Die ersten schriftlichen Quellen, in denen eine Kreuzigung bezeugt ist, sind über 3.000 Jahre alt. Es gibt diese Folter bis heute. In Europa zwar nicht mehr, aber Europa weiß noch, welche Rolle sie in seiner Herkunftszeit spielte, etwa aus den Komödien des Römers Plautus (um 254 bis um 184 v. Chr.) oder der Tragödie Der gefesselte Prometheus, die von vielen dem Griechen Aischylos zugeschrieben wird. Die Kreuzigung als Komödienstoff? Es fällt schwer, das hinzunehmen, besonders wenn man sich klarmacht, wie gegenwärtig sie noch ist. In manchen islamischen Staaten wird bis heute gekreuzigt. Meist in der Form, dass der Delinquent durch Steinigung oder Enthauptung getötet und dann zur Abschreckung tot ans Kreuz gehängt wird. So in Saudi-Arabien, wo man im vergangenen Jahr einen 21-Jährigen zur Kreuzigung verurteilte, weil er als 17-Jähriger beim Arabischen Frühling mitgelaufen war. Unterdessen hat der sogenannte Islamische Staat 94 Menschen im Jahr 2015 bei lebendigem Leib gekreuzigt.
Das ist nun wirklich nicht zum Lachen, und die antiken Plautus-Komödien sind es auch nur deshalb, weil das Kreuz dort im Hintergrund bleibt. Es ist aber da – und deshalb sind diese Komödien spannend für uns, denn sie zeigen das Kreuz als Element eines Herrschaftsverhältnisses. Aus unserer eigenen Erfahrung erkennen wir manches wieder: Verhältnisse, die scheinbar rein persönlich sind und doch eine verdeckte Herrschaftsseite haben.
Bei Plautus ist zwar immer klar, wer Herr und wer Sklave ist. Wenn sie sich aber besprechen, hat man oft den Eindruck, eine intime Freundschaft zu beobachten. So beginnt Plautus’ Pseudolus damit, dass der Sklave seinen jungen Herrn fragt, von welchem Kummer er so „jammervoll zerquält“ sei. Des Herren Qual ist, dass er eine Hetäre liebt und sie heiraten will; dazu müsste er sie dem Kuppler abkaufen, doch der Vater rückt das Geld nicht heraus. Seine einzige Hoffnung ist, dass der Sklave durch eine Intrige hilft. Der Sklave aber weidet sich erst einmal am Kummer des Jünglings und verhöhnt die Handschrift der Hetäre, die einen Liebesbrief geschrieben hat: „Haben denn auch die Hühner Hände?“ Der Jüngling ist wütend, nimmt den Spott aber hin. Nur die Intrige darf nicht scheitern! Das weiß der Sklave. Wenn’s schiefgeht, „dann haue mich mit Ruten“, sagt er, und er kennt auch die letzte Drohung: „Gelang ich nicht zum Ziel, so soll der Henker gleich ans Kreuz mich schlagen.“
Fürs Intime gilt eine Regel, die in Plautus’ Persa sentenzförmig ausgesprochen wird: „Meines Herren Instruktion heißt: Sklav im Dienst, im Reden frei.“ Dass Sklaven, die den Dienst versäumen, dafür mindestens gepeitscht werden, versteht sich für die Römer so sehr von selbst, dass sie darüber Witze reißen. Manche Metaphern, die Plautus auf den blutgefärbten Rücken dichtet, sind so widerlich, dass ich sie nicht zitieren mag. Übrigens wurde er darin von Karl May beerbt, der gern in „komischen“ Reden Hadschi Halef Omars schwelgt, die auf die sausende Peitsche gemünzt sind.
Schmerzhafte Scherze
Mit dem Entsetzen Scherze zu treiben ist kein Problem für Plautus, weil seine Figuren in einer Komödie auftreten. Da es gut ausgehen wird, darf ruhig vom Kreuz gesprochen werden, es wird ja nicht zum Einsatz kommen. So wird es, obwohl in der Realität der Antike nur allzu präsent, zur Redensart, die der Herrschende auch auf sich selbst beziehen kann. „Eines nur“, sagt ein Herr im Miles Gloriosus zum anderen Herrn, „zermartert mich und kreuzigt mich nach Seel und Leib“. Plautus, der als Dichter ja auch ein Herr ist, vergleicht sich im Pseudolus sogar selbst mit einem Sklaven, weil auch seine eigene Tätigkeit darin besteht, Intrigen zu erfinden. Ihn kreuzigen gleichsam die Buhrufe der Zuschauer.
Mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Link gesprochen, ist das Kreuz im alten Rom zu einem Kollektivsymbol geworden. Als solches hat es indes einen Gehalt, den eine wirkliche Kreuzigung nicht zeigt, weil ihr realer Schrecken das Denken lähmt. Das Kreuz steht zuvorderst für Immobilität. In Plautus’ Mostellaria wird das sehr deutlich, wenn ein Sklave sich wünscht, ein anderer möge statt seiner ans Kreuz geschlagen werden, „doch unter der Bedingung, dass / Er zwiefach sich Arm und Beine fest annageln lässt“. Doppelt hält besser.
Die Komödienform ist trotz allem kein Mittel, das Schreckliche zu verharmlosen oder gar zu verdrängen. Man muss, im Gegenteil, sagen, dass unter ihrem Schirm die attische Tragödie tradiert wird. Die hatte zunächst keine gleichwertige Fortsetzung gefunden. Aber in der römischen Komödie lebte sie fort. Bei Plautus kann der Sklave seinem jungen Herrn nur helfen, indem er dessen Vater betrügt – dem er eigentlich gehört. Kreuzigen lassen können ihn freilich beide. Vater und Sohn liegen im Streit miteinander, ohne dass einer dem anderen aber tödlich schadet. Der Sklave wird zur Inkarnation dieses Gegensatzes. So trugen in der Tragödie die Götter ihren Streit auf dem Rücken der Menschen aus.
Ratten und Existenzangst
Bei Plautus wird auch der Herr von einem körperlichen Schmerz heimgesucht, aber es ist ein vergleichsweise harmloser Schmerz: Ihn quält der Gegensatz von Liebe und Trieb, in die sich der Eros aufspaltet. Die geliebte Hetäre steht aus Mangel an Geld erst einmal nicht zur Verfügung. Der Trieb aber ist immer schon da und verkörpert sich im Sklaven. Von dessen Intrige hängt alles ab, ihr muss sich der Herr also unterordnen. Das hat wenigstens den Vorteil, dass er sich am Sklaven rächen kann, wenn oder solange der Eros nicht gefügig ist. Oder wenn das Geld nicht verfügbar ist, wie der Herr es will.
Eigentlich dreht sich doch alles nur ums Geld – ist es endlich herbeigeschafft, sind die Komödien an ihrem Ziel angekommen. Vermutlich waren sie auch aus diesem Grund beim antiken Publikum so beliebt. Denn die Figur des Kupplers, dem ein Jüngling also Hetären abkaufen kann, unter Beihilfe seines Sklaven, vertritt stillschweigend den Gläubiger mit, dem der Komödienzuschauer im realen Leben womöglich auch noch Geld schuldet.
Im heutigen Europa sind andere Schrecknisse an die Stelle des Kreuzes getreten. Etwa die Ratten, die wir aus George Orwells dystopischem Roman 1984 kennen. Sie haben in der modernen Vorstellungswelt dieselbe Herrschaftsfunktion wie einst das Kreuz. Weniger schrecklich, aber schlimm genug ist die heute allgegenwärtige Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. So wie es für Frauen, die noch im tradierten Modell der Einernährer-Ehe leben, also in vollständiger finanzieller Abhängigkeit von ihrem Gatten, eine Schreckensvorstellung ist, den Ehemann zu verlieren. Den Arbeitsplatz verliert man, wenn dem Boss das Geld mangelt, wenn er die Löhne nicht mehr bezahlen kann. Oh, er entlässt äußerst ungern! Steht man selbst auf der Liste oder nicht? Und um den Ehemann muss gekämpft werden, sollte er „zwischen zwei Frauen“ stehen. Doch wie macht man das am besten? Solche Verhältnisse machen immobil. Zugleich lassen sie doch noch einen minimalen Bewegungsspielraum offen, an den man sich klammert, weil man fürchtet, die Immobilität könnte total werden. Das Kreuz ist für uns heute nicht mehr das vertraute Bild für eine solche Lage. Vor 3.000 Jahren aber entfaltete ebenjenes Bild eine starke Wirkung: Gekreuzigte waren schon wie tot – die Toten fürchtete man. Und sie sollten das Totenreich um keinen Preis wieder verlassen können.
Prometheus, wie die Aischylos zugeschriebene Tragödie ihn darstellt, hielt sich nicht daran. Weil der Titan den Menschen das Feuer brachte, wird er zwar nicht direkt gekreuzigt, das Kreuz ist aber mitbeschrieben, wenn es heißt: „Doch den freudlosen hier wirst hüten du, den Fels, / Steilaufgerichtet, schlaflos, ungebeugten Knies.“ Es war üblich, auf Bergen zu kreuzigen, in Athen etwa zur Strafe für Diebstahl. Weiter heißt es: „Mit voller Wucht nun keil durchbohrendes Fußband fest!“ Der Angenagelte ist dennoch nicht unschädlich gemacht: Er weiß ganz genau, dass Zeus sich mit ihm ins Benehmen setzen muss, weil der sonst von Herakles gestürzt werden würde. So oder so steht ihm also die Befreiung bevor.
Kommentare 10
ab-schreckung, obrigkeitlicher terrorismus tat seine wirkung.
und ist heut noch nützlich, wo innere selbst-beherrschung nicht
ausreicht.
„Meines Herren Instruktion heißt: Sklav im Dienst, im Reden frei.“
lieber michael,
der satz hats in sich. woran erinnert er doch uns heute?
von den andern kreuzen versteh ich zu wenig. es war und es ist die macht der gewalt das kreuz überhaupt. ratten sind geradezu drollige tierchen dagegen.
Na, die Ratten bei Orwell sind nicht drollig. Kennst du den Roman? Ein anderes modernes Beispiel wäre übrigens noch die Egge bei Kafka.
Na, die Ratten bei Orwell sind nicht drollig.
habe ich ja auch nicht behauptet. im vergleich sind sie drollig.
Wahrscheinlich hast du recht. Mir fällt es nur schwer, da noch den Unterschied zu empfinden, zwischen dem Furchtbarsten und dem dann noch Furchtbareren, oder wie soll ich mich ausdrücken. Ich habe den Roman von Orwell gerade nicht zur Hand, bei Wikipedia wird die Stelle mit den Ratten so zusammengefaßt: „Er wird in das berüchtigte Zimmer 101 gebracht. Dort erwartet jeden Menschen seine persönliche Hölle. Da O’Brien von Winstons panischer Angst vor Ratten weiß, lässt er einen Käfig mit zwei ausgehungerten Exemplaren direkt vor Winstons Gesicht befestigen und droht damit, die Käfigtür zu öffnen. Um diese Gefahr abzuwenden, opfert Winston das letzte Gut, das ihm von seinem ursprünglichen Selbst noch geblieben ist: seine Liebe zu Julia. Er verrät sie, indem er O’Brien anfleht, diese Folter nicht ihm, sondern Julia anzutun.“
der hintergrund der grausamkeit ist ja mal wieder das system, das gesteuert wird von der herrschaft der psychopathen. bei denen gibt es sicher noch mal gradunterschiede. aber im wesentlichen tobt sich da etwas irres aus. mensch und macht verträgt sich nicht.
ratten finde ich persönlich nicht so garstig wie die meisten, die mit ratten nichts zu tun hatten. nach dem krieg waren ratten fast etwas normales. man konnte ihnen begegnen. man konnte sie beobachten. und das schönste für mich. eine stiefoma erzählte eine rattenstory zum bangemachen. angeblich fütterte die bäurin die schweine, als zwei ratten (wohl im auftrag der größten schweine) von der mauer der schweinebucht aus der bäurin ins gesicht sprangen und sich da festbissen, sodass sie wie eine besondere aufmachung dort hingen, als die bäurin schreiend die übrige hofgesellschaft alarmierte.
ratten, raben, wölfe und schlangen sind seit alters beliebte muster zur horrorstory. warum sollte orwell als literat das thema nicht nutzen?!
Ratten so rein als Tierchen finde ich auch eher drollig. In Berlin sieht man gelegentlich welche über U-Bahn-Gleise laufen. Für Winston sind sie Phobietiere, für mich nicht. Aber in mein Gesicht sollen sie sich nicht reinfressen...
könige und kanzler so rein als bühnenfiguren finde ich auch eher dekorativ. aber ihre überforderung als menschen im system der ungleichheit löst kein mitleid aus, sondern nur abscheu und ekel. in meine weltanschauung sollen die sich nicht einschleichen...
man sagt "hohe tiere" oder "große tiere", auch "übermenschen".
aus der froschperspektive...
(Könige und Kanzler? Wovon sprichst du, worauf beziehst du dich? Ich verstehe nicht...)
wir sind gestartet bei den possierlichen tierchen in der phantasie orwells. die drolligen kleinen ratten habe ich überdimensioniert zu ganz großen tieren, und das sind in der märchenlandschaft oder in den ländern voller wunder nun mal die großkopfeten. aus der niedlich- oder drolligkeit zur dekoration ist kein weiter sprung. wo doch die kleider, wie man von der 90-jährigen queen und dem kaiser weiß, eine besondere rolle spielen.
über die gar nicht drolligen ratten in der phantasie orwells ist es ein kleiner schritt zu den gar nicht so appetitlichen übergrößen der tierischen menschenwelt, den kaisern und kanzler/innen.
wir reden über die menschenmaschine (nach lewis mumford). da sitzt so ein ärmliches äffchen, das wahrscheinlich nur ein wenig kratzen und beißen kann, aber mit hilfe der großen maschine den größten gorilla zu bush meat zerkleinern kann.
das äffchen hat die menschenmaschine nicht erfunden. es ist nur per zufall vor der schalttafel gelandet und spielt damit. es sieht zwar die blinkzeichen der apparatur, weiß aber nicht, was die im einzelnen bedeuten. das nicht-wissen impliziert die grandiose gewissenlosigkeit.
seitdem denken und reden wir über nichts anderes mehr als über den ab- bzw. umbau der großen maschine.