Kommunismus ohne Geheimdienst?

Zentralistisch Christel Wegner und viele andere haben sich mental noch nicht von der Sowjetunion gelöst

Es gibt gute Gründe, den Weg in eine andere, bessere Gesellschaft zu suchen. Ob er gefunden werden kann, hängt von vielem ab - Engagement, Problembewusstsein und die Kräfteverhältnisse spielen eine Rolle. Es ist aber auch eine Frage der Denkform. Wo nehmen die Menschen hierzulande sie her? Der Fall der niedersächsischen Landtagsabgeordneten Wegner, DKP, legte uns diese Frage nahe. Die Denkform hat im Marxismus immer als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand gegolten. Sie heute zu untersuchen, ist offenbar höchst notwendig: Weil Menschen, wenn sie den besseren Weg suchen, nicht selten immer noch in Diskursen denken, die man "östlich" zu nennen versucht ist. "Östlich" kann allerdings nur eine erste Annäherung sein. Mit Ost und West hat das gar nichts zu tun. Es ist richtiger, von der Denkform der kapitalistischen Peripherie zu sprechen.

Diese Form entstand in Ländern wie Russland aus charakteristischen ökonomisch-politischen Zuständen, die sich von denen der kapitalistischen Metropolen - dem so genannten Westen - grundlegend unterschieden. Analoge Zustände wurden auch in China, Vietnam oder Kuba zum Zeitpunkt der dortigen Revolutionen vorgefunden. In diesen Ländern hatte die wirtschaftliche und staatliche Macht beim Großgrundbesitz gelegen. Das war eine Macht, die ökonomisch in Verhältnissen direkter persönlicher Abhängigkeit ausgeübt wurde. Dem entsprach eine zentralistische, militarisierte Form der Staatsmacht. Als Kommunisten zuerst in Russland an die Macht kamen, revolutionierten sie zwar nicht nur die Ökonomie, sondern setzten auch eine neue Staatsform an die Stelle der alten. Aber durch die neue Form schimmerte die alte in vielem noch hindurch. Konkurrierende Parteien durfte es nicht geben, dafür waren Geheimdienst und politische Polizei umso mächtiger - das war schon im Zarismus nicht viel anders gewesen. Der Sowjetstaat trug dessen "Muttermale". Es stand ihm auch gar nicht frei, daran so bald etwas zu ändern. Denn er musste sich in der Tat gegen einen Feind zur Wehr setzen, der übermächtig war, weil er von den Metropolen aus agierte.

Nun ist es eine Sache, in einer Situation nicht anders handeln zu können als so, wie man es vielleicht selbst problematisch findet, eine andere jedoch, die Situation nach und nach als selbstverständlich zu erleben - also nicht mehr als Situation, sondern als scheinbare Natur der Dinge, die dem Denken zeigt, wie "es zu sein hat". In der Sowjetunion war beides nacheinander der Fall. Zuerst warteten die Bolschewiki noch darauf, dass die Revolution in Deutschland erfolgreich sein werde; sie dachten, Deutschland gebe dann die Linie des kommunistischen Aufbaus vor, und sie würden sich daran orientieren. In dieser Zeit kam niemand auf die Idee, die Sowjetunion zum weltweiten Modell zu machen. Wenige Jahre später geschah es aber doch, und dann holte man bis zum Ende der Sowjetunion die designierten Führungskader aller KPs der ganzen Welt nach Moskau und schulte sie dort jahrelang, bevor sie, wieder zuhause, ihre Parteiämter antreten durften.

So breitete sich eine in der Sowjetunion entstandene Denkform auch unter westlichen Kommunisten aus. Man kann es exemplarisch anhand des so genannten Demokratischen Zentralismus erläutern. Dies war eine Organisationsform des Staates und der Partei, in der die Führung die Basis kontrollierte statt umgekehrt. Ob in Westdeutschland, England, Frankreich oder den USA, überall organisierten sich die Kommunisten auf diese Weise. Sie setzten sich damit in Gegensatz und Gegnerschaft zu den Verfassungsprinzipien der bürgerlichen Republik, die ihre eigene Lebenswelt bestimmte. Und sie dachten in dieser Gegnerschaft. "Demokratisch", dachten sie, sei gut und schön, aber die Einheit werde ja nun einmal vom Zentralismus bewirkt, und einheitlich zu bleiben sei schließlich das Wichtigste. Es kam diesen Menschen ganz selbstverständlich vor, das heißt sie betrachteten es als eine Art Naturtatsache, dass Einheit und Zentrale zusammengehörten, während Demokratie ohne zentralistische Übergewalt nur zum Zerfall tendieren könne. Es gab auch Parteimitglieder, die anders dachten, aber sie wurden nicht einmal verstanden - das ist es, was ich eine Denkform nenne. Diese Andersdenkenden fragten zweifelnd, ob Einheit nicht mindestens ebenso sehr ein Effekt der Demokratie wie des Zentralismus sei: Das klang ja, als ob sie für den Zerfall plädieren wollten - mit anderen Worten, bürgerliche Agenten waren!

Und sie waren es wirklich in gewisser Weise, weil ihre Vorstellung vom Einheits-Gelingen sich an den bürgerlichen Verfassungsprinzipien orientierte. Aber nach derselben Logik hätten sie ihrerseits die anderen, die den Ton angaben und sich Einheit nur als Folge von Zentralismus vorstellen konnten, als "zaristische Agenten" bezeichnen können. Denn es gab nur diese beiden Möglichkeiten: Kommunistische Politik musste neu erfunden werden, was entweder als Entwicklung über den Zarismus hinaus oder als Entwicklung über die bürgerliche Demokratie hinaus geschehen konnte. Wäre es nicht besser gewesen, wenn Kommunisten, die in der bürgerlichen Republik lebten und kämpften, immer vereint das letztere getan hätten?

Wer mit der zentralistischen Denkform bewaffnet war, hielt solche Fragen für bürgerliche Ideologie. Denn was das Bürgertum als Demokratie darstelle, sei doch nur Schein. Diese Menschen machten sich nicht klar, dass die Republik, mit der sie es zu tun hatten, zwar in der Tat "die Diktatur der Bourgeoisie" war, wie Marx und Engels formulieren, ebenso aber auch das Resultat Jahrhunderte langer, nie abreißender Kämpfe - "die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses", um mit Nicos Poulantzas zu reden -, und dass daher auch die Volkskräfte in der Verfassung diese und jene Spur hinterlassen haben mussten. Pressefreiheit, Mehrparteiensystem und so weiter gehörten dazu. Und das war genau der Unterschied: Im Zarismus gab es kaum solche Spuren. Die Duma zum Beispiel war nicht der Rede wert.

Marx jedenfalls wollte nicht den Zarismus, sondern die Diktatur der Bourgeoisie überbieten, als er über kommunistische Demokratie nachdachte. Genauer zu sprechen, scheint er sich geradezu an den USA orientiert zu haben, deren politische Verfassung ihm Tocquevilles Buch Über die Demokratie in Amerika nahe gebracht hatte. Denn zum Beispiel Tocquevilles Satz "In Amerika leiht die Gemeinde ihre Beamten an die Staatsregierung aus" kehrt in seinem Kommentar zur Pariser Commune, die für ihn das Modell der "Diktatur des Proletariats" war, fast wörtlich wieder. Theodor Eschenburg hat solche Parallelen schon 1959 bemerkt.

Wie kommt es nur, dass Marx angesichts einer von Feinden umzingelten Commune nicht vor allem nach dem mächtigen Geheimdienst ruft, und das in einer Schrift über die Diktatur des Proletariats? Er dachte eben nicht zentralistisch. Die fixe Idee vom Geheimdienst zeigt, was es heißt, zentralistisch zu denken. Man befürchtet den Zerfall des Gemeinwesens, und was wird dagegen getan? Nun, man lässt Männer der Zentrale ausschwärmen, damit sie erstens die gefährlichen Zonen beobachten und zweitens gefährliche oder gefährdete Menschen in eine Kommunikation verwickeln, deren Taktik und Strategie von diesen nicht durchschaut werden kann. Beobachtung von außen und asymmetrische Kommunikation - das genaue Gegenteil davon, wie die bürgerliche Republik ihren Zerfall verhindert. Zwar verfügt auch sie über einen Geheimdienst, aber er ist es nicht, der die Einheit der Republik bewirkt. Die Einheit ist hier vielmehr der Effekt wechselseitiger Beobachtung und symmetrischer Kommunikation: Die SPD beobachtet die CDU und umgekehrt, die eine Partei beschuldigt die andere und umgekehrt. Wer in solchen Verhältnissen lebt, weiß, dass es kein rätselhaftes Wunder ist, wenn allein dadurch schon Einheit entstehen kann. Es ist in der Politik nicht anders als in der privaten Beziehung: Ein Paar, dessen sei´s auch schwierige Kommunikation nicht abreißt, bleibt zusammen.

Natürlich gibt es Gegenwirkungen, die das schöne Bild stark relativieren und fast zerstören. Wir erleben zum Beispiel, dass SPD und CDU versuchen, die Linkspartei aus der Kommunikation "auszugrenzen". Und wir wissen sehr gut, dass auch hierzulande der Zentralismus, ja die pure Gewalt an der Einheit wesentlich mitwirken. Aber es ist doch nicht so, dass Gewalt und politische Ausgrenzung die Hauptrolle spielen. Das tun sie nur in der revolutionären Situation, und gerade da ist der Ausgang unsicher. Schließlich und vor allem bestreiten wir nicht, dass die Bürger genug zum Essen und Wohlleben haben müssen - das ist zweifellos die erste Bedingung ihrer Einheit. Aber auch davon dürfen wir in unserem Kontext absehen. Denn hier untersuchen wir, wie es in der Zukunfts-Gesellschaft der Metropolen um die Einheit steht. Nicht in der Peripherie, nicht dort also, wo erst einmal die Hungersnot besiegt werden muss! Warum sollte eine neue Gesellschaft des Westens nicht über genügend materielle Ressourcen verfügen? Und wo sollen da die übermächtigen Feinde herkommen, die in unsere Reihen einsickern und "Verwirrung stiften", es sei denn, wir wehren uns geheimpolizeilich?

Niemand soll also auf die Frage, wie Kommunismus und Stasi zusammengehören, mit Nachdenken nur über eine vielleicht etwas andere Art von Geheimdienst reagieren. Vielmehr soll man antworten: Die Stasi war keine für den Kommunismus typische, ihn charakterisierende Institution; sie hat ihre Quelle in Zuständen der Peripherie, die nicht unsere Zustände sein werden. Auch daran müssen wir freilich denken, dass es die Peripherie immer noch gibt: China, Kuba und so weiter. Die Verquickung von sozialistischem Weg und antidemokratischen Methoden steht uns auch heute noch vor Augen. Was wir aber gelernt haben könnten: Man soll zwar, jedenfalls nach Prüfung der näheren Umstände, mit solchen Gesellschaften unbedingt solidarisch sein, für sie eintreten, vielleicht für sie kämpfen - Kritik immer inklusive, siehe Rosa Luxemburgs Kritik an Lenin. Aber ihre Denkform soll man nicht übernehmen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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