Intelligenter als die CDU

Flüchtlingspolitik In Deutschland scheint Angela Merkel gegen ihre eigene Partei zu regieren. Dabei erkennt sie nur die Realität an und macht aus der Not eine Tugend
Ausgabe 42/2015
Spielt souverän mit den Hoffnungen anderer Parteien: Angela Merkel
Spielt souverän mit den Hoffnungen anderer Parteien: Angela Merkel

Bild: John MacDougall/AFP

Die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin können viele nicht fassen. Der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat ihre Politik als „geistesgestört“ bezeichnet. In Deutschland selbst scheint Angela Merkel gegen ihre eigene Partei zu regieren. Sie legt sich mit einem Schwergewicht wie dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer an und scheut nicht die Gefahr sinkender Umfragewerte. Der Linksparteipolitiker und thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow applaudiert ihr, es gibt andere Linke, die sie sich als Friedensnobelpreisträgerin vorstellen können. Sie selbst wird wissen, dass sie mit ihrer nicht gerade CDU-typisch erscheinenden Politik ihre Kanzlerschaft aufs Spiel setzt. So wie es einst Gerhard Schröder mit Hartz IV ergangen ist. Was spielt sie für ein Spiel? Oft ist über den kühlen Verstand der Naturwissenschaftlerin geschrieben worden. Hat er sie über Nacht verlassen?

Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Gerade jetzt zeigt sich, dass sie intelligenter ist als ihre Parteifreunde. Sie interpretiert den Diskurs der CDU zwar neu, aber sie verlässt ihn durchaus nicht. Wir können Menschen, die nach Deutschland flüchten, ohnehin nicht aufhalten, sagt sie – und hat einfach recht. Mögen sich Seehofer und andere noch so gern eine andere Welt zurechtlegen, in der es die neue Völkerwanderung nicht gäbe.

Was tut jemand, der die Realität anerkennt? Er versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Das ist Merkel gelungen. Ihre Politik steigert einerseits Deutschlands Ansehen in der Welt und läuft andererseits darauf hinaus, viel Handlungsdruck zu erzeugen, wobei wenigstens außenpolitisch auch klar ist, was er bewirken soll. Nämlich eine etwas andere Syrienpolitik des Westens und die Bereitschaft aller EU-Staaten, sich auf einen fairen Flüchtlingsverteilungsschlüssel einzulassen. Wenn Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, ihr „moralischen Imperialismus“ vorwirft, spricht er nur aus, dass Merkels Politik auch die deutsche Führung in der EU befestigt.

Innenpolitisch war es kühl gedacht, den Satz „Wir schaffen das“ in den Köpfen zu verankern. Sie übersetzt damit Barack Obamas Wahlkampfslogan „Yes we can“ und den spanischen Parteinamen „Podemos“ ins Deutsche. Souverän spielt Merkel mit den Hoffnungen anderer Parteien, ohne doch die Linie der eigenen zu vergessen.

An den innenpolitischen Parteigegensätzen hat sich ja gar nichts geändert: Während der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel mehr Staatsgeld für die Integration der Flüchtlinge verlangt, wollen Merkel und Parteifreunde die Anzahl der „sicheren Herkunftsstaaten“ erhöhen. Geändert hat sich nur, dass das heute nicht mehr so skandalös erscheint, weil sie eben bereit ist, viele Syrer einreisen zu lassen. So ist auch ihre Chance, die Grünen zur Koalition zu bewegen, noch einmal deutlich gestiegen. Und auch damit, dass sie Seehofers Idee nicht offen ablehnt, an deutschen Grenzen Transitzonen einrichten zu lassen, weist sie sich als klassische CDU-Politikerin aus.

Asylbewerber aus „sicheren Herkunftsstaaten“, die zuerst in solche Zonen gelangten, könnten schnell abgeschoben werden. Wenn nun selbst die Gewerkschaft der Polizei sagt, dass sie unrealisierbar sind, wird auch Merkel das wissen. Als Verhandlungsposition, um Staatsgeldpläne der SPD zu verhindern, ist die Idee aber tauglich. Wer wird nicht einräumen, dass das Kanzleramt schlechter besetzt sein könnte? Dennoch: Merkel bleibt Merkel.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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