Katholiken und Evangelikale in Lateinamerika

Entsakralisierung An einen wichtigen Gesichtspunkt, den Columbus in die Diskussion über das jüngste Papst-Schreiben eingebracht hat, möchte ich hier anknüpfen und die Analyse fortführen

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Papst Franziskus bei einer Audienz im Vatikan
Papst Franziskus bei einer Audienz im Vatikan

Foto: Alessandra Tarantino / POOL / AFP

In unserer Welt, schreibt Columbus in einem Kommentar unter meinem Artikel Der Papst hat sich geoutet, wächst der Sinn „nach Resakralisierung und Auserwähltheit“. Dass jedenfalls das religiöse Bedürfnis wächst, sehe ich auch so und auch ich finde es wichtig, die vielfältigen Formen zu bemerken, in denen sich dieses Bedürfnis heute äußert. Für uns hier in Westeuropa scheint mir z. B. das schnell wachsende Bedürfnis nach Himmelfahrt, Leben im Himmel und eigenem Leben nach dem Tod im Himmel, das heute als Glaube in „naturwissenschaftlicher“ Form in Erscheinung tritt, also als Raumfahrt, Leben auf Exoplaneten und der begeisterten Bereitschaft, die Raumfahrt toten Maschinen zu überlassen, weil sie ja anders gar nicht durchführbar ist, extrem wichtig zu sein. Darüber schreibe ich oft und weiß mich mit Columbus einig.

Was sich an dieser letztgenannten Form des Glaubens aber verallgemeinern lässt, ist der Umstand, dass er als „Re-“ Religion, Rückkehr zur Religion, eine Gestalt hat annehmen müssen, die das Moderne, das jedermann heute in seiner / ihrer Umwelt erfährt, mit aufnimmt. Der Katholizismus versucht sich aufrechtzuerhalten; ich weiß, dass er in vielen anderen Weltteilen seine Stärke behält, zweifle aber daran, dass er heute zu den Religionen gehört, die sich ausdehnen (bin dem allerdings nicht nachgegangen); klar ist aber, dass der Protestantismus es in manchen Weltteilen leichter hat, unter Bedingungen der Religionsrückkehr und zugleich der Moderne sich auszudehnen, als der Katholizismus. Und das liegt nun aber gerade daran, dass das Sakrale in ihm weit mehr zurückgedrängt ist als im Katholizismus. Aus diesem Grund konnte sich schon der klassische Protestantismus eines Martin Luther ausdehnen, weil schon damals im 16. Jahrhundert die Welt sich so weit zu entzaubern begonnen hatte, dass man nicht mehr so leicht an die Transsubstantation glaubte; Luther schon reduzierte das Sakrale, wie man sagen könnte, auf ein bloßes Viertel des Umfangs, den es bis dahin gehabt hatte, indem er zum einen die Bedingung der Austeilung durch einen besonderen Priesterstand strich und zum andern nur noch abstrakt auf Jesu „Anwesenheit“, ohne Transsubstantation, in Brot und Wein bestand. Wie man weiß, hat er damit ein Fass aufgemacht, das schon zu seinen Lebzeiten noch viel weiter geöffnet wurde, von Zwingli und von Calvin, denen zufolge das Abendmahl lediglich „zur Erinnerung“ an Jesus abgehalten wird.

D. h. m. a. W., dass diese neueren Formen des Protestantismus, und das sind gerade die Formen, in denen sich der Protestantismus über die nordwestliche Welt ausgebreitet hat, das Sakrale komplett gestrichen haben. Religion ist seitdem nur noch eine rein „geistige“ Angelegenheit, und von vielen ist herausgearbeitet worden, dass damit der erste Schritt zum Verschwinden der Religion getan war. Eben weil es, und da berührt sich der Gedankengang nun wieder mit meinem Artikel, das Sakrale war, was zum Zusammenhalt der Gesellschaft beigetragen hatte, während ein rein „geistiger“ Glaube nur eine Variante von Selbstverständnis neben allen anderen ist, die ihrerseits die Frage aufwerfen, wodurch denn sie sich stützen und halten können. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, weshalb der Protestantismus dem Verschwinden der Religion in Europa noch weit mehr Vorschub geleistet hat als in Nordamerika, wobei sie es aber natürlich auch dort getan hat, denn dort halten zwar mehr Bürgerinnen zu den protestantischen Freikirchen, aber doch keineswegs alle. Ich kann die Frage nicht beantworten, sie muss aber in unserm Kontext auch nicht unbedingt diskutiert werden; interessanter ist, dass die „Evangelikalen“, auf die Columbus verweist, und da besonders die „Pfingstler“ die Schraube der Entsakralisierung, wenn das überhaupt möglich ist, noch um weitere Windungen aufdrehen. Denn hier verschwindet im Grunde jegliche vorgegebene Ordnung zugunsten des puren Ekstase-Erlebnisses.

Bei dem, was man heute über die Ausbreitung der Evangelikalen in Südamerika liest, muss man wahrscheinlich aufpassen, ob es sich um katholische Autoren handelt und ob sich dieses in der Analyse auswirkt. Solche Autoren kommen möglicherweise nicht auf die Frage zu sprechen, ob nicht schon die Entstehung der Befreiungstheologie mit der evangelikalen Mission in Lateinamerika zusammenhängt. Dafür bringt Anthony Gill: Religiöse Dynamik und Demokratie in Lateinamerika, in Politik und Religion. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 33/2002, S. 478-493, erstaunlich viel empirische Plausibilität bei. Die katholische Amtskirche hatte sich nicht sehr um die Armen gekümmert, in diese „Marktlücke“ strömte die evangelikale Mission. D. h. sie setzte zuerst bei den Armen an; ihre Bedeutung für die Mittelschichten war eine spätere. Teile der katholischen Kirche erkannten die Gefahr und begannen nun ihrerseits um die Armen zu kämpfen. Dabei hatten sie - oder hatte besser gesagt diese Regionalkirche, die solche Kräfte in ihr zunächst gewähren ließ -, nicht unbedingt die besten Trumpfkarten in der Hand, da wir ja nicht mehr im Mittelalter leben. Antikapitalismus war aber eine erfolgversprechende Methode.

Das sind so Bedingungen, unter denen so eine Kirche sogar von uns aus gesehen unterstützenswert erscheint.

Verstehen müssen wir nun freilich auch, wieso gleichzeitig auch der Prokapitalismus der Evangelikalen erfolgreich ist, mehr noch sogar als der Antikapitalismus der Befreiungstheologie, die überdies von zwei für die Problemlage blinden Vorgänger-Päpsten massiv eingeschüchtert wurde. Schon 2002 konnte Gill konstatieren, dass „wenn man bedenkt, dass evangelikale Protestanten dazu neigen, aktivere Kirchgänger zu sein als erklärte Katholiken, [...] der prozentuale Anteil aktiver Protestanten und Katholiken in den meisten lateinamerikanischen Ländern nahezu gleich“ sei. Dies impliziere, „dass Protestanten in vielen Ländern den gleichen Einfluss bei Wahlen haben wie Katholiken“. (S. 486) Es zu verstehen, ist aber gar nicht schwer. Denn wissen wir nicht, dass man sich mit Ekstase-Erlebnissen über die Grausamkeit des Kapitalismus hinwegtrösten kann? Man kann das doch in jeder Disko beobachten und auch, wenn Drogen konsumiert werden. Solchen Formen gegenüber hat die Pfingstgemeinde den Vorteil, dass sie a) die lebenslänglich kontinuierliche, regelmäßig wiederholte Ekstase für jedermann, ob jung oder alt, schön oder „hässlich“, anerkannt oder nicht anerkannt, verspricht (die regelmäßige Wiederholung allein macht zwar nicht das Sakrale aus, ist aber doch ein Element, das davon noch übrig geblieben ist) und b) eine gesunde, gemeinschaftliche und legale Ekstase ist, mit dem Nachteil aber nun eben auch, dass sich ihre Segnungen c) auf die Gemeindemitglieder beschränken, und mehr noch: dass sie mit Feindschaft gegen Gruppen unter den Nichtmitgliedern sehr gut verträglich ist. „Ihr seid nicht von dieser Welt“ wird den Mitgliedern sowieso generell eingetrichtert, gewisse Teile der „Welt“ können dann, dass sie unter Satans Herrschaft steht, besonders „gut“ veranschaulichen.

Wenn der gegenwärtige Papst das Sakrale in seiner Kirche verteidigt, wird auch dies mitspielen, und das war mir nicht auf dem Schirm gewesen: dass er sich nicht traut, sie zum Protestantismus hin zu öffnen, und sei es nur um einen kleinen Spalt. Er mag sich wohl sagen, dass er den Pfingstlern dadurch sogar entgegenkäme. Er sucht sich mit ihnen gut zu stellen, was soll er auch anders tun; aber wenn er ihnen, mag er denken, auch nur den kleinen Finger reichte, nähmen sie womöglich die ganze Hand.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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