Keine Spur von Panik

Kassandra-Realismus Der irakische Sommer in den Augen Peter Scholl-Latours

Peter Scholl-Latour, 80 Jahre alt, hat noch längst nicht genug. Emotion und Intensivität, für die er die schlimmsten Reisestrapazen auf sich nimmt, machen ihm "das Leben erst lebenswert", und noch wenn er einst seine "Memoiren im Rollstuhl verfassen" wird, wird ihm das "größte Abenteuer" bevorstehen, der Tod. Das teilt er in seinem neuesten Buch Weltmacht im Treibsand. Bush gegen die Ayatollahs mit. Zwei Jahre zuvor konnten wir schon lesen, wie er inmitten einer Tötungsorgie irgendwo im afghanischen Nordwesten - Aufständische hatten im April 1990 Vertreter der prosowjetischen Regierung in die Falle gelockt - "mit Befriedigung feststellte, dass mich keine Spur von Panik erfasste, dass ich eine seltsame Distanz zu dem Gemetzel bewahrte"; während die Stoppeln des Getreidefeldes sein "Gesicht kitzeln", fällt ihm ein Goethe-Zitat ein.

Dass es einen solchen Mann mit Stolz erfüllt, als Kassandra zu gelten, lässt sich begreifen. Man muss deshalb seine Analysen mit Vorsicht genießen. Aber lesenswert sind sie allemal. Afghanistan, Iran, Irak und noch mehr: Scholl-Latours intime Landes- und auch Sprachkenntnisse, Freundschaften mit Einheimischen, langjährige Kontakte zu Warlords wie hochrangigen Politikern haben ihm eine einzigartige Übersicht verschafft. Wenn man das jüngste Buch gelesen hatte, war man auf den irakischen Sommer gut vorbereitet. Der Aufstand Muqtada-al-Sadrs wird gleichsam vorab beschrieben. Wir erfahren, dass er schon damals vom Großayatollah Sistani gebremst wurde. Inzwischen hat er sich ja erneut zurückpfeifen lassen.

Al-Sadr ist ein Volkstribun und tritt in die Fußstapfen eines namhaften Vaters, aber seine eigene religiöse Karriere ist über untere Weihen nicht hinausgekommen: Er weiß selber, dass deshalb seine Autorität begrenzt ist. Scholl-Latour glaubt zwar in der ganzen schiitischen Region ein beginnendes Aufbegehren der jungen Geistlichen gegen die "zögerlichen Greise" wahrzunehmen, aber im Irak wenigstens steht auch die realpolitische Einsicht auf Seiten der Ayatollahs. Diese wollen den Amerikanern keinen Vorwand gegen das Schiitentum liefern. Sie warten ab, ob das Demokratieversprechen eingehalten wird, das ihnen die Macht bescheren müsste. Erst wenn es gebrochen ist, schlägt die Stunde des Heiligen Krieges. In diesem Zusammenhang erinnert Scholl-Latour daran, dass die hohen Geistlichen den von den USA eingerichteten Governing Council immer anerkannten, eben aus taktischen Gründen. Es ist also gar nichts grundstürzend Neues, dass Sistani jüngst für den neuen Ministerpräsidenten Allawi lobende Worte fand.

Wenn das die Konstellation ist, können die derzeitigen Kämpfe und Anschläge im Land nicht auf schiitische Kräfte zurückgeführt werden. Zur al Qaida meint Scholl-Latour, sie habe im Irak keine Chance, weil dort nur Einheimische als Kampfgenossen akzeptiert würden. So kommen nur Restkräfte des Saddam-Regimes in Frage. Aber worum mögen sie kämpfen? Scholl-Latour ist sicher, dass Saddams Generalstab schon heimlich den Kapitulationsvertrag unterzeichnet hatte, als die Amerikaner in Bagdad einmarschierten. Die Truppen wurden nach Hause geschickt, wohlgemerkt mit Waffen. Nur im Süden gab es Truppenteile, die von der Kapitulation nichts wussten. In Bagdad aber war nicht einmal der Flughafen unbenutzbar gemacht worden. Man könnte nun vermuten, dass Saddams Offiziere darauf warten, von den Amerikanern wieder in den Sattel gehoben zu werden. Um das zu erreichen, üben sie militärischen Druck aus. Das ist nicht Scholl-Latours Gedanke, aber er beschreibt die erstaunliche Systematik, ja Planmäßigkeit, die den Stufen des militärischen Widerstands eigen ist. Und vor allem zeigt er, dass den Amerikanern kaum etwas anders übrig bleibt als eine solche Rückgabe der Macht. Die Alternative wäre, dass sie der Machtübergabe an die Ayatollahs zusehen.

Das kann sich Scholl-Latour nicht vorstellen. In diesem Fall kämen die Amerikaner zwar fast ohne Gesichtsverlust aus dem Land wieder heraus. Sie ließen nicht einmal unbedingt einen Gottesstaat zurück. Denn wie die Ayatollahs wissen, ist das iranische Modell längst in der Krise. Manche sagen sich schon: Wenn Geistliche den Staat führen, wird zuletzt die Religion selber für politische Misserfolge haftbar gemacht. Ein al-Sadr schwört allerdings noch auf Khomeinis Vorbild. Aber die Amerikaner müssten so oder so einen hohen Preis zahlen. Denn auch gemäßigte Führer eines schiitisch dominierten Staates würden ihnen keinesfalls das Öl überlassen und wären nicht zu einem Friedensvertrag mit Israel zu bewegen, sondern stünden offen auf der Seite der Hizbullah.

In seinem letzten Buch Kampf dem Terror - Kampf dem Islam hatte Scholl-Latour noch geschwankt zwischen der Ablehnung des Irakkrieges und der Angst vor der "Gebärfreudigkeit" der islamischen Weltregion. Er warnte deshalb in drastischen Tönen vor dem EU-Betritt der Türkei. Umso bemerkenswerter, dass sich das Buch von 2004 gleichwohl zu der Position durchringt, Europa habe mit "volksnahen" islamischen Regimes einen nüchternen Interessenausgleich zu vollziehen, statt ihre Zurückdrängung zu versuchen. Die Position scheint isoliert genommen vernünftig. Aber es wird nicht klar, ob Scholl-Latour die Sprengkraft nicht sieht, die sie im Zusammenhang mit seiner anderen Einschätzung erhält: Es werde, prophezeit er, zu einer Koalition zwischen den USA und Russland kommen, weil sie gemeinsame Gegner hätten, nämlich den Islamismus und China, während Europa, wenn es nicht schleunigst aus der NATO austrete, hier nur ein Anhängsel wäre und keinen geostrategischen Einfluss hätte. Wie soll sich das denn zusammenreimen? Russland, USA und Israel gegen Europäer, Chinesen und Islamisten?

Es gibt eine ganz andere Entgegensetzung, die für einen Kassandra-Realismus à la Scholl-Latour wahrscheinlich bloß ein Hirngespinst ist: den Kampf um Verrechtlichung nicht nur der innerstaatlichen, sondern auch der internationalen Beziehungen, in dem sich Europa, Russland und China gegen die USA durchsetzen müssten. Diesen Kampf gewinnen die Erstgenannten sicher nicht durch Austritte und bloße Distanzierung, sondern nur allenfalls im Bündnis mit den USA.

Peter Scholl-Latour: Weltmacht im Treibsand. Bush gegen die Ayatollahs, Propyläen, Berlin 2004, 345 S., 24 EUR

Peter Scholl-Latour: Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? Chronik eines unbegrenzten Krieges, Propyläen, München 2002, 496 S., 24,90 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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