„Tritt ein, sag Nein“, die Kampagne der Jusos zur Verhinderung der Großen Koalition, scheint sehr erfolgreich zu sein. Es kann zwar sein, dass viele Menschen mehr von der Debattenkultur angezogen wurden, die sich auf dem jüngsten Parteitag gezeigt hat, als von der Möglichkeit des Neinsagens. Aber dann hätten die Jusos das Verdienst, solche Menschen ermutigt zu haben. Der Parteivorstand der SPD hat die Legitimität der Kampagne in Zweifel gezogen. Verhindern konnte er sie nicht, aber einen Stichtag setzte er fest: Bis 6. Februar, 18 Uhr, muss eine Aufnahmebestätigung durch den Ortsverein vorliegen, um am Entscheid über die Koalition teilnehmen zu können. Es stellt sich nun die Frage nach der Legitimität des Stichtags.
Seine Setzung legt nahe, es sei unzumutbar, jemanden mit abstimmen zu lassen, der oder die noch während des Abstimmungszeitraums einträte. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Die Kontroverse, um die es geht, hat doch ihrerseits einen Zeitraum von vier Jahren, eine ganze Legislaturperiode, zum Gegenstand. Warum soll es dann wichtig sein, wann genau jemand eintritt im Verlauf des Monats Februar, um die Große Koalition verneinen oder bejahen zu können? Welches Bild vom Wesen einer Partei steht hinter der Stichtagsetzung? Etwa das Marktmodell von Politik, das ja ohnehin ständig Boden gewinnt?
In diesem Modell, das bis auf Max Weber zurückgeht, erscheint eine Partei als ein Unternehmen, das mit anderen Parteien gleichsam um Verkaufsanteile ringt, als welche sich die Stimmanteile dann darstellen. Der Profitmaximierung der Unternehmen entspräche die Stimmenmaximierung. Eine solche Partei sollte eine breite freiwillige Mitgliedschaft am besten gar nicht haben, weil sie die Flexibilität und Schlagkraft des Verkaufskonzerns tendenziell behindert. Denn Mitglieder stellen Forderungen und diese greifen in die unternehmerische Dispositionsfreiheit ein. Das Leid die SPD-Führung um Martin Schulz ist tatsächlich von dieser Art. Es geht darum, ob die Autorität der „flexiblen“ Wendungen des Vorsitzenden erhalten bleiben kann oder nicht: von der „Großen Koalition unter meiner Führung“ über das entschiedene Nein bis zum ebenso entschiedenen Ja, alles in wenigen Monaten!
Das Problem ist nur: Es geht gar nicht um Stimmenmaximierung. Denn die hätte für einen konsequenten, nachhaltigen Kurs gegen die Große Koalition gesprochen, seitdem der „Schulz-Hype“ vor einem Jahr schon einmal eine Eintrittswelle ausgelöst und auch dazu geführt hatte, dass die SPD die Union kurzzeitig in der Wählergunst überholte. Ursache war der Abschied von der Agenda 2010, der sich damals anzudeuten schien. Das Kontinuierliche am Zickzackkurs der Parteiführung ist aber offenbar das Festhalten an der Agenda. Wenn man ihre Handlungen im Marktmodell interpretiert, betreibt sie Stimmenmaximierung nicht für die SPD, sondern für die Große Koalition, die schon immer das Subjekt der Agenda gewesen ist.
Die Jusos handeln nach einem anderen Modell. Sie halten noch daran fest, dass Parteien den Willen der Wähler aufnehmen und in politische Entscheidungen übersetzen sollen. Das gelingt desto besser, je mehr wählende Bürger auch Parteimitglieder werden, denn dann nehmen diese nicht nur an Abstimmungen teil, sondern auch daran, wie die Abstimmungsfragen formuliert werden. Tatsächlich geht darum in Wahrheit die derzeitige Kontroverse innerhalb der SPD. „Große Koalition ja oder nein“ ist nur die Oberfläche der Kontroverse. Was dahintersteht, hat die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles in ihrer Parteitagsrede formuliert: Ist die SPD dazu da, für „das Kleine“ zu kämpfen? Was unausgesprochen hieß: für kleine Verbesserungen innerhalb der fortgesetzten Agenda-Politik, für welche die Große Koalition steht? Oder soll die SPD zu dem zurückkehren, was vor Gerhard Schröder sozialdemokratische Politik gewesen ist? Dann würde man „das Kleine“ in einem anderen Rahmen durchsetzen als dem, den eine Kanzlerin Angela Merkel absteckt.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die SPD eine Austrittswelle erlebte, schon als Gerhard Schröder die Praxisgebühr bei Arztbesuchen durchgesetzt hat. Das war noch vor der Agenda, kündigte sie aber bereits an.
Jetzt kommt Kevin
Dass die Front nun zwischen dem Vorstand und den Jusos verläuft, hat eine über die Stichtag-Frage noch weit hinausreichende Bedeutung. Denn egal wie die Mitgliederabstimmung ausgehen wird, der Streit wird nicht enden. Er dreht sich um eine Frage, die an und für sich mit dem Unterschied „jung oder alt“ gar nichts zu tun hat. Und doch ist es kein Zufall, dass er sich mit ihm verbindet. Man braucht bloß nach England zu schauen. Dort hat sich eine analoge Kontroverse mit der Figur Jeremy Corbyns verbunden, der längst nicht mehr jung ist. Auch das war kein Zufall: Corbyn war gleichsam ein Überlebender der Zeit, bevor die Labour Party von Tony Blair, gegen den er stets gekämpft hatte, gewendet worden ist. Dass Einzelne übrig bleiben und eine Rückkehr zu verdrängten Problemlagen ermöglichen, ist ein typisches strukturelles Phänomen politischer, überhaupt gesellschaftlicher Entwicklung. Aus diesem Grund hat ein Adorno so große Bedeutung erlangen können. Er war ja, unfreiwillig zwar, in der Sache aber nachvollziehbar, ein wichtiger Stichwortgeber der 68er Revolte in Westdeutschland. Die SPD hat aber solche Überlebenden nicht mehr zu bieten. Deshalb kann ein Aufbruch zur Rückkehr nur von der Parteijugend ausgehen.
Und wiederum ist das ist kein Zufall. Man kann es mit dem Unterschied der Wahlsysteme erklären. In Großbritannien gilt das Mehrheitswahlrecht. Da hätten Parteiaustritt und -neugründung Corbyns Sache nichts genützt. Wenn aber wie in Deutschland das Verhältniswahlrecht gilt, liegt es für einen Oskar Lafontaine nahe, eben das zu tun. Er wäre der politisch Überlebende, den die SPD jetzt brauchte. Wenn aber stattdessen „nur“ die Parteijugend für genuin sozialdemokratische Politik kämpft, liegen darin vielleicht sogar noch mehr Chancen. Wie schnell konnte sich Kevin Kühnert, der erst Ende November 2017 Juso-Vorsitzender wurde, profilieren! Er ist nur drei Jahre jünger als Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.
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