Ives und Beethoven

Musikfest 2012 Weiter über die Vierte von Ives. Wie Ingo Metzmacher dirigiert, bringt er auf Gedanken

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Ich hatte mich gestern mit dem zweiten und dritten Satz von Charles Ives' 4. Sinfonie befasst. Man kann sie mit Henry Bellamann als sehr verschiedene "Antworten" auf die vom ersten Satz gestellte "Frage" nach der "Bedeutung von Existenz" verstehen, derart dass der zweite zeigt, wie es die Puritaner machen - unbequem pilgern sie durch die Sümpfe des Lebens, während andere hoch zu Ross oder faul mit der Eisenbahn an ihnen vorbeiziehen -, der dritte aber, mit seiner Fuge, eher europäisch konnotiert ist. Indem wir der Idee des Dirigenten vom Samstag, Ingo Metzmacher, gefolgt sind: der Übergang zum dritten Satz höre sich an, als trete jemand aus dem Lärm der Straße in die Stille eines Kircheninnenraums, hat sich uns zu erschließen begonnen, dass es noch mehr Beziehungen zwischen den Sätzen gibt als die, dass der zweite, dritte und vierte auf den ersten reagieren.


Letztlich schimmert doch das europäische Sinfoniemodell durch. Besonders mit der Neunten von Beethoven ist der Ablauf der Vierten von Ives vergleichbar. Auch von Beethovens erstem Satz lässt sich sagen, dass er die existenzielle Frage aufwirft, auch hier folgt der langsame Satz an dritter Stelle statt, wie sonst meistens üblich, an zweiter. Die zweiten Sätze von Beethoven und Ives ähneln sich musikalisch in keiner Weise, doch kann man beide erregt nennen. Und nun achten wir besonders auf den letzten Satz. Beide Komponisten legen ihn so an, dass er mit der Erinnerung an die vorausgegangenen Sätze beginnt. Auch lassen beide in ihm einen Chor erklingen. Er beherrscht allerdings bei Ives nicht, wie bei Beethoven, den ganzen Satz, sondern singt nur am Ende. Und anders als bei Beethoven singt er bei Ives auch schon am Ende des ersten Satzes.


Lässt man den Vergleich im Allgemeinen gelten, dann wird uns ein besonderer Vergleichspunkt am meisten interessieren. Wir finden bei Ives im letzten Satz das merkwürdige Phänomen, dass er die Schlusswendungen mitten drin präsentiert und nicht erst am Ende. Ein dunkles, nicht schnelles Gewoge voller Pathos, das sind für mich die Schlusswendungen. Ihnen schließt sich eher leise und verhalten der Chor an, der vom ewigen Leben singt. Dem Chor folgen noch ein paar leiseste Instrumentaltöne, mit denen die Musik buchstäblich verdämmert. Dieser Ablauf lenkt unsern Blick darauf, dass eigentlich auch Beethovens letzter Satz ein Ende in der Mitte neben dem an Ende hat, da nämlich, wo "der Cherub vor Gott steht" und eine Generalpause folgt. Gewiss ist das kein Ende in den Sinn, dass die Musik wieder bei ihrem Grundton angelangt wäre, es ist vielmehr ein Akkord, der uns überrascht und nach dessen Auflösung wir fragen. Aber eine solche folgt natürlich nicht, da über "Gott" nicht hinausgeantwortet werden kann. Insofern ist es wirklich ein Ende und kann vom Ende am Ende, das mit rauschhafter Beschleunigung und wiederholten Schlussschlägen doch eher konventionell gehalten ist, nicht mehr übertroffen werden. Ja, so können wir unterscheiden: Ende ist nicht gleich Ende, denn dem konventionellen Ende tritt das absolute gegenüber oder hebt sich von ihm ab.


Dass Ives ohne Schlussschläge auskommt, wie man sie in so vielen Sinfonien des 19. Jahrhunderts findet, ist wunderbar. Eine boshafte Freundin hat zu ihnen bemerkt, sie hörten sich alle an, als werde eine Katze so lange gegen die Wand geschlagen, bis sie endlich tot ist.


Während ich dies niederschreibe, fällt mir ein weiterer Zusammenhang auf. Mehrere Male schon, weil es mich besonders fasziniert, habe ich in meinem Musikblog oder in der Zeitung über analoge musikalische Zusammenbrüche in Sinfoniesätzen verschiedener Komponisten geschrieben: wie sich die Musik in katastrophische Dissonanz steigert, abbricht und Schweigen hinterlässt, dann zögernd wiederbeginnt. So im zweiten Satz von Schuberts Neunter, im dritten der Neunten von Bruckner, im ersten der Achten vom Schostakowitsch. Das Modell all dieser (Aus)brüche finden wir doch wohl im Beethovenschen "steht vor Gott". Ives aber folgt diesem Modell anders. Sein Schluss mitten im Satz ist nicht katastrophisch, wie auch nicht bei Beethoven, und er schließt keine Generalpause an. Bei Beethoven übrigens ist die Pause nur kurz, nur so, dass "Gott" uns betroffen macht und wir nicht gleich zur Tagesordnung übergehen können (die "Gott" gerade über den Haufen geworfen hat); es ist keine Pause wie bei Schubert und Bruckner, wo wir ins metaphysische Nichts zu fallen meinen. Der Gesang, der bei Beethoven folgt, lässt sich als Gesang post mortem interpretieren: "Froh, wie seine Sonnen fliegen, laufet, Brüder, eure Bahn", man ist hier schon in den Himmel versetzt als Stern - und so auch bei Ives.


Ich habe ausführlich verglichen, um eine bestimmte Art, Musik zu hören, nicht nur deutlich zu machen, sondern (dadurch) auch zu relativieren. Denn natürlich muss man Musik nicht "struktural" hören, wie ich es tue und hier aufgeschrieben habe. Es geht auch anders. Ein mögliches Missverständnis will ich ausschließen: Ich behaupte nicht, Ives selbst habe den Bezug zu Beethoven herstellen wollen. Vielleicht wollte er, doch ich kann es nicht wissen und brauche es auch nicht zu wissen. Auch wenn er gar nicht an Beethoven dachte, offenbart der Vergleich etwas von der Botschaft seiner Komposition. Ingo Metzmacher hat die Sinfonie eindrucksvoll dirigiert. Ob Briten oder Amerikaner sie organischer darbieten würden als er, vielleicht in der Art eines wirren, aber nahtlosen Traums, kann ich nicht beurteilen. Metzmacher hat eher die Brüche betont. Durch ihn bin ich auf das "Ende mitten im Satz" überhaupt erst aufmerksam geworden.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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