Ob der Versuch der CDU, Sozialdemokraten wieder einmal als »vaterlandslose Gesellen« ins Gerede zu bringen, irgendwo wirklich verfängt? Es ist fraglich, schon weil Gerhard Schröder kürzlich so medienwirksam, beifallheischend und auch -erlangend durch die neuen Länder gereist ist. Aber auch weil das Gerede das Sache so wenig gerecht wird. Wahr ist, dass die jetzt Regierenden, Schröder eingeschlossen, noch Ende 1989 an die deutsche Vereinigung nicht glaubten. Aber selbst die FAZ räumt ein, dass viele Christdemokraten ebenso ungläubig waren. Und vor allem musste selbst Helmut Kohl den Patrioten Willy Brandt, der 1990 Parteivorsitzender war, wie auch den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt von seiner SPD-Kritik ausnehmen. Er tut so, als wären das rühmliche Ausnahmen, es waren aber die obersten Repräsentanten der SPD. Die von Brandt geführte Partei hatte den Unionsparteien die Ostpolitik als Entspannungspolitik aufgezwungen; wäre eine deutsche Vereinigung ohne diesen Vorlauf denkbar gewesen? Dieser Beitrag war nicht nur unverzichtbar, er war entscheidend. Um das zu zeigen, muss noch einmal von - Preußen gesprochen werden.
Und noch etwas ist der Unionspolemik entgegenzuhalten: niemand anders als Kohl erkämpfte zwar nicht, aber managte die Vereinigung - doch wie hat er das getan? Ein Manager wird nicht nur am platten dinglichen Ergebnis, sondern an den Kosten gemessen. Und auch da stoßen wir auf »Preußen« als den Faktor, der die Kosten in die Höhe trieb.
Ein Rückblick führt auf die Spur. Kohl hat schon vor 1989 zum Ärger vieler Zeitgenossen signalisiert, dass sein Bild von Deutschland durch das Ereignis des »Tausendjährigen Reiches« im Kern vollkommen ungetrübt geblieben war. Es genügt, an seine Auftritte auf den Soldatenfriedhöfen von Verdun und Bitburg zu erinnern. Die Botschaft war: wir sollten in der NS-Zeit einen bloßen Betriebsunfall der deutschen Geschichte sehen. Die Soldatentradition, an die Kohl mit seinen Friedhofsbesuchen anknüpfte, war natürlich die preußische. Dabei ärgerte man sich mit Recht über die so tollkühne wie bösartige Einfalt, mit der er in Bitburg sogar SS-Soldaten in seine Gefallenen-Ehrung einbezog, um die Suggestion einer reinen Militärtradition, die nur nachträglich, nur sekundär oder nur vorübergehend mit falschem Geist infiltriert gewesen sei, auf die Spitze zu treiben.
Und nun ergab es sich, dass just Kohl der »Kanzler der Einheit« wurde - wie Bismarck! Man merkte, dass er sich diesen Vorläufer gab. Denn unter seinen Händen veränderte sich das Grundgesetz. Es wurde genau das, was es in puncto Staatseinheit für Bismarck gewesen war. »Grundgesetz« war der Name der Verfassung des Norddeutschen Bunds gewesen, eines wie die westdeutsche Bundesrepublik auf deutsche Komplettierung von vornherein angelegten Gebildes. Bismarck vollzog die Reichseinigung 1871 so, dass die deutschen Kleinstaaten, die dem Bund noch nicht angehörten, ihm nun »beitraten«. Genauso vollzog Kohl 1990 die »Wiedervereinigung«. Die westdeutsche Verfassung zwang aber durchaus nicht dazu, sich diesem Ursinn des Namens »Grundgesetz« entsprechend zu verhalten. Auch die andere, die Paulskirchen-Analogie war zugelassen, ja stand im Vordergrund: dass das deutsche Volk einen Schlussstrich zog und eine neue Verfassung ausarbeitete. Diese Möglichkeit wurde ausgeschlagen.
Auch sonst orientierte sich Kohl an preußischen Mustern. Charakteristisch war die irre Eile, mit der er die Staatsvereinigung betrieb. Seine Behauptung, es müsse alles ganz schnell gehen, weil man nicht wissen könne, wie lange sich Gorbatschow an der Macht halte, war vorgeschoben. Er zählte ja 1990 auch einmal in einem unbedachten Moment auf, was die Großmächte des 21. Jahrhunderts sein würden, und »vergaß« die Erwähnung der Sowjetunion. Nein, von Gorbatschows Nachfolgern hatte er weniger Angst als vor den Regierungen Frankreichs, Englands oder Italiens, die alle von der deutschen Vereinigung nicht sonderlich erbaut waren. Kohl griff auf die Taktik zurück, die unter dem NS-Namen »Blitzkrieg« bekannt ist, in der Sache aber auf den Preußen Helmut von Moltke zurückgeht. Auf den Gedanken, 1990 einen Reichseinheitskrieg führen zu wollen, kam ja zum Glück kein Deutscher. Aber ein »Blitzkrieg« auf dem Feld der Diplomatie wurde sehr wohl geführt. Es bestand nämlich nach der Einschätzung der Regierung Kohl genau diejenige Situation, in der sich einst schon Moltke gefangen sah: dass man von Gegnern umgeben sei, gegen deren vereinigte Potentiale Deutschland nichts ausrichten würde; es musste deshalb verhindern, dass diese Potentiale sich vereinigen konnten; kurzum, es musste sich beeilen.
War das notwendig? War kein anderer Weg denkbar, auf dem Deutschland in dezidiert unpreußischer Weise hätte erneuert werden können? Anfang 1990 wurde von einem Teil der Grünen, der Gruppe »Aufbruch« um Antje Vollmer, eine andere Art der Vereinigung, nämlich die deutsche Konföderation vorgeschlagen. Das wäre der Versuch gewesen, die ökonomische Malaise der bereits von innen heraus befreiten DDR auf anderem Weg zu überwinden als über die Wirtschafts- und Währungsunion, deren zum Teil katastrophische Folgen heute nicht mehr rückgängig zu machen sind. Man stelle sich einmal vor, es hätte statt der Währungsunion nur eine Währungsreform innerhalb der DDR und ansonsten dieselben massiven Geldspritzen des Westens - aber ohne Rückfluss an landnehmende westliche Kapitalisten gegeben!
Man kann im Rückblick von einer »reichspreußischen Phase« der deutschen Politik zwischen 1989 und 1992 sprechen, deren Merkmal der Versuch war, die neue deutsche Macht auszuspielen, und deren charakteristisches Ereignis die eigenmächtige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens unter Bruch der KSZE-Verträge war. Diese Phase wurde bald durch den Druck der westlichen Großmächte beendet. Worauf die deutsche Politik mit dem Schäuble-Lamers-Papier über »Kerneuropa« reagierte. Nicht wenige waren damals verblüfft, wie unbefangen die Verfasser nun ganz offen von Problemen sprachen, die sich aus »Deutschlands Mittellage« ergäben. Es habe sich historisch gezeigt, dass Deutschland die Kraft, den Kontinent allein zu beherrschen, nicht aufbringe! Ja, das haben zwei Weltkriege bewiesen; auch so kann man von Adolf Hitler und Kaiser Wilhelm lernen - sie haben Deutschlands Kraft überschätzt... Keine Blitzkriege also mehr, auch keine diplomatischen. Die neue Doktrin war vordergründig nur noch völkerverbindend, hintergründig nur noch ökonomisch orientiert.
Vordergründig betonte man zweierlei: erstens, Deutschland müsse seine Sicherheit in Zukunft daraus gewinnen, dass es, wie früher nur von Feinden, so jetzt nur noch von Freunden umgeben sei; zweitens, die darin sich zeigende europäische Einheit könne zur formellen Unionsbildung dadurch fortentwickelt werden, dass eine kleine Gruppe von Staaten - Deutschland mit seinen engsten Westverbündeten - den Vorreiter mache, dem die andern dann nacheifern müssten. Im Hintergrund zeigte sich, die Logik dieses Nacheiferns war vor allem als ökonomische gedacht. Die »magnetische Wirkung«, die von dem europäischen »Kern« jener Staaten ausgehen sollte, ließ sich Lamers zufolge, der das Papier wesentlich ausgearbeitet hatte, »auch an dem Einfluss der DM auf das Währungsgeschehen in ganz Europa feststellen. Wie viel stärker wäre diese Wirkung, wenn es eine Europäische Zentralbank gäbe...« Das Papier selber bezeichnet vordergründig das deutsch-französische Verhältnis als »Kern des festen Kerns« der Union und sagt zugleich hintergründig, dass »die Währungsunion der harte Kern der Politischen Union ist«.
Obwohl das Papier in Westeuropa Verärgerung auslöste und deshalb zurückgezogen wurde, zeigt es die Grundlinie der seitherigen deutschen Europapolitik, der deutschen Doktrin gewissermaßen. Aber was war denn damit über Deutschland gesagt worden? In der »reichspreußischen Phase« hatte es immerhin überhaupt einen Definitionsversuch gegeben, wenn auch einen schlimmen. Der war jetzt vom Tisch, ohne dass es Ersatz gab. Deutschland scheint seit und mit dem Kerneuropa-Papier endgültig in jenen »DM-Nationalismus« abgerutscht zu sein, in dem Jürgen Habermas schon 1990 das Wesen der deutschen Vereinigung sah. Auch der jetzige Außenminister Joschka Fischer griff ja ganz unbefangen auf die Schäuble-Lamers-Politik zurück, ohne deren ökonomischen Implikationen zu hinterfragen. Nun, auch dadurch werden wir definiert, auch so hat Deutschland eine »Berufung«: es wäre dazu da, mit seinen westlichen Regionen an der Spitze europäischen Reichtums - des Geldes, nicht der Ideen für die Lösung der Weltprobleme - zu marschieren...
Zurück zur Unionspolemik unserer Tage: sie ist verräterisch. Zunächst fiel den CDU-Strategen ein, dass Schröder und Lafontaine 1990 die Währungsunion ablehnten. Damit haben die Genannten aber nicht die deutsche Vereinigung torpediert, sondern sich nur gegen Kohls preußische Blitzkriegs-Diplomatie aufgelehnt. Dann kam dieser selbst nach vorn und nahm Willy Brandt generös von den Vorwürfen aus. Aber Brandt war es eben, der dafür gesorgt hatte, dass Deutschland 1990 in keiner »gefährdeten Mittellage« mehr war. Es gab wenigstens in einem Teil Europas, nämlich im Osten, echte Vereinigungsfreunde. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte auch eine noch so preußisch-schneidige Blitzkrieg-Diplomatie den Widerstand Thatchers, Mitterands und Andreottis nicht überwunden. Denn gegen die Sowjetunion wäre Deutschland auch nicht einmal von den USA unterstützt worden.
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