Wie soll sich Deutschlands Militärpolitik entwickeln? Die Frage wird derzeit auf mehreren Konferenzen verhandelt: in der vorigen Woche auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr in Hamburg und auf der Herbsttagung der NATO in Brüssel, jetzt am Wochenende auf dem Gipfeltreffen der EU in Helsinki. Hier geht es jedesmal auch um europäische Rahmenbedingungen des inländischen Streits, ob und wie die Bundeswehr Hans Eichels Sparhaushalt verkraften könne. Eine Frage hat viele Kommentatoren beschäftigt: ob die Ereignisse dafür sprechen, dass Deutschland und die EU anfangen, sich militärisch von den USA abzukoppeln. Die Gefahr, sich die Wirklichkeit nach dem eigenen Wunschtraum zurechtzulegen, ist auf diesem Feld besonders groß. Denn manche, die über den Kosovo-Krieg erschraken und ihn der amerikanischen mehr als der westeuropäischen Politik vorwarfen, wünschen nichts sehnlicher als diese Abkopplung. Ob wir sie aber wirklich beobachten, ist zweifelhaft. Ich möchte sagen: zum Glück. Der Wunsch ist fragwürdig, er nimmt anscheinend in Kauf, dass ein Militärkonflikt zwischen zwei westlichen Supermächten entstehen könnte. Wäre es nicht besser, wenn die Europäer den Amerikanern im Bündnis widersprächen? Doch auch davon kann kaum die Rede sein.
Am 21. Oktober war der Bericht des Internationalen Instituts für Strategische Studien vorgelegt worden. Er erinnerte daran, dass die EU-Staaten im Kosovo-Krieg militärisch viel weniger als die USA geleistet haben. Das sei auch kein Wunder, denn für Einsätze wie dort stünden nur zwei bis drei Prozent der EU-Streitkräfte zur Verfügung. Alle restlichen Kapazitäten seien ungeeignet. Der Aufbau einer europäischen Streitmacht, vom Kölner EU-Gipfel im Juli beschlossen, stehe also nur auf dem Papier; um ihn zu verwirklichen, müssten die westeuropäischen Verteidigungsausgaben gewaltig steigen.
Wenn man nun darauf hinweist, dass der amerikanische Verteidigungsminister Cohen am lautesten dasselbe fordert wie das in London ansässige Institut, hat man das Dilemma angedeutet, vor dem die Interpretation steht. Denn war nicht gerade der Kölner Beschluss der Grund, weshalb viele Kommentatoren den militärpolitischen Riss zwischen Europa und Amerika auftauchen sahen? Und nun wird die Umsetzung gerade von der amerikanischen Regierung verlangt.
Andererseits sind die Signale aus Washington widersprüchlich. Sie klagen über geringe europäische Rüstungsausgaben - 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Deutschland gegenüber 3,1 Prozent in den USA -, äußern aber auch ihre Sorge, die EU könne sich militärisch von den USA emanzipieren. Wie passt das zusammen? Den Interpretationsschlüssel finden wir in zwei Veröffentlichungen der FAZ am 26. und 27. November. Zuerst wurde eine Grundsatzrede des deutschen Außenministers dokumentiert. Für deutsche humanitäre Militäreinsätze, hatte Joseph Fischer erklärt, existiere "weiterhin eine Âeuropäische PräferenzÂ". Deutschland werde sich zwar "auch in entfernten Weltregionen", Beispiel Timor, "engagieren müssen", aber dennoch bleibe "schon aufgrund begrenzter Kapazitäten" das "Prinzip der Selbstbeschränkung" gültig. Darauf antwortete Robert Blackwill, der als amerikanischer Sonderbotschafter an den "Zwei plus Vier"-Gesprächen zur deutschen Vereinigung teilgenommen hatte. Deutschland könne sich weder auf europäische Aufgaben zurückziehen noch lediglich, wie Fischer sich das vorstelle, "aus der zweiten Reihe führen", schrieb er am nächsten Tag. "Gemeinsam und unter der Führung Amerikas und Deutschlands hat der Westen den Kalten Krieg gewonnen", und warum, da es auch heute gemeinsame Interessen gebe, "sollten wir diese Strategie in Zukunft ändern?"
Blackwills Hinweis auf die Interessen fällt überzeugend aus. Da sind zum einen die schönen Dinge, die wir alle wünschen, etwa der "Eintritt Russlands, und hoffentlich auch Chinas, in die Familie demokratischer Nationen". Zum andern haben dieselben Dinge eine militärpolitische Seite: es gelte "die Entstehung einer feindlichen Hegemonialmacht in Eurasien zu verhindern", als welche wegen Russlands Schwäche "gegenwärtig nur China in Frage kommt"; und es sei "die Versorgung mit Energie zu vernünftigen Preisen sicherzustellen". Blackwill unterstreicht, dass das deutsche Interesse "im Nahen Osten (Erdöl)" sogar größer als das amerikanische sei. Er hätte dasselbe vom Gas- und Erdölaufkommen im Kaspischen Raum sagen können. Kurzum: Deutschland und die EU dürfen ihr militärisches Interesse nicht auf Europa reduzieren. Sie müssen den Amerikanern "in ernsten Kämpfen" auch "außerhalb des Kontinents zur Seite stehen".
Wenn das die offizielle Linie ist, sind jene Signale aus Washington nicht widersprüchlich. Ohnehin ist die Mahnung nachvollziehbar, Deutschland und andere EU-Staaten müssten ihre Militärausgaben steigern. Denn wenn sie das nicht tun, sind mit den militärischen auch die ökonomischen "Lasten" beiderseits des Atlantik ungerecht verteilt. Diese Klage wird seit zehn Jahren erhoben. Die USA sehen sich in der Wirtschaftskonkurrenz benachteiligt. Man darf daher annehmen, dass der EU-Beschluss, mehr eigene Militärkapazität aufzubauen, zunächst weiter nichts als das Ja zu einem amerikanischen Verlangen ist. Man versteht aber auch die amerikanischen Warnungen vor dem europäischen Autonomiestreben. Denn es gibt tatsächlich einen Konflikt, den die EU gern ohne und gegen Amerika für sich entscheiden würde: sie will nicht weitweit, sondern nur "in und um Europa" operieren. Das haben neben Fischer auch andere EU-Politiker in den letzten Wochen betont. Wenn sie eine Streitmacht hätten, die einen Krieg wie den in Jugoslawien ohne amerikanische Hilfe führen könnte, wären sie Amerika nichts schuldig und bräuchten auf amerikanische Wünsche nicht einzugehen. In Washington will man aber nicht zulassen, dass Europa, wie ein anderer früherer Regierungsbeamte, Jeffrey Garten, 1992 formuliert hatte, sich der amerikanischen Führung "weniger explizit unterordnet".
Europäer und Amerikaner wollen den Aufbau einer westeuropäischen Militärmacht aus teilweise verschiedenen Gründen. Die Amerikaner protestieren gegen Versuche der EU, aus ihrem stärkeren Militärbeitrag mehr Selbstbestimmungsrechte in Fragen der westlichen Globalstrategie abzuleiten. Dafür, dass die EU sich von den USA abzukoppeln beginnt, sprechen die Ereignisse nicht. Denn Blackwill hat recht: die Globalinteressen der EU-Regierungen unterscheiden sich von denen der USA in keiner Weise. Gut, es hat Spannungen gegeben. Deren Bedeutung darf man aber nicht überschätzen. Am Wochende wird der EU-Gipfel in Helsinki den Aufbau einer Streitmacht innerhalb von drei bis vier Jahren beschließen. Im Vorfeld hatte Washington gefordert, hierzu müsse die EU einen Vertrag mit der NATO schließen, der dieser den Vorrang einräume. Das sei erst möglich, erwiderten London und Paris, wenn die EU selber wisse, was sie wolle, und den entsprechenden Beschluss gefasst habe. Um Washington entgegenzukommen, lud Rudolf Scharping den amerikanischen Verteidigungsminister Cohen zur Teilnahme an der Kommandeurstagung der Bundeswehr ein. Cohen, der nur ein Grußwort sprechen sollte, redete lange und kritisierte die Kürzungen im deutschen Militärhaushalt. Er stieß ins selbe Horn wie die anwesenden deutschen Generäle. Ein paar Tage später wiederholte er die Kritik auf der Herbsttagung der NATO. Die Polemik, die gegen die EU-Pläne geäußert worden war, wurde aber von Cohens Pressesprecher gedämpft: man sei zwar gegen "eigenständige" europäische Streitkräfte, aber dagegen, dass eine Eingreiftruppe von etwa 50.000 Mann aufgebaut werden solle, habe man überhaupt nichts.
Wie soll sich Deutschlands Militärpolitik entwickeln? Was der Außenminister denkt, haben wir gehört. Nicht er bestimmt die Richtlinien. Der Bundeskanzler betont zur Zeit nur immer wieder, dass gespart werden müsse. Nur so und erst dann könne die Bundeswehr ihren Aufgaben nachgehen. Freilich braucht Schröder sich nicht festzulegen, denn er wartet den Bericht der Kommission zum Umbau der Bundeswehr ab, der im Mai nächsten Jahres vorgelegt werden soll. Auch Verteidigungsminister Scharping spricht unermüdlich vom Sparen. Das heißt aber nicht, dass er gegen Cohen auftritt. Er glaubt nur, ein größerer Militärbeitrag Deutschlands lasse sich auch ohne Mehrausgaben allein dadurch erzielen, dass die Truppe sich effizienter und wirtschaftlicher organisiere. Diese Hoffnung ist nicht aus der Luft gegriffen, Scharping konnte zum Beispiel darauf verweisen, dass die Privatisierung aller Energie-Dienstleistungen der Bundeswehr in Bayern zu einer Kostenersparnis von 35 Prozent geführt hat. Wer weiß, ob er nicht mit allem, was er plant - Controlling, Market Testing, flexible Budgetierung und so weiter -, seine Ankündigung tatsächlich wahr macht, der Bundeswehr die modernste deutsche Verwaltung zu geben. Er führt allerdings nur weiter, was sein Vorgänger Rühe schon begonnen hat. Ist er nicht doch zu vollmundig? Wie dem auch sei - aus seinen Plänen spricht kein Widerstand gegen Washingtons Führung, auch nicht gegen die amerikanische Definition der westlichen Interessen. Und wenn das Sparen nicht reicht, haben er und Schröder sich eben geirrt, dann muss die Truppe eben doch mehr Steuergeld bekommen.
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