eigensinnigkeit von Ereignissen kann Angela Merkel jetzt noch retten.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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