Kann Elite links sein?

Theorie Eine Führungsschicht ist auf den ersten Blick der natürliche Widerspruch zum Ideal der Gleichheit
Ausgabe 04/2019
Linke wissen, dass die Elite nicht aus den Besten zusammengesetzt ist. Sie fordern aber, dass sie es sein soll
Linke wissen, dass die Elite nicht aus den Besten zusammengesetzt ist. Sie fordern aber, dass sie es sein soll

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Man sollte den Begriff der Elite nicht den Rechten überlassen! Das denken viele Linke, und darin steckt die Einsicht, dass der Begriff sich gut dafür eignet, von Rechten „besetzt“ zu werden. Verstehen wir unter einer Elite nicht Menschen, die andere überragen und denen deshalb ein natürliches Recht auf Herrschaft zukommt? Man muss es aber nicht so verstehen, würden Linke einwenden. „Elite“ heißt auf Deutsch übersetzt „Auslese“. Wenn alle die gleiche Chance haben, in die Ausleseverfahren aufgenommen zu werden, und sich die wirklich Besten in ihnen durchsetzen, kommt eine demokratische Elite heraus und keine, die es „von Natur“ ist.

In seiner Entstehungsgeschichte zeigt der Begriff allerdings eine rechte Schlagseite. Zwar ist er neutral entstanden. Man sprach im 17. Jahrhundert von „Elitegarn“, und das war wirklich besser. In der Französischen Revolution verwendeten Bürger den Begriff, um zu sagen, dass sie ihre Stellung eigener Arbeit verdankten, anders als die Adligen und Priester. Aber diese Behauptung war bestenfalls halb richtig. Im 19. Jahrhundert diente der Begriff denn auch zur Abgrenzung von der „ungebildeten“ Arbeiterklasse. Und während all diese Wortspiele heute vergessen sind, erinnern wir uns immer noch an Charles Darwin, der die „Auslese der Stärksten“ untersuchte.

Im 20. Jahrhundert beginnt die Karriere des Elite-Begriffs mit Vilfredo Pareto (1848 – 1923), den man als Vorläufer, ja Helfershelfer des Faschismus bezeichnen darf. Er war ein bedeutender Wissenschaftler, dem sowohl als Ökonom wie auch als Soziologe bahnbrechende Entdeckungen gelangen. So hat seine Unterscheidung zwischen wirklichen Handlungsmotiven und deren scheinlogischer Erklärung – „Derivation“ – durch die Handelnden auf die Psychoanalyse eingewirkt, wo man sie als „Rationalisierung“ wiederfindet. Bei ihm selbst gehört sie aber zum Kern seiner Theorie der Elite. Wenn in einer Revolution, so lehrt er, eine Elite durch eine „Reserve-Elite“ abgelöst wird, dann mag diese zwar behaupten, dass in ihrer Gestalt nun die Masse oder die Arbeiterklasse herrsche, doch sei das scheinlogisch. In diesem Sinn hält er Demokratie überhaupt, „Herrschaft des Volkes“, für eine Illusion.

Parsons pariert Pareto

Nimmt man das als wissenschaftliche Erklärung der Tatsachen der bisherigen politischen Geschichte, kann man kaum widersprechen. Pareto meint jedoch, es könne nicht anders sein. Und hat auf dieser Grundlage Mussolini beraten: Die Faschisten täten gut daran, das Parlament als Fassade ihrer Macht beizubehalten, eben weil die Menschen so gern an die Demokratie glauben. Mussolini hat ihn als seinen Lehrmeister angesehen. Beide hatten übrigens zunächst auf die Arbeiterbewegung gehofft und fanden sich dann enttäuscht. Dasselbe gilt für Robert Michels (1876 – 1936), der in Deutschland als einer der Ahnen der Parteienforschung bekannt ist. Parteien seien das Instrument innerparteilicher Eliten, die er „Oligarchie“ nennt, und nicht etwa der Willensbildung des Volkes. Auch das ist schwer von der Hand zu weisen. Michels begann als linker Sozialdemokrat, zuletzt saß er auf einem Lehrstuhl in Perugia, wo er seine faschistische Theorie des Korporatismus vollendete.

Nun mag man sagen, das alles sei zwar noch in Erinnerung, könne aber auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden. Denn der Faschismus ist besiegt worden, und den USA verdanken wir eine demokratische Gegentheorie. In der Schule von Talcott Parsons wird Elite strikt als Leistungselite oder „Funktionselite“ begriffen. Jede Institution sei auf eine solche angewiesen, und wenn ein Grundkonsens all diese Eliten eine, werde die Gesellschaft gut und demokratisch geführt. Aber liegt denn die Leitung der Institutionen wirklich bei den Besten, den Leistungsträgern? Das kann empirisch untersucht werden, die Wissenschaft hat es getan. In vielen Bereichen ist Leistung nicht der entscheidende Grund des Aufstiegs zur Elite. Vielmehr spielt der „Habitus“ eine Rolle, an dem die schon vorhandene Elite erkennt, ob der Bewerber oder die Bewerberin ihresgleichen ist – darauf kommt es an – oder nicht. Ralf Dahrendorf schrieb deshalb 1965, unter dem Schein der Leistungsprüfung von Bewerbern verberge sich oft die pure Kooptation in die Elite durch die Elite selbst. Dass dies namentlich Bewerberinnen erfahren, die in Führungspositionen der Wirtschaft aufsteigen wollen, hat die feministische Forschung herausgearbeitet.

Wir verstehen nun die verbreitete linke Haltung. Linke wissen, dass die Elite nicht aus den Besten zusammengesetzt ist. Sie fordern aber, dass sie es sein soll. Und das tun sie mit Recht, auch wenn man einwenden könnte, dass beispielsweise einer Wirtschaft, die der Kapitallogik unterworfen ist, allerbeste Führungsfiguren gar nicht zu wünschen sind. Ja, selbst wenn man, anders als Pareto, eine demokratische Revolution für möglich hält, dürfte sie sich nicht in einer Avantgarde erschöpfen. Würde es aber schaden, wenn man sie hätte? Und vielleicht lässt sich das Kapital eher vom Selbstzweifel ergreifen, wenn es weiblich geworden ist?

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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