Muslimische Immigranten nötigen uns dazu, die Frage neu zu bedenken, wie Linke es mit der Religion halten. Auf der Flucht vor einem grausamen Krieg sind Hunderttausende zu uns gekommen, die einerseits die linke Bereitschaft zur Solidarität einfordern, viele von uns aber andererseits daran erinnern, dass sie doch eigentlich Religionsfeinde sind. Sind wir schon über die Rolle der Kirchen in unserer Gesellschaft empört, wird uns nun auch noch Hilfsbereitschaft Menschen gegenüber abverlangt, die dem Islam folgen, einer Religion, die bei einigen sogar als „besonders schlimm“ verschrien ist.
Manche Debatten unserer Tage zeigen denn auch, dass eine bedenkliche Schnittmenge entstanden ist zwischen nicht wenigen Linken und der AfD, deren Schlachtruf „Gegen die Islamisierung des Abendlands“ sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Und derweil verliert die Linkspartei Protestwähler. Sie ist über einen Antrag zerstritten, der die große Losung der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, durch „Freiheit, Gleichheit, Laizität“ ersetzen will.
Können sich Religionsfreie vorbehaltlos auf die Seite muslimischer Flüchtlinge stellen? Müssen sie nicht erst einmal deren Religion angreifen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt vieles ab. Wie so oft aber steht die Frage selbst schon ihrer Beantwortung im Weg, weil sie eine Differenz überspringt. Denn es gibt zwei sehr verschiedene Arten, religionsfrei zu sein, die liberale und die marxistische. Liberale sind seit der Französischen Revolution Religionsfeinde gewesen. In Italien bekämpften sie erbittert den Kirchenstaat und reduzierten ihn auf den Vatikan. Vor der Revolution hatten viele ihrer Vorgänger, der Aufklärer, noch eher versucht, das Christentum neu zu interpretieren, besonders Immanuel Kant mit seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Da aber der Katholizismus, in seiner Existenz bedroht, sich darauf nicht einließ, verhärteten sich die Fronten.
Der Zug zur Selbstvergottung
Karl Marx ließ sich davon nicht beeindrucken. Er sah religiöse Menschen als Ansprechpartner, weil sie unter dem Zustand der Welt litten, für deren Änderung er kämpfte und schrieb. Diese Menschen machten sich freilich Illusionen, suchten eine Lösung ihrer Probleme im Himmel statt auf Erden, doch war das kein Grund, ihnen feindlich zu sein. Marx schlug keinen Zurückdrängungs- und Vernichtungskampf gegen die Religiosität der Massen vor, sondern meinte, in einer besseren Welt würden religiöse Illusionen von selbst verschwinden, weil sie ihren Sinn verlören. Er griff vielmehr das Kapital an, das von den Liberalen gerade verteidigt wurde
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstand eine neue Konstellation. In der SPD häuften sich die Stimmen, die ein Bündnis im Reichstag mit den Sozialliberalen wollten. Diese hatten sich von den Nationalliberalen abgespalten und traten nach 1910 vermehrt unter dem Namen „Linksliberale“ auf. Marxisten, die sich „Linke“ nannten, hatte es bis dahin nicht gegeben. Rosa Luxemburg wehrte sich noch gegen den „gemeinsamen Block aller Linken“, in der Folgezeit aber wurden sich Sozialdemokraten und Sozialliberale immer ähnlicher. Dass bei der Annäherung die gemeinsame Religionslosigkeit eine Rolle spielte, war 1959, als ein Parteitag der SPD das Godesberger Programm beschloss, unübersehbar. Die Genossen waren viel eher bereit, zur Marktwirtschaft und zur NATO zu konvertieren, als dem Passus im Programmentwurf zuzustimmen, der die Religion als mögliche Quelle sozialdemokratischer Politik anerkannte. Über ihn gab es den erbittertsten Streit.
Wenn dieser Streit heute wieder auflebt, wie soll man sich dazu verhalten? Der Verfasser dieses Texts kann nicht beanspruchen, sich „als Linker“ zu äußern, der über der Differenz von Sozialliberalismus und Marxismus schwebt. Er denkt auch sozialliberal – noch mehr aber marxistisch. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist nicht das Christentum und noch weniger der Islam, sondern der Kapitalismus das Hauptobjekt der Religionsfrage. Dass der Kapitalismus eine Art Religion ist, wird in Marx’ Analyse immer wieder deutlich. Er spricht vom „Fetischcharakter“ des Geldes, ja von seinen „theologischen Mucken“ und bezeichnet die Einkommensquellen Kapital-Zins, Boden-Grundrente und Arbeit-Arbeitslohn als „trinitarische Formel“, die das allem Einkommen Gemeinsame verdeckt: kapitalistischer Ausbeutung zu entspringen.
Noch deutlicher macht es Walter Benjamin 1921 in der Skizze Kapitalismus als Religion. Benjamin argumentiert, dass es Religionen ohne Theologie oder Mythen gibt, die sich in einem Kult erschöpfen. Und es ist wahr, religio bedeutet weiter nichts als „gewissenhafte Erfüllung“ – der Regeln nämlich, mit denen sich jeder Kult panzert. Wurde, wenn geopfert wurde, nur die nebensächlichste Regel unabsichtlich verletzt, musste der ganze Vorgang wiederholt werden. Was die Regel überhaupt bedeutete, danach fragten die Menschen nicht, auch wenn sich manche Religionen im Nachhinein mit rationalisierenden Mythen umgaben. Nun weiß auch jeder Arbeiter, der vom Kapital ausgebeutet wird, und jeder Unternehmer, der sich in der Konkurrenz behaupten muss, dass er rausfliegt, wenn er nicht „gewissenhaft erfüllt“.
Der Kapitalismus gibt sich keine Theologie, aber Benjamin sucht sie dennoch herauszufinden. Ausgehend von der Zweideutigkeit, dass Geld-„Schulden“ und moralische „Schuld“ vergleichbar zu sein scheinen, vermutet er hinter der kapitalistischen Akkumulationsgeschichte eine Figur christlicher Theologie, die etwa auch Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus diskutiert: sich dem Gott geneigt zu machen, indem man unendlich viel Schuld auf sich häuft. Für einen Allmächtigen, hofft man, müsse es verlockend sein, selbst hier noch zu vergeben. Benjamin sagt, es werde verdeckt, um welchen Gott es sich handle; am Ende soll wohl eine jetzt noch uneingestandene Selbstvergottung herauskommen.
Das aber führt zu Marx zurück, denn dessen Kapitaldefinition – „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen“ – erinnert daran, dass der christliche Gott seit dem Beginn der Neuzeit, die den Kapitalismus letztlich hervorbrachte, als der Unendliche begriffen wurde. Die Bibel hatte ihn noch als „den Anfang und das Ende“ verstanden.
So erscheint das kapitalistische „Wachstum“ als eine Art christliche Häresie, indem es wie das neuzeitliche Christentum zum Unendlichen strebt, aber den Satz „Und vergib uns unsere Schuld“ abwehrt wie der Teufel das Weihwasser – wer seine Schulden nicht zurückzahlt, erleidet die Zwangsräumung und stürzt sich vielleicht vorher aus dem Fenster.
Welche dieser Religionen bedroht die Menschen wohl mehr? Egal ob es Deutsche oder beispielsweise Syrer sind? Darin, dass die Gesellschaft solidarisch sein soll, sind sich Sozialliberale und Marxisten doch immer einig gewesen. Manche freilich verwickeln sich in einen Hauptzug neuzeitlicher liberaler Philosophie: dass sich alles in ihr um die Selbstbestimmung dreht, damit aber auch um die Selbstbehauptung. Es scheint manchmal, als bestünde zwischen diesen beiden Begriffen gar kein Unterschied. Dabei kann mich doch gerade meine Selbstbestimmung dahin bringen, dass ich ein paar Zacken meiner Krone abbreche und anderen zur Verfügung stelle.
Eine Verständigungslinie
Richtig fatal wird es, wenn jene Philosophie kollektiv verstanden wird und etwa auf den Standpunkt hinausläuft, das reiche Deutschland könne sich nur „abendländisch“ selbstbestimmen, wenn es sich gegen muslimische Ausländer „behaupte“. Doch wäre dies ja eine nationalliberale Volte. Sie wäre nicht nur mit dem marxistischen Internationalismus gänzlich unvereinbar, sondern könnte auch nicht einmal mehr „links“ genannt werden.
Als Hitler in Deutschland herrschte, hat der kommunistische Dichter Bertolt Brecht für sich notiert, der Nationalsozialismus sei ein Neuheidentum und als solches rückständiger als das Christentum, das sich „heute“ zudem „in einen sehr fruchtbaren Kampf mit seinen eigenen heidnischen Residuen verwickelt“ sehe. Deshalb müssten sich die Kommunisten mit den Christen gegen die schlimmere Religion verbünden. Ist das nicht die Linie, auf die sich auch alle „Linken“ verständigen sollten? Es gibt jetzt auch Muslime, die unter „heidnischen Residuen“ ihrer Religion leiden. Man denke nur an Navid Kermani. Sollten wir sie nicht unterstützen? Kommen denn schlimme Religionen nur noch von außen zu uns? Von der schlimmsten, dem Kapital, lassen wir uns selbst beherrschen.
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