In einem Augenblick

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Gestern Abend hörte ich Prometeo - Tragedia dell' ascolto (Tragödie des Hörens) von Luigi Nono. Dass es ein "Erlebnis" war, ist den Aufführenden zu danken: dem Konzerthausorchester Berlin, dem Experimentalstudio des SWR, den Sängern und Sängerinnen, darunter der Schola Heidelberg, der Dirigentin Matilda Hofmann und dem Dirigenten Arturo Tamayo.

Zunächst noch einmal zur Textvorlage von Massimo Cacciari. Ich hatte darauf hingewiesen, dass Der gefesselte Prometheus von Aischylos in seiner Zusammenstellung von Texten den Hauptbezugspunkt bildet, daneben aber andere zitiert werden und besonders Walter Benjamin mit dem Wort von der "schwachen messianischen Kraft". Das Programmheft zum Konzertabend (die Programmhefte, nicht nur dieses, sind wieder von hervorragender Qualität) erzählt uns von Cacciaris Konzeption, er habe deutlich machen wollen, dass die "Utopie der Befreiung" im Grunde scheitere, insofern als Prometheus sich mit dem Gott versöhnt habe, der ihn an den Felsen schmieden ließ. Die Haltung des Prometheus dabei, wie Cacciari sie unterstelle, wird so gefasst: "Er beschwichtigt Zeus, um das Feuer für die Menschen zu bewahren, und lässt den Gott sich in seinen sicheren Sitz im Himmel zurückziehen, 'nicht tot, doch wie tot' der Existenz des Menschen auf Erden gegenüber. Genau dies ist die Situation, die auch Hölderlin in seinem Schicksalslied beklagt." (Wo der Mensch als "von Klippe zu Klippe" Geworfener erscheint, ich hatte davon gesprochen.) "Hölderlins gesamtes dichterisches Schaffen, so argumentiert Cacciari, ist geprägt von seinem 'tragischen Wissen' um den 'Rückzug des Gottes'."

Das sind vieldeutige Worte. Das Wissen, gewonnen aus Hölderlin, um den "Rückzug des Gottes" erinnert stark an Heideggers Spätphilosophie, die Cacciari vielleicht geläufig war. In dieser ist der Rückzug aber nicht endgültig, sondern im Gegenteil dreht sich alles darum, die Rückkehr des Gottes vorzubereiten, das heißt, unmetaphorisch gesprochen, die Gegenwart als Geschichtsunterbrechung sich einsichtig zu machen und in ihr nicht zu verharren, sondern ihre Überwindung zu erwarten und auch vorzubereiten. Andererseits klingen die Worte so, als werde eine endgültige Niederlage eingestanden: Der grausame Gott hätte besiegt werden müssen, aber das ging nicht (weil er zu mächtig war?), und um wenigstens das Feuer zu retten, musste ein Kompromiss mit ihm geschlossen werden, der für alle Ewigkeit alles beim Alten lässt.

Vielleicht ist es gar nicht so gemeint, aber es kann so gelesen werden. Zumal das Programmheft auch von Nono Ähnliches zitieren kann: "'Fine Utopia' (Ende der Utopie), schreibt Nono später wiederholt in seinen Skizzen und 'finita la speranza del ribelle' (Ende der Hoffnung des 'Rebellen')."

Ich denke, sie haben beide nicht das Ende der Hoffnung, sondern nur das Ende einer bestimmten Art, nach ihr zu handeln, einer Art, die hier Rebellion genannt wird, zum Ausdruck bringen wollen. Wir hörten ja schon, dass Nono am Ende der 1970er Jahre zu dem Schluss kam, Weltveränderung nach dem Muster des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan oder der Niederschlagung von Solidarnosc führe nicht weiter, sei mentaler Krampf. Aber das muss nicht heißen, dass man vor dem bisherigen Gott der Welt kapituliert und sich ihm von Neuem unterwirft, froh, "das Feuer" wenigstens behalten zu dürfen. So lebt zwar der Prometheus-Mythos in unseren Köpfen ("das Feuer" nimmt uns niemand mehr weg, das hat Prometheus für uns erreicht, die Herren über uns aber auch niemand), aber ich glaube nicht, dass es bei Aischylos so gemeint ist. Ihm zufolge, so lese ich es, versöhnt man sich mit dem alten Gott, um ihn in den neuen umzuwandeln. Weil er alt ist, reagiert er strafend auf das Neue, doch das ist nur seine Art, sich an das Neue zu gewöhnen. Prometheus erkennt, dass es nicht geraten ist, die schmerzhafte Wandlung, die er dem Gott zumuten muss und auch kann, durch unnötige Konfrontation noch zu erschweren. Was nichts davon zurücknimmt, dass Konfrontation erst einmal sehr nötig war. Das Feuer musste dem Gott durchaus geraubt werden, denn er war unfähig, es freiwillig herzugeben. Nur unter der Bedingung, dass der Bruch vorausgeht und vollzogen ist, erleichtert man ihm die Anpassung.

Nach allem, was ich von Walter Benjamin gelesen habe, glaube ich, dass gerade er es sich ungefähr so vorstellt, und schon deshalb auch, dass Cacciari es so denkt. Vor allem aber, die Texte zum Prometeo sagen nichts von Resignation und endgültiger Unterwerfung unter das Alte. Im Gegenteil. Beachten wir nur, wie Benjamin selber in ihnen auftritt: Zuerst wird an seinen "Engel der Geschichte" erinnert, der nicht anders kann, als zurückzuschauen in die Katastrophe des Anfangs (die Vertreibung aus dem Paradies), doch gleich geht es weiter: "Wenn Dir gegeben ist, ein Held zu sein, vermagst Du es nur auf dem Meer", "Prometheus, kehre jetzt zurück", "Mach Dich ans Pflügen", "Hier lässt Du wachsen einen Baum" - der andere Benjamin, der von der schwachen Kraft spricht, behält das letzte Wort.

Es geht gerade um diesen Übergang, in dem man "zurückkehrt", sich umwendet, aufhört, die Mauer des Vergangenen anzustarren, und sich dem "Feuer" zuwendet. Dem "Feuer" oder der "Sonne" - Platons Höhlengleichnis ist präsent -: "Höre // Ergreife diesen Augenblick / Er leuchtet auf für einen Moment / Einen Lidschlag // Sprich nicht vom Gestern / Heute wirft die Sonne / das Band des Morgens aus".

Nonos Musik, wie ich sie gestern erlebt habe, war eine Komposition des "Lidschlags", obgleich sie zweieinhalb Stunden dauerte. Ja, diese Seite des "seriellen" Komponierens wurde nachvollziehbar: dass es darauf hinausläuft, einem zeitlichen Ablauf eine Struktur zu unterlegen, die man, würde man sie kennen oder wäre sogar ihr Schöpfer, vorab benennen könnte; was aber einfach bedeutet, der ganze Ablauf wird auf einen einzigen Augenblick reduziert. In einem Augenblick passiert Vieles gleichzeitig, dies Gleichzeitige wird von der Komposition in den zeitlichen Ablauf auseinandergelegt, damit man es unterscheiden kann. Wer so ein Verfahren für "deterministisch" hält, wer glaubt, es nehme der Musik die Freiheit, hat es nicht begriffen. Nein, das die Situation des Unfalls, die doch jeder kennt: Es ist Nacht und ich stürze vom Fahrrad, weil ich den Balken übersehen habe, der im Weg lag, und erlebe alle Komponenten des Sturzes wie im Zeitraffer. Die Zeit, von der ich begreife, dass sie für einen Vermeidungsversuch zu kurz ist, wird mir, indem ich das und noch viel mehr im Sturz ruhig überdenke, sehr lang. Der Sturz determiniert mich freilich, aber nicht jeder Augenblick ist ein Sturz. Augenblicke der Freiheit sind genauso komplex.

Es wird ja behauptet, so erginge es einem im Sterben: dass das ganze Leben "wie im Zeitraffer" noch einmal vorbeilaufe. Das ist der Augenblick: in dem die Zeit schon nur noch Hülle ist, das Bleibende anzudeuten. Der verweilende Augenblick. Auch vom Traum, den wir hinterher ausführlich erzählen, sagt man, er brauche nur eine Sekunde.

Darauf, dass serielles Komponieren so verstanden werden kann, hat Helmut Lachenmann hingewiesen. Er selbst komponiert so, dass verschiedene Klänge aufeinander folgen und einander kommentieren, von der seriellen Komposition sagt er aber, sie sei wie ein einziger "Strukturklang".

Nonos Prometeo ist so komponiert, dass man zweieinhalb Stunden lang das Gefühl und das Erlebnis hat, einen Augenblick, einen Lidschlag zu durchleben. Im Grunde passiert alles gleichzeitig, obwohl es auf den Ablauf verteilt ist: die leisen Litaneien, die fast geflüsterten Sprecher-Texte, die Gewalt mancher Einwürfe von Blasinstrumenten, die Erregtheit des Chors, wenn er in knappen Schreien zum Aufbruch ansetzt, der dann doch (noch) nicht erfolgt. Nono hält die Sekunde eines Übergangs fest.

Er formt diese Sekunde, indem er in ihr eine deutlich hörbare Mitte herausarbeitet. Da singt nur eine Altsolistin, wenig von Bläsern begleitet, sehr leise alles und mit geringstem Tonmaterial. Sie singt von der "schwachen messianischen Kraft". Wenig vorher ist Hölderlin beschworen worden, der Sturz "von Klippe zu Klippe". Danach kommt: "Höre // Ergreife diesen Augenblick". Die ganze Komposition ist dieser Augenblick, aber hier verdichtet er sich. Die leere Quinte dominiert, auch im sich anschließenden Orchestersatz, der tatsächlich an die Situation vor Sonnenaufgang erinnert, ich meine natürlich an die musikalische Situation, also an gewisse Klänge der Alpensinfonie von Richard Strauss. Nono vermittelt uns, dass wir doch schließlich wissen, was ein Übergang ist. Warum soll nicht ein neuer gelingen?

In meinem Bericht vom musikfest 2011 fehlt noch Gustav Mahler. Heute Abend höre ich seine Achte, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Simon Rattle. Am Dienstag oder Mittwoch nächster Woche schreibe ich darüber und auch über die Fünfte, die vorigen Sonntag gegeben wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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