Irgendwelche völlig unplastischen Tonfolgen

Musikfest 2017 Über ein befremdliches Motiv bei Sibelius

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Über Jean Sibelius zu schreiben, fällt mir nicht leicht. Seine zweite Symphonie (1901/02) war am Samstag und Sonntag auf dem Berliner Musikfest zu hören, gespielt von den Berliner Philharmonikern, ich war am Sonntag dabei. Auf dem Programm standen außerdem der Tanz-Walzer für Orchester op. 53 von Ferrucio Busoni und das Violinkonzert Nr. 2 von Béla Bartok mit dem hervorragenden Geiger Gil Shaham.

Beim Hören eines musikalischen Werks, und zumal eines tonalen, frage ich mich: Wovon spricht diese Musik? Eine Illustration von Wörtern ist sie sicher nicht, aber dass sie einen „Sinn“ hat, wird man immer unterstellen - einen Bereich möglicher Bedeutungen, die sie haben kann, und anderer, die sie nicht haben kann. Es ist zum Beispiel unmöglich, den vierten Satz der Fünften von Beethoven als Trauermusik zu hören, und der Umstand, dass ein zur Entstehungszeit bekannter Revolutionsmarsch in ihm verarbeitet ist, legt gewisse literarische Umschreibungen nahe, ohne dass deshalb diese Musik zur „Programmmusik“ würde. Wie aber könnte die Musik von Sibelius umschrieben werden? Das Eigenartige ist, dass man sie eigentlich sehr eingängig finden muss, es fällt leicht, sie anzuhören, aber dennoch weiß man erst einmal nicht, was man da hört. Nun ist gerade das ja nicht schwer zu verstehen, es ist eben, als hörte man einer fremden Sprache zu. Auch wenn man als Deutscher Italiener oder Franzosen sprechen hört, ist es leicht und sofort auch angenehm, auch wenn man der Sprachen nicht kundig ist. So etwas wie Fremdsprachigkeit gibt es auch in der Musik. Manche Wendungen des Tragischen bei Verdi klingen für deutsche Ohren, als sei etwas Lustiges gemeint. Was Sibelius angeht, er ist Finne gewesen und die Debatten gingen immer darum, ob und inwiefern seine Musik finnisch, ja finnische Nationalmusik sei.

Das Problem ist allerdings, dass man dann unterstellen müsste, er habe ein finnisch-nationales Idiom allererst geschaffen. Wie macht man das? Wie kann sich eine Musik als „finnisch“ definieren? Welches wäre denn die anerkannt finnische Gattung, der sie sich als Art einschriebe, oder wo der finnische musikalische Ursprung, von dem sich Sibelius‘ Musik als Fortsetzung erwiese? Wenn man Bartok nimmt, da lässt sich die Frage beantworten. Bartok hat ungarische Volksmusik studiert und analysiert und sich auf seine Art auf sie bezogen. Bei Sibelius muss man wohl anders fragen. Wenn man bei ihm Volksmusikanklänge findet, dann solche, die sich auf russische Lieder beziehen. Übrigens hat er selbst sich einmal beklagt, seine Musik werde nicht verstanden (ich finde das Zitat gerade nicht). Dass sie „national“ sei und auch sein soll – dass dies mindestens zu ihren Dimensionen gehört -, daran kann kaum gezweifelt werden. Schon seine Serie von Tondichtungen, deren eine „Finlandia“ genannt wird, legt das nahe. In manchen bezieht er sich auf finnische Mythen. Aber damit ist noch nichts über die Eigenart der Musik gesagt.

Auch gerade die zweite Symphonie hat bei Sibelius‘ frühen Anhängern als eine Art nationales Manifest gegolten. Man gab ihr den Namen „Finnlands Freiheitskampf“ und „ordnete den mutmaßlichen ‚Leitmotiven‘ Begriffe aus der Nationalbewegung zu, etwa Sehnsucht, Kampf, Vaterlandsliebe und Erweckung“ (Glenda Dawn Goss im Booklet der Einspielung von Simon Rattle 2015). In der deutschen Rezeption wurde das noch von Adornos hasserfülltem Verdikt überlagert. Ausgehend von der Vorstellung der nationalistischen Anhänger, Sibelius stelle die finnische Natur dar, das Land der Seen und Wälder, schreibt er: „Der große Pan, je nach Bedarf auch Blut und Boden, stellt prompt sich ein. Das Triviale gilt fürs Ursprüngliche [...].“ (Glosse über Sibelius, in Impromptus, Frankfurt/M. 1968, S. 88-92, hier S. 90) Blut und Boden? Weil Alfred Rosenberg ein Sibelius-Fan war? Fatal der Zeitpunkt, zu dem man das las; die „Glosse“ wurde 1938 geschrieben und erstmals in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht, jetzt aber, 1968, war der Autor bekannt geworden und schworen viele auf sein Wort, auch auf dieses des Fünfunddreißigjährigen. Während Sibelius in der angelsächsischen Welt von Anfang an und bis heute gern gehört und viel gespielt wird (wovon gerade Rattle zeugt, dessen Lieblingskomponist er geradezu ist; zwei Gesamteinspielungen liegen vor, die erste von 1991), wurde er im Nachkriegsdeutschland lange kaum jemals aufgeführt, besonders nachdem Adornos Sätze bekannt waren: „Das sieht so aus: es werden, als ‚Themen‘, irgendwelche völlig unplastischen und trivialen Tonfolgen aufgestellt, meistens nicht einmal ausharmonisiert, sondern unisono mit Orgelpunkten, liegenden Harmonien und was sonst nur die fünf Notenlinien hergeben, um logischen akkordischen Fortgang zu vermeiden.“ (S. 88)

Heute ist die Situation anders. Man entdeckt zukunftsweisende Momente in dieser Musik und ein Wolfgang Rihm ist von ihr beeindruckt. Sibelius‘ „Art, musikalische Räume zu schaffen, ist sehr progressiv. Solche Räume können ähnlich wie bei Edward Grieg landschaftliche (und ‚nordische‘) Assoziationen hervorrufen, aber auch abstrakte Raumvorstellungen sind möglich.“ Rihm „[diskutiert] seine ‚Lieblingssymphonie‘, Sibelius‘ Vierte, mit seinen Meisterschülern als Beispiel für [...] äußerst raumsensible Klangfindung“ (Tomi Mäkelä im Booklet der Rattle-Einspielung 2015) Von hier ausgehend kann man den unbefangenen Blick auf Sibelius gewinnen. Es ist zwar möglich, seiner Musik eine nationale Bedeutung zuzuschreiben, wie er selbst es getan haben wird, doch andere Zuschreibungen sind ebenso möglich, und nicht nur „abstrakte“. Wenn man zum Beispiel die Einspielung des damals 36jährigen Rattle von 1991 hört, hat man den Eindruck, man wohne dem existenziellen Ringen eines Jugendlichen bei.

Und das ist überhaupt ein interessanter Punkt. „Nationalistische“ Musik, die in einem um nationale Selbstbestimmung ringenden Land geschrieben wird, hat wohl immer den Charakter gehabt, in tragischen Tönen Betrübnis, Hoffnung, Sehnsucht und Kampf anklingen zu lassen. Das ist auch bei Dvorak und Smetana nicht anders, nur dass dieser sich auch noch auf eine heroische nationale Vergangenheit berufen konnte, auch musikalisch sogar (die Hussiten und ihr Choral), was in Finnland nicht möglich war. (Deutsche nationale Musik war naturgemäß anders: Richard Wagners Ring des Nibelungen verdichtet das Germanische mit der attischen Tragödie, womit der auch von anderen erhobene Anspruch bekräftigt wird, Deutschland sei Nachfolger der griechischen Kultur und damit die europäische Führungsmacht.) Das Schema Betrübnis, Sehnsucht und Kampf passt aber genauso gut auf jeden Jugendlichen, der seine Rolle im Leben noch nicht gefunden hat, ja mehr noch, es dürfte dort und nur dort seinen Ursprung haben, denn ein Land für sich genommen, seine Seen etwa oder eine Gesamtbevölkerung, ist als solche nicht sehnsüchtig. Ein Land ist kein Individuum; nur ein Individuum kann sich in dem Schema bewegen, das Land kann allenfalls zu dessen Metapher gemacht werden. Dann aber scheint es sogar angemessen, in einer Musik, die sich auf die Metapher bezieht, eher das individuelle verbum proprium zu hören. (Dieselbe Überlegung wäre auch auf Revolutionsmusik zu beziehen.)

„Die Idee vom ‚patriotischen‘ Gehalt dieser [der zweiten] Symphonie überzeugt viele Zuhörer wohl auch deshalb, weil Sibelius‘ Gestik in dieser Schaffensphase bis 1905 noch pompöse Details enthält, die später verschwinden“, schreibt Mäkelä in seinem Buch Jean Sibelius und seine Zeit, Laaber 2013. Ein solches Werk, das „auch lyrisch pastoral wirken kann, heute ‚patriotisch‘ zu nennen, schränkt das ästhetische Empfinden jedenfalls unnötig ein.“ (S. 155)

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Das Formale der zweiten Symphonie sei mit den Worten Robert Laytons skizziert (im Booklet der Einspielung von Herbert Blomstedt, Gesamtveröffentlichung 2006): „Die Themen [hängen] stärker organisch zusammen als in jedem anderen seiner frühen Werke [...]. Drei der vier Sätze sind in Sonatenform gehalten: der erste ist so subtil, dass wenige Kommentatoren sich darüber einig sind, wo das zweite Thema beginnt. Der zweite Satz ist eine Art klassisches Adagio in Sonatenform, doch ohne Durchführung! Das Scherzo ist [...] vom Vorbild in Beethovens Siebter angeregt. Sibelius wiederholt das Trio. Doch anstatt mit der Wiederholung des Hauptteiles zu schließen, komponiert er vielmehr eine Verbindung zum Finale, ebenfalls einer umfassenden Sonatenform.“

Die Themen des ersten Satzes sind das eigentlich Interessante, eines vor allem, wie es sich über die ganze Symphonie entwickelt oder in Anklängen erhalten bleibt. Noch im zweiten Satz ist dieses Thema in mehreren Varianten sehr deutlich präsent und ich meine, dass sich von daher die von Layton genannte Merkwürdigkeit klärt, dieser zweite Satz sei eine Sonatenform ohne Durchführung. Nein, er ist selbst im Ganzen eine weitere Durchführung des ersten Satzes. Das Thema, von dem wir sprechen, wird von Gerth-Wolfgang Baruth als „einprägsames Seitenthema“ bezeichnet und er sagt, es werde „die treibende Kraft des [ersten] Satzes“: „Es ist übrigens ein typisches Beispiel für die eigenwillige Struktur der Motive bei Sibelius. Auf einen langgezogenen Ton folgt hier eine kurze Passage, die aus dem raschen Wechsel einer großen Sekunde besteht und über die Terz in die Septime abfällt.“ (Konzertführer, Frankfurt/M. 1960, S. 134) Der langgezogene Ton geht beim ersten Erscheinen über dreieinhalb Sechsvierteltakte, dreimal wechselt dann die große Sekunde (Achtelnoten), um die fallende Terz anzukündigen (stark betonte Viertelnote, die sogleich weiter herabfällt).

Das gibt nun in der Tat einen Höreindruck, der so „einprägsam“ wie höchst befremdlich ist. Es ist klar, dass Adorno solche Fremdheit empfunden hat. „Irgendwelche völlig unplastischen und trivialen Tonfolgen“: Damit legt er ja offen, dass es nicht eigentlich eine Unfähigkeit des Komponierens ist, die ihn, wie er behauptet, an Sibelius stört, sondern er versteht ganz einfach nicht, wovon diese Musik denn spricht. (Er behandelt nicht speziell die zweite Symphonie, die aber insofern typisch und ein zugespitzter Fall ist.) Vielen und auch mir, wie gesagt, ist es ja so ergangen. Eine Teilerklärung, aber wirklich nur das, könnte darin liegen, dass finnische Wörter (ich weiß nicht, ob meistens oder immer) auf der ersten Silbe betont werden. Doch hört man jenen Anfangston mit seiner Überlänge nicht nur als betonten, sonders auch und vor allem als Beginn eines langen und sehr seltsam geformten Anlaufs. Die eigentliche Betonung liegt auf der gefallenen Terz.

Ich sehe zwei Erklärungen für diese Figur, die wie gesagt die ganze Symphonie beherrscht. Die erste ist die intertextuelle. Womit kann man die Figur vergleichen? Am ehesten mit dem Seitenthema von Dvoraks Symphonie Aus der neuen Welt. Die beiden Symphonien haben tatsächlich etwas gemeinsam: Sie sind beide im Ausland geschrieben, der Tscheche Dvorak schreibt in den USA, der Finne Sibelius in Italien. Beide werfen von dort aus, und das gilt auch musikalisch, einen Blick auf ihr Heimatland. Das ist wichtig, um das „Nationale“ bei Sibelius zu erfassen: Er schreibt es ein in die universell-europäische Musik. Das tut er, wie man an seinen Äußerungen belegen könnte, ganz bewusst. Wenn man diese Musik als nationale hört, dann folgt sie jedenfalls einem Nationen-Konzept, das mit dem im 19. Jahrhundert entstandenen aggressiven Nationalismus nichts gemein hat. Es hat vor diesem Konzept ein anderes gegeben, in dem sich die Nationen als Kinder ein und derselben Familie sehen. (Bei den Intellektuellen freilich nur, aber die haben die „Nation“ erfunden.) Dem wäre Sibelius zuzuordnen.

Die zweite Erklärung, die vom inneren Ablauf der Symphonie ausgeht, kann das aufnehmen. Mir scheint, dass die Figur eher ein vorausgeworfener Schatten als ein Anfang ist. Den Anfang sehe ich im Thema des vierten Satzes, das gar nicht ungewöhnlich klingt und auch nicht schwer verständlich ist: eine pathetisch wogende Phrase à la Tschaikowski, gelegentlich überlagert von einer raschen Achtelkette auf unveränderter Tonhöhe. Die Figur im ersten Satz ist wie eine noch unentschiedene Vorahnung dieses Endes, in dem der musikalische Fluss gleichsam seine eigene ganz spezifische Mündung ins europäische Meer finden wird. Unentschieden insofern, als da ein Anlauf ist, der vor allem als Anlauf in Erinnerung bleibt, man könnte sagen als ein Schweben, das noch nicht weiß, wohinunter es im Begriff ist zu fallen. Als dieses Schweben strahlt die Figur im ganzen ersten Satz Optimismus aus, nimmt aber im zweiten eine massive Düsternis an (Sibelius verarbeitet hier Skizzen einer ursprünglich geplanten Musik zu Don Juans Tod, was notabene ein individualistisches Sujet ist), um, nach dem gespenstischen Scherzo, in die finale Zufriedenheit des vierten überzugehen. Insgesamt erinnert mich der Ablauf am ehesten an das Klavierkonzert von Hans Pfitzner, und damit an ein sicher nicht nationalistisches sondern individualistisches Werk (obwohl Pfitzner Nationalist, wenn nicht Nazi ohne Parteimitgliedschaft war). Ich meine nicht die Themen oder die Textur, sondern diesen Ablauf Optimismus-Depression-Zufriedenheit. Genauer gesprochen den Umstand, dass die Depression musikalisch als pure Kehrseite des Optimismus erscheint. Es ist, als ob man einen Optimismus nur sorgfältig genug analysieren muss, um auf Depression als ihren Kern zu stoßen, und nur dann, nach einem solchen Durchgang, zur Zufriedenheit finden kann.

Die Symphonie wurde von den Berliner Philharmonikern gespielt, die Leitung hatte Susanna Mälkki, eine Finnin. Sie machte die Klangwuchten des Werks hörbar - es hat etwas von aneinander sich reibenden Eisschollen -, machte es wohl auch besonders durchsichtig, denn ich jedenfalls habe es nachher besser begriffen als vorher, und wurde zu Recht vom Publikum gefeiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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