Die Untersuchungsgegenstände Hannah Arendts sind so vielfältig, dass man nicht leicht einen roten Faden sieht. Juliane Rebentisch, die in Offenbach Philosophie und Ästhetik lehrt, sieht ihn in einer besonderen Pluralismustheorie. Davon ausgehend hat sie eine im Grundsatz zustimmende, im Ganzen eher kritische Zusammenfassung von Arendts Werk vorgelegt.
Pluralismus gilt nicht selten als zwar notwendig für die Demokratie, doch in philosophischer Hinsicht unbefriedigend. Wenn alle denken, was sie wollen, wie kann sich dann die Wahrheit behaupten? Der Streit der Auffassungen soll frei sein, aber muss nicht immer angestrebt werden, dass er zur Einigung führt und dann ein Ende hat? Auf der Linie solcher Dichter und Denker wie Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) plädiert Arendt stattdessen für ein „nachmetaphysisches Wahrheitsverständnis“, dem zufolge es „Wahrheit nur durch den Vergleich der Perspektiven geben kann“, die Position jedes und jeder Einzelnen nur so „an Allgemeinheit gewinnt“ und umgekehrt nur so viel Allgemeinheit erreicht wird, wie es die immer neu herzustellende Perspektiven-Übereinstimmung erlaubt. Pluralismus ist dann auch demokratietheoretisch kein bloßes „Nicht-gezwungen-Werden“ von Einzelnen, die einander nichts angehen, sondern lebt von der nie abreißenden Debatte.
Nun sieht man schnell, dass Rebentisch selbst ihre besondere Perspektive hat. Das ist zugleich eine verbreitete Sicht, an der sie teilhat: Arendt ist als Totalitarismus-Theoretikerin bekannt und Totalitarismus wird negativ definiert als Abwesenheit von Parlamentarismus wie auch von Pluralismus. Als Gegenteil westlicher Demokratie eben, wo dann alle nicht parlamentarischen Staaten auf den Vorwurf, totalitär zu sein, gefasst sein müssen. Rebentisch gehört nicht zu denen, die Arendt diese Sicht unterstellen; von Totalitarismus als Nichtparlamentarismus spricht sie gar nicht, und ihre Darstellung der Arendt’schen Pluralismustheorie ist klar und verdienstvoll. Doch hat auch ihr Ansatz insofern Grenzen, als sie sich dafür, was für Arendt Totalitarismus ist, fast nur negativ interessiert. Es stimmt freilich, er ist für Arendt die gänzliche Abwesenheit von Pluralität. Aber was ist er positiv? Das bleibt unterbelichtet.
Sokrates als Vorbild
Arendts zentraler Begriff der „Welt“, daher auch des vorhandenen oder prekären Weltzugangs oder umgekehrt der Weltlosigkeit, wird von Rebentisch gebührend hervorgehoben. Die Welt, das ist für Arendt die politische und eben plurale Öffentlichkeit, in der die Menschen über ihre Angelegenheiten sprechen und sie regeln. Das muss ein freier Raum sein, den sich Arendt wie eine Theaterbühne vorstellt: Die dort auftreten, machen sich öffentlich sichtbar und spielen Rollen, das heißt, sie werden vermittelt über Erwartungen wahrgenommen. Sie tragen insofern Theatermasken, sprechen durch diese aber hindurch, denn die Masken sind an den Mundstellen geöffnet, und tun das als freie, einzelne, je unverwechselbare „Personen“: Das Hindurchtönen, per-sonare, ist ihr ganz eigenes. Der öffentlich auftretende Mensch kann so die Erwartungen, die andere von ihm haben, durchbrechen. Vielleicht kann er sogar die Perspektiven der anderen verändern. Arendts Modell für solchen Umgang miteinander ist die antike Polis, wo sie besonders an Sokrates denkt. Platon hat die Wahrheit von der bloßen Meinung trennen wollen, für Arendt gibt es aber nur Wahrheiten, die aus den Meinungen – worin „mein“ steckt, das jeweilige Ich oder Subjekt – herausgeholt werden können, wofür ihr eben die sokratische Gesprächsführung, seine „Hebammenkunst“ das Vorbild gibt. Sie hält das sokratische Gespräch der modernen Öffentlichkeit als Muster kritisch vor, und bis dahin folgt ihr Rebentisch.
Rebentisch kritisiert aber, dass Arendt ihre freie und plurale Welt zu sehr von deren sozialen Existenzbedingungen abhebe. Arendt weiß natürlich, dass die Öffentlichkeit der antiken Polis auf Sklavenhaltung basierte. Aber wenn sie diese Bedingung aus dem antiken Muster streicht, hält sie doch daran fest, dass die Bereitstellung des Lebensnotwendigen schon geschehen sein müsse, bevor es zum öffentlichen Perspektivenaustausch kommt. Diese Vorstellung einer Freiheit, die sich über das Notwendige erhebt, prägt auch ihren Revolutionsbegriff; die Französische Revolution von 1789 sei in den Fesseln der sozialen Not verblieben, diejenige der Gründung der USA hingegen habe in Freiheit stattgefunden. Arendt lobt die Räte, die auch in der Amerikanischen Revolution entstanden, hebt aber hervor, dass es solche der politischen Gründung statt bloß Arbeiterräte waren. Für Rebentisch ist das alles zu dualistisch gedacht. Sie kritisiert, dass Arendt nur diese eine „Welt“ des freien politischen Austauschs kenne, statt anzuerkennen, dass alle Gruppen von Menschen, auch die in der Not leben, Arbeiter, Flüchtlinge, Afroamerikaner, in ihrer je eigenen Welt leben. Wenn Arendt ihnen abspreche, eine solche aufbauen zu können, sei das eine Herrscherperspektive.
Aber hier sollte man unterscheiden. Wie Arendt den Schwarzen Menschen, mit denen die Buren in Südafrika zusammenlebten, eine totale Weltlosigkeit unterstellt, ist allerdings erschreckend. Da kann man Rebentisch nur zustimmen. Arendt meint, die Weißen hätten an ihnen eine „Erfahrung“ gemacht und es sei nachvollziehbar, dass sie nun glaubten, es gebe verschiedene Rassen statt einer einzigen Menschheit. Der ethnologische Blick für die Stadien der Menschheitsentwicklung hat Arendt offenbar gefehlt. Doch wenn es um die Afroamerikaner oder die europäische Arbeiterklasse geht, ist der Fall anders gelagert.
Rebentisch beruft sich auf Jacques Rancière: Der wies auf Arbeiter im 19. Jahrhundert hin, die sich der Nacht bedienten, um Dinge zu tun, die man ihnen verwehren wollte – lesen, schreiben, publizieren. Also hatten sie doch ihre „Welt“! Rebentisch sieht nicht, dass sie Arendt damit nur bestätigt: Der Weltzugang dieser Menschen bestand eben darin, dass sie sich publik machten. Sie konnten das nur im Kampf erreichen.
Gerede soll nicht aufkommen
Einfach nur zu bleiben, wie sie waren, hätte es nicht gebracht. Dieser Unterschied ist wichtig genug, es ist der zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Wenn Kanzler Olaf Scholz heute sagt, man müsse „Respekt“ vor den Arbeiter:innen haben, definiert er sie als soziale Wesen, denen er etwa das Recht zuspricht, einen Mindestlohn von zwölf Euro zu beanspruchen. Das muss sein, aber Peter Weiss tut mehr, wenn er in seinem kommunistischen Roman Die Ästhetik des Widerstands Arbeiter auftreten lässt, Widerstandskämpfer gegen Hitler, die sich einer Führung in der Gemäldegalerie anschließen – wenn sie zeigen, dass sie sich in nächtlichen Studien mehr Wissen angeeignet haben als die mit anwesenden Bürger. Sie hassen den Guide, weil er das laut hervorhebt und damit deutlich macht, dass sie doch eigentlich von solchem Wissen ausgeschlossen sind. Wenn es heute eine „Welt“ der Pluralität gibt, dann nur eine einzige; um den Zugang muss man kämpfen und ein Olaf Scholz empfiehlt das seinen Wähler:innen nicht.
Es ist Rebentisch wie gesagt nicht vorzuwerfen, dass sie ihre eigene Perspektive hat. Was man ihr aber vorwerfen kann, ist, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, Arendts „Welt“-Begriff zum Begriff des In-der-Welt-Seins von Martin Heidegger zurückzuverfolgen, dessen Schülerin Arendt doch war. Es ist einerseits offensichtlich, dass Arendt sich von Heidegger distanziert, wenn sie in der Welt keinen Raum des Gewohnten, in dem man sich fraglos bewegt, und des bloßen Geredes sieht, aus dem nur das „Sein zum Tode“ herausführe. Nein, für Arendt ist dieser Raum selber der Ort, in dem das Gewohnte geprüft und Gerede nicht aufkommen soll. Aber wenn sie einmal schreibt, die „neuzeitliche Weltentfremdung“ schlage sich nieder in „der Flucht von der Erde ins Universum und der Flucht aus der Welt in das Selbstbewusstsein“, dann nimmt sie Motive Heideggers auf, der das „Ich denke, also bin ich“ von Descartes als weltlos verurteilt hat.
Arendt denkt es anders, differenzierter als Heidegger: Das Selbstbewusstsein soll sich von der Welt distanzieren, denn sonst könnte es diese nicht kritisch befragen; aber es soll nicht zum „view from nowhere“ werden, vielmehr subjektiv bleiben, eben die Perspektive nicht verleugnen.
Rebentisch hat Arendt nicht erschöpfend behandelt. Doch das schmälert nicht den Wert ihres Buches.
Info
Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt Juliane Rebentisch Suhrkamp 2022, 288 S., 28 €
Kommentare 5
Einer, der mit 86 angefangen hat franzoesische Philosophen zu Hinterfragen, also in Franzoesisch, er konnte das nicht Reden, aber sehr gut Lesen.
Vor ein paar Wochen brachte die Frankfurter Rundschau einen Auszug aus dem neuen Buch von Juliane Rebentisch, in dem es im Wesentlichen um den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und James Baldwin im Jahre 1962 geht, dessen Ausgangspunkt ein Beitrag von Baldwin im New Yorker war, in dem dieser den Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft beschrieb und den oder einen Schlüssel zur Veränderung in der Liebe sah.
Den Ausschnitt der Papierausgabe besitze ich nicht mehr, da ich das Buch ohnehin zu kaufen gedenke, aber es ging im Weiteren darum, dass Hannah Arendt ihn etwas von oben herab belehrte, dass in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung solch antipolitische Aspekte wie „die Liebe“ fehl am Platze seien und sie dabei wohl verfehlte, worum es dem Schriftsteller eigentlich ging.
In einem Interview mit der Süddeutschen (geführt von Miryam Schellbach) führt Rebentisch dazu aus: „Warum war sie so streng? Es ist bemerkenswert, wie oberflächlich sie Baldwin gelesen hat. Sehr voreilig sortiert sie ihn ein als Symptom ihrer kritischen Zeitdiagnose, nämlich der, dass der Raum der politischen Öffentlichkeit unzulässig überformt wird durch Motive, die sie als antipolitisch verstand, darunter die Liebe. Sie hat aber vollständig verfehlt, was Baldwin unter Liebe fasste, nämlich eine Arbeit, die das weiße Amerika vom Wahn der eigenen Unschuld zu erlösen versucht, um es so zur aufgeklärten Wirklichkeit zu befreien. Eine solche Liebe demonstriert sich in der Störung eines Weltbildes, das sich für andere Perspektiven unempfindlich gemacht hat. Sie steht, könnte man sagen, im Dienst einer Pluralität, deren Reichweite zu denken Arendt selbst verschlossen geblieben ist.“
Das ist bedenkenswert. Zu berücksichtigen sind bei all dem natürlich unter anderem, wir schreiben die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, unterschiedliche Milieu- und andere Erfahrungen der beiden (neben übereinstimmenden!).
Nebenbei erfährt man, dass Juliane Rebentisch momentan als Gast an der Princeton University in New Jersey Philosophie lehrt, just dort, wo dies auch Hannah Arendt vor 63 Jahren als erste Frau tat.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/juliane-rebentisch-hannah-arendt-philosophie-1.5525143?reduced=true
Auch ich denke, daß Rebentisch recht hat, wo sie Arendts Kritik an Baldwin zurückweist. Aber die Sache ist im Einzelnen kompliziert. Ich will aus meiner Lesemitschrift zitieren:
„A. setzt sich mit Baldwin auseinander, der ‚der Liebe als einer Kraft zur politischen Transformation eine so wichtige Rolle zuspricht‘; sie selbst meint, ‚daß die Liebe in der Politik nichts zu suchen habe‘. Das ist in der Tat verkürzt: Geliebtwerden ist die erste Aufnahme in die Welt, wenn auch nur erst durch eine weitere Person, und das kann nicht übersprungen werden. Aber es ist letztlich nicht falsch, denn wenn sich diese Personen nicht in der Liebe die Welt aneignen, entspringt daraus in der Tat keine politische Transformation und kann sie selbst nicht dauern. Das war auch ihre Kritik an Augustin gewesen: Die christliche Nächstenliebe adressiere den anderen ‚nicht in seiner weltlichen Bedeutsamkeit‘. (107) Nun, die 68er wurden eben deshalb geliebt, weil sie Revoluzzer waren oder Beatleslieder sangen. Übrigens spricht A. von deren Lebensliebe, und meiner Erinnerung nach sehr positiv. R. berichtet es nicht. – Baldwin erinnert daran, daß sich die Schwarzen ihre eigene Kultur schufen, Jazz, Blues (110), und die ging ja auch in die Hochkultur ein, trug zur Revolution bei, das ist natürlich was. Aber wenn man näher hinschaut, sieht man, daß wiederum die großen Jazzmusiker ihre Größe nicht erlangt hätten ohne ihre Aneignung der klassischen Musik der Weißen. Liebe ist bei Baldwin eine Kraft, die zum eigenen Blick befähigt, und das heißt, zur Distanzierung von der Welt der Weißen (112 f.). Aber so ist es doch wieder in A.s Sinn. Ganz entsprechend spricht A. von der ‚politischen Relevanz‘ der Freundschaft, in der sich, so R., ‚ein gemeinsamer Raum durch die Distanzen herstellt, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven ergeben‘ (115 f.). Genau! So ist es letztlich auch bei Baldwin gemeint, der ja gerade verlangt, daß die Schwarzen die Weißen ‚lieben‘ sollen wie Eltern ihre Kinder (114).“
Das Selbstzitat zeigt mir noch mal, daß ich mit meinem Artikel nicht zufrieden sein kann. Ich habe relativ viel Raum gehabt, aber es ist mir nicht gelungen, das Komplexitäts-Niveau des Buchs von Rebentisch wirklich zu vermitteln.
Ein hochinteressanter Artikel. In den Abgrenzungsbewegungen zwischen Heidegger und Arendt, Baldwin und Rebentisch lässt sich im Grunde der Kulturwandel der letzten 100 Jahre ablesen.
Die Determiniertheit von Heideggers Weltbegriff ist gleichzeitig seine Voraussetzung wie seine Grenze. Der Paradigmenwechsel der letzten 100 Jahre bestand eben im Wesentlichen unter den Zeichen von Liberalisierung und Pluralisierung.
Doch hat das eben auch seinen Preis. Je offener die Denksysteme werden, desto beliebiger werden sie auch. Das Unwohlsein Arendts gegenüber Baldwin, und analog vielleicht auch Adornos Unwohlsein gegenüber dem Jazz, ist eben von diesem Instinkt geleitet, dass diese neuen, vor allem aus der Individuation gewonnenen Formen, die intellektuellen Gedankenwelten letztendlich zerstören werden.
Auch ohne ein persönliches Verhältnis zum Jazz zu haben, sehe ich darin durchaus eine der wichtigsten musikalischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Doch auch wenn er in gewisser Weise in der klassischen Musikkultur wurzelt, ist er doch gerade in seinen emanzipierteren Formen wie Bebop und Free Jazz gegen diese "Hochkultur" gerichtet. Vor allem in seinem Element der Individuation, das gegen die Idee von Form und Ordnung der bürgerlichen Kultur gerichtet ist.
was Sie vergessen:
aus der "individuation"entstandene (musik-)kulturen
haben ihre subkulturellen, identitäts-bildenden/bindenden kräfte.
wenn sich energie verteilt, löst sie sich damit nicht auf.
daß sie damit intellektuelle erschöpft,
die nach binde-kräften alten musters ausschau halten,
muß nicht verwundern.
sagt ein beboppender klassik-durchstöberer in dem
bewußtsein, d a s / d i e klebe-mittel gesellschaftlicher synthesis
zu erschnüffeln sind,
aber der sie weder markt-reif zum verkauf bereit hat,
noch giftige lösungs-mittel in die tube zurückbringen kann .
;-)