„Iwan Grosnij“ von Eisenstein und Prokofjew

Musikfest 2016 Zwei sowjetische Künstler produzieren eine Oper, um mit den Mitteln der Kunst das Phänomen Stalin zu begreifen

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Der Film „Iwan Grosnij“ von Eisenstein und Prokofjew versucht, Stalin auf dem Umweg über Iwan künstlerisch zu begreifen
Der Film „Iwan Grosnij“ von Eisenstein und Prokofjew versucht, Stalin auf dem Umweg über Iwan künstlerisch zu begreifen

Foto: GENT SHKULLAKU/AFP/Getty Images

Die Vorführung des berühmten sowjetischen Films unter Ausklammerung der ihm eingeschriebenen Musik von Sergej Prokofjew, die das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel, der Rundfunkchor Berlin (Choreinstudierung Rustam Samedov) und einige Gesangssolisten (Marina Prudenskaja und Alexander Vinogradov, Anne Bretschneider, Judith Simonis und Roksolana Chraniuk) von außen dazugaben, vor und neben der Leinwand, die an der Frontseite des Konzertsaals aufgespannt war, war für mich der Höhepunkt des Musikfests überhaupt – und die Länge dieses ersten Satzes, den ich mir erlaube, lasse man mir durchgehen als Andeutung der Dimension des Erlebnisses. Es war der letzte Sommertag, auch –abend in Berlin, wo man in der dreiviertelstündigen Pause der insgesamt vierstündigen Veranstaltung vom Parkett aus die breite Treppe zum Gendarmenmarkt herabstieg, um zu reden, zu flanieren, vielleicht auch wieder mal einen Blick aufs Schiller-Denkmal in der Mitte des Platzes vor dem Konzerthaus zu werfen, um das herum bald wieder der Weihnachtsmarkt aufgebaut werden wird. Kein Vorführungsort hätte geeigneter sein können, denn der Abend machte Geschichte erlebbar.

Wohnte man doch in gewisser Weise der Welturaufführung des Films bei, der unter dem Namen Iwan der Schreckliche bekannt ist, obwohl Iwan Grosnij eher so viel wie „Iwan der Strenge“ bedeutet, denn so wurde er, vielleicht ein Euphemismus, zu Lebzeiten genannt. Der Welturaufführung insofern, als die Musik für den Film ganz wesentlich ist, bisher aber und auch dem sowjetischen Uraufführungspublikum der Jahre 1944 (Teil I) und 1946 (Teil II) nur schlecht von der Filmtonspur übertragen wurde. Das war ein seltsames Gefühl, Adressat von künstlerischen und ja auch politischen Botschaften zu sein, die den Sowjetbürgern unter Stalin im Zweiten Weltkrieg galten. Die erlebte Musik machte diesen Zeitsprung besonderer Art nicht nur möglich, sondern erzwang ihn auch geradezu, denn wie hätte man der emotionalen Wucht der Klänge widerstehen können, ja widerstehen wollen?

Im Übrigen hat Strobel sie nicht nur ohne dazwischentretenden Lautsprecher dargeboten, sondern auch überhaupt erst vollständig, oder vollständiger als bisher, zur Kenntnis gebracht. Eine CD-Einspielung mit dem Versprechen, „The Complete Music for Eisenstein’s film“ zu sein, liegt zwar seit 2000 vor (Tchaikovsky Symphony Orchestra unter Vladimir Fedoseyev, Nimbus Rec.), doch wurde da nur Prokofjews Partitur benutzt, während Strobel außerdem die Musik der Tonspur verwertet, die teilweise abweicht und zusetzt. Da man weiß, wie Eisenstein und Prokofjew zusammenarbeiteten, musste man das tun. Sie hatten schon Alexander Newski gemeinsam produziert (1938): Eisenstein gibt Prokofjew eine Skizze der nächsten Szene, die gedreht werden soll, der komponiert dazu über Nacht und Eisenstein passt dann wieder die szenische Handlung, was Einzelheiten angeht, der Musik an. Das Verfahren in Iwan Grosnij war ganz ähnlich und war in manchen Szenen mit Händen zu greifen, zum Beispiel wenn sich in den Pausen eines Wortwechsels eine musikalische Figur fortspinnt.

Nach diesem Verfahren sind ja oft Opern komponiert worden, sowohl wenn Komponist und Librettist zwei Personen waren als auch wenn sie, wie bei Richard Wagner, in einer Person zusammenfielen. Und ja, es wäre untertrieben zu sagen, Iwan Grosnij sei entstanden wie eine Oper: Es ist eine Oper, ganz wie man umgekehrt gesagt hat, dass mit Wagner eigentlich schon die Geschichte des Films beginne. Wagner war denn auch eine Referenz für Eisenstein und man wundert sich nicht, dass ihm die Inszenierung der Walküre in Moskau zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts anvertraut worden war. Wahrscheinlich lebte Eisenstein noch weit mehr in dieser Welt als andere – ich sage es vorsichtig, weil ich in der Filmkunst Laie bin und keinen Überblick habe. Schon die Grundanlage des Films stimmt ja mit Wagners „Musikdramen“ darin überein, dass sie eine nationale Vergangenheit, die bei diesem meistens mythisch, bei Eisenstein zum Mythos vergrößert und umgebogen, man könnte auch sagen verfälscht ist, in der Art der griechischen Tragödie zur Darstellung bringt. Über Iwan, den Moskauer Fürsten, der sich im 16. Jahrhundert zum Alleinherrscher über ganz Russland macht, dabei die „Bojaren“, Adelsfamilien, absolutistisch auszuschalten bestrebt ist, wären auch ganz andere Filme vorstellbar. Hier haben wir es mit einem einsamen Helden zu tun, der sich über die ganze Handlung beider Teile des Films hinweg einer bojarischen Gegenspielerin konfrontiert sieht, einer Mutter mit hartem Gesicht, die unbedingt ihren leicht schwachsinnigen Sohn auf dem Zarenthron sehen will und deshalb nicht nur den Aufstand vorzubereiten versucht, sondern auch Iwans Frau vergiftet, damit seine Einsamkeit noch größer sei. Wagner hätte noch die Götter hinzugefügt, die im Jenseits die Strippen ziehen – man denkt an Hippolytos, der zwischen zwei Mühlsteine gerät, Artemis und Aphrodite -, dann wäre die antike Reminiszenz perfekt.

Kaum kann ein Zweifel daran bestehen, dass dies ein Film über Stalin ist, und das ist es, was ihn im Grunde sehr rätselhaft macht. Die oft zu hörende, auch im Programmheft vertretene Vorstellung, hier hätten mutige Künstler versteckte Kritik an Stalin dem Schrecklichen geübt, scheint mir viel zu einfach zu sein. Versteckt war doch hier gar nichts. Der Höhepunkt von Stalins Terror, 1937, lag nur wenige Jahre zurück. Andererseits werden die Russen doch gewusst haben, wer Iwan IV. war, wie grausam er agierte, auch dass er sich schon gleichsam eine stalinistische Polizei aufgebaut hatte, die Opritschniki, von denen ich bei Wikipedia lese, dass sie „große Furcht aus[lösten], wozu auch bereits ihr Äußeres geeignet war. Sie waren in schwarze Umhänge, ähnlich den Mönchskutten, gekleidet und trugen einen Besen und einen Hundekopf als Insignien. Der Besen symbolisierte den ‚Reinigungsauftrag‘“ – man kann ihn mit den „Fasci“, Rutenbündeln, der Anhänger Mussolinis vergleichen -, „der Hundekopf galt als Symbol der Wachsamkeit und Unterwürfigkeit, des blinden Gehorsams Zar Iwan IV. gegenüber. Im Auftrag der Opritschnina wurden Mitte des 16. Jahrhunderts viele Adlige, Metropoliten und Bürger getötet, sowie Kirchen, Klöster und Besitztümer geplündert. So sollen bei einem mehrwöchigen Gemetzel in Nowgorod an die 30.000 Menschen umgekommen sein.“ Diese Truppe kommt im Film vor und es entsteht der Eindruck, sie sei irgendwie aus dem Volk hervorgegangen, das Iwan zur Seite springt, um ihn vor den Bojaren zu schützen; ein Gemetzel wird nicht gezeigt, dafür eine Art Karnevalsfest, wo sie mit dämonischer Wildheit tanzen.

Jedem musste klar sein, was da verhandelt wurde. Zudem wird man sicher bei den Bojaren, die ihren Großgrundbesitz über die Einheit und Unversehrtheit des Vaterlands stellten, das für Iwan (angeblich) über alles ging, an die „Kulaken“ gedacht haben, das erste Opfer des Stalinschen Terrors. Nun muss man aber versuchen, sich in die Zeitumstände zu versetzen: „Terror und Traum“, wie das lesenswerte Buch Karl Schlögels heißt (München 2008), waren ineinander gewoben – traumhafter Aufbau des Sozialismus, Terror als Kehrseite –; Stalins Verhältnis dazu scheint man sich nach dem Muster „Wenn das der Führer wüsste“ vorgestellt zu haben. Wozu es ja eigentlich passt, dass der Film so sehr hervorhebt, wie Iwan unter seiner Einsamkeit leidet. Und wenn man an Bulgakow denkt: Den Terror stellt er in seinem Roman Der Meister und Margerita aufs Schrecklichste dar, zugleich hofft er aber, Stalin würde ihn zum freundschaftlichen Gespräch einladen. Ein solches Gespräch hat zwischen Eisenstein und Stalin tatsächlich stattgefunden, nachdem der zweite Filmteil von der sowjetischen Presse hart kritisiert worden war. Die beiden einigten sich, dass Eisenstein auch noch den geplanten dritte Teil drehen und Einiges vom zweiten Teil darin einbauen sollte. Es kam nicht mehr dazu, weil Eisenstein 1948 starb.

Ich denke, dieser Film, der sich mit Stalin auf dem Umweg über Iwan beschäftigt, ist weder eine Kritik noch eine positive Würdigung Stalins, sondern versucht einfach auf dem Weg der Filmkunst, ihn zu begreifen, künstlerisch zu begreifen. Kunst begreift aber, indem sie Intertextualität zu vorausgegangener Kunst herstellt, auch zu früheren historischen Geschehnissen, die ihrerseits in Kunst übersetzt werden, damit sie der Intertextualität zugänglich sind. So habe ich im vorigen Jahr einen eindrucksvollen Vortrag der Kunstwissenschaftlerin Kathrin Hoffmann-Curtius gehört über Versuche, das Geschehen in den Nazi-KZs auf Gemälden festzuhalten, dabei auch zu verarbeiten: Auch wenn es Gemälde überlebender Opfer waren, mussten diese immer versuchen, ein schon vorhandenes Bildmuster zugrunde zu legen, um das, was sie selbst sagen wollten, als Abweichung vom Tradierten zur Geltung zu bringen – was in diesem Fall gar nicht gelingen konnte. Ein anderes Beispiel, das nahe an den Film heranführt, wäre Goethes Komposition der Klassischen Walpurgisnacht (zweiter Akt von Faust II), wo mindestens vier Schichten übereinanderliegen, die Französische Revolution, deren von Goethe geahnten Folgen bis hin zur Künstlichen Intelligenz, deren Vorläufer, als welchen Goethe die Entscheidungsschlacht zwischen Caesar und Pompeius auf den Pharsalischen Feldern ansieht, und zuunterst noch einige damit synchronisierbare Momente der allerältesten griechisch-mythischen Schicht wie die Daktylen, Phorkyaden und so weiter.

Auch Eisensteins Verfahren begreift man wohl besser als Überdetermination ganzer Schichten, die sich vom Anfang bis Ende eines Films durchhalten, denn als gelegentliches Hervortreten einzelner Metaphern. Die sind sicher das Erste, was auffällt und davor noch sich eingräbt, unbewusst, im Geist des Zuschauers. So ist es mir ergangen, der ich den Film vor Jahrzehnten schon einmal gesehen habe; die Musik von der schlechten Tonspur machte damals keinen Eindruck, weshalb auch der Film im Grunde langweilig war – während man ihn jetzt, wo die Musik sich entfalten kann, emotional kaum durchsteht -, aber die Schlussmetapher des ersten Teil (ich denke, dass damals nur der erste Teil gezeigt wurde) blieb unvergesslich: Iwans Gesichtsprofil auf der einen Hälfte der Leinwand, das durch die Steppe zu ihm hinpilgernde Volk, ein endlos schlängelnder Zug von weit, weit oben gesehen, denn Iwan sieht sie vom Hügel herab auf sich zukommen, auf der anderen. Es ist das Volk von Moskau, das ihn auffordern wird, die Macht zu übernehmen, und es ist ein Bild, wie es wohl Moses zu sehen gewünscht hätte, als er vom Sinai herabstieg. Unmittelbar sehen wir eine Metapher, die Iwan mit dem Volk gleichsetzt, indem sein Kopf und die Prozession geometrisch zwar entgegengesetzt sind (Kreis und Linie), aber größenmäßig einander entsprechen. Eisenstein wollte ja die Massen, nicht die Individuen als Akteure auf die Leinwand bringen (was Stalins Kunstwächtern gar nicht gefiel) und musste daher versuchen, Iwan als Exponent des Volkes zu zeichnen - musste daher auch Stalin als einen solchen begreifen. Aber damit erschöpft es sich eben nicht; diese Metapher ist nur ein Faden in Geweben, die den Film insgesamt ausmachen.

Da spiegelt sich, was ungesagt bleibt, aber gewusst wird, der ganze stalinistische Komplex in Iwans Geschichte und dann noch einmal diese Geschichte, was zu sehen ist, in der christlichen Religion, vor deren Hintergrund sich alle Akteure bewegen. Und schließlich noch all das, um die Polyphonie zu vollenden, in Prokofjews Musik. Die christliche Schicht ist ununterbrochen präsent durch die Ikonen, an denen die Akteure in ihren düsteren Hallen vorbeilaufen oder vor denen sie sich aufstellen. Was sind das für Ikonen – es können nur welche sein, die Eisenstein erfunden hat. Sie zeigen ein Christusgesicht mit harten Späheraugen, als habe der Heiland zur Tscheka gehört, einmal auch einen Heiligen, der offenbar das Grauen sieht, so dass man sich fragt, ob es denn noch einen Unterschied gibt zwischen Himmel und Hölle. Prokofjews Musik aber arbeitet sowohl das Christliche als auch Iwans Bruch mit der Kirche gebührend heraus. Für Iwan, er sagt es so, sind „heilig“ und „gnadenlos“ dasselbe und für Prokofjew ist das Christliche, das er gut beschwören kann, darüber nicht erhaben. Alles zusammengenommen erscheint Stalin als Element einer Häresiegeschichte des Christentums, was er ja vielleicht auch wirklich gewesen ist.

Ich kann nicht weiter ins Einzelne gehen, schon aus Zeitgründen nicht, aber auch weil dieses „Gesamtkunstwerk“ eine detaillierte Analyse erfordern würde und ich die Literatur, die es dazu schon gibt, nicht kenne. Nur ein paar Eindrücke aus unmittelbarem Erleben konnte ich mitteilen. Mein Bericht vom diesjährigen Musikfest ist damit an ihr Ende gekommen. Es war wieder höchst spannend. Auf Eines weise ich noch hin: den Bogen, der von Eisenstein / Prokofjew zu Rihm / Artaud, der Eröffnungsveranstaltung, führt. Denn auch Eisenstein geht in die mexikanische Vorwelt zurück: „Im Verlauf ausgedehnter Reisen durch Mexiko kam Eisenstein der [...] Plan zu einem umfassenden Film“ (der schließlich nicht zustande kam, jedenfalls nicht zuendegedreht werden konnte) „über Mexikos Geschichte und Gegenwart [...]. Eisenstein fixierte sein Thema von einem philosophischen Standort aus [...]: ‚Die große mexikanische Weisheit vom Tod. Die Einheit von Tod und Leben. Das Dahingehen des einen und die Geburt des nächsten. Der ewige Kreis. Und die noch größere Weisheit Mexikos: die Freude an diesem ewigen Kreis...‘“ (Ulrich Gregor / Enno Patalis, Geschichte des Films, Reinbek 1976, S. 198)

Eigentlich hatte ich noch über Messiaens Turangalila-Symphonie schreiben wollen, hätte es gestern auch tun können, doch fand ich, dass es so viel zu sagen und vorher auch zu studieren gab, dass ich es nicht übers Knie brechen mochte. Nur so viel sei vorerst gesagt, dass sich mit der Aufführung am vergangenen Dienstag ein höchst eindrucksvolles lateinamerikanischen Orchester vorstellte, das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar unter Leitung Gustavo Dudamels. Über die Symphonie werde ich einen Beitrag noch folgen lassen, aber ich komme erst in vier oder fünf Wochen dazu. Die Vorführung von gestern abend wird ARTE am 7. November 23.10 Uhr ausstrahlen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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