Für jemanden wie mich, der immer in Westberlin gewohnt hat, hatte der Fall der Mauer etwas Angsterregendes. Westberlin war riesengroß, ich fühlte mich da nicht beengt, hatte Wälder und Seen, bewegte mich hin und her zwischen Stadtbezirken, die eigentlich Teilstädte waren. Ausflüge nach "drüben" hatten immer zu kafkaesken Erlebnissen geführt, so als ich mich einmal anschickte, in Potsdam ein Mosaik zu fotografieren, das Marx' Satz über die "Ökonomie der Zeit" allegorisierte. In der sonst menschenleeren Nebenstraße stand gegenüber ein Mann, der nun zu mir trat und mich festnahm. Was mir denn einfiele; wisse ich denn nicht, dass geheime Gebäude nicht fotografiert werden dürften, und sähe ich nicht an diesem hier die Fenster ohne Gardinen, ein untrügliches Zeichen des Geheimen. Hereingeführt, stand ich vor einer Art Hoteltresen und wehrte mich wütend: Ich sei Kommunist. Der Hotelier, oder was immer er war, erwiderte jammernd, er traue sich nicht, mich freizulassen, denn vor ein paar Wochen erst sei er wegen einer solchen Eigenmächtigkeit gerügt worden. Er ging ans Telefon, suchte seinen Führungsoffizier aufzutreiben. Währenddessen besann ich mich, dass ich das Foto ja gar nicht abgeschossen hatte, wollte das wütend meinem Nachbarn am Tresen zeigen. Der hob beide Hände und sagte, er habe damit nichts zu tun. Nach ein paar Stunden durfte ich gehen. Ich hatte mit einer Freundin, die sich gleichzeitig einer Stadtführung unterzog, Treffpunkt und Treffzeit verabredet, die nun nicht mehr einzuhalten waren, wir fanden nicht zueinander.
Und jetzt brach also die Differenz von Hüben und Drüben zusammen. Wenige Wochen vor dem Mauerfall hatte ich, völlig verstört, in Westberlin eine konzertante Aufführung der Oper "Friedenstag" von Richard Strauss mitangehört. In Anwesenheit des Bundespräsidenten und seiner Frau wurde der Satz gesungen: "Verbrenne die Mauern, schließe uns ein." Ich fand heraus, diese Oper war einmal von NS-Journalisten dafür gerühmt worden, dass Strauss in ihr erstmals "nationalsozialistisches Ethos" gestaltet habe. Was erlebte ich denn da? Meine Stimmung war flau, als der große Tag nahte. Ich konnte mich keiner Wiedervereinigungsbegeisterung rühmen. Am Tag vor der Nacht der Maueröffnung begann eine kleine Konferenz über Nicos Poulantzas, an der ich teilnahm. Dieser griechische Marxist, der in Frankreich gelebt und sich dort aus dem Fenster gestürzt hatte, galt uns als einer der Wenigen, die aus der Lehre von Marx nicht bloß einen Ökonomismus, sondern eine dezidiert politische Theorie herausgelesen hatten. Ihm zufolge musste man in politischen Systemen zwischen dem unsichtbaren "Block an der Macht" und der von ihm abhängigen, sichtbaren "politischen Bühne" unterscheiden. Zum zweiten Konferenztag fuhr ich, ohne die Morgennachrichten gehört zu haben. Auf dem Umsteigebahnhof Kottbusser Tor fielen drei oder vier seltsame Menschen auf, zum Beispiel eine stillvergnügte junge Frau.
Sie blickte an dem hässlichen Ort um sich, als befände sie sich in einer Gemäldeausstellung. Die Erklärung hörte ich in der Konferenz. Hier gab es nur noch ein Thema: Weitermachen oder zur Stadtmitte fahren? Das Sichtbare siegte über das Unsichtbare. Wir fuhren zur Stadtmitte und winkten fröhlich den fröhlichen Menschen zu, die auf der Mauer standen. Wahrlich auf einer Bühne, die mächtiger als der Machtblock geworden war. Ich weiß nicht, ob jemand später zu Poulantzas zurückgekehrt ist, ich jedenfalls nicht. War es wirklich der frühe Nachmittag desselben Tages, als ich mich mit einer Freundin zum Spaziergang im Tiergarten verabredet hatte, jetzt aber am Kottbusser Tor nicht mehr umsteigen konnte, weil er zugestopft war mit Menschenmassen? Ich lief zu Fuß zur nächsten U-Bahn-Station, dort war die Lage nicht anders. Taxifahren war auch schon unmöglich geworden. Ich fuhr zu meiner Neuköllner Wohnung zurück, um das Fahrrad zu holen, doch wieder am Kottbusser Tor angekommen, sah ich, inzwischen war auch an Radfahren nicht mehr zu denken. Menschen, Menschen und abermals Menschen, kilometerlang von Ost nach West, Richtung Kudamm. Was blieb mir übrig, als mich ihnen anzuschließen?
Nach ziemlich langer Zeit erreichte ich mit ihnen zusammen das Ziel. Der Kudamm ist sehr breit und sehr lang, er war so voll von Körpern, dass nirgends eine frei fallende Stecknadel dazwischengepasst hätte. Alle guckten wie die junge Frau am Morgen und waren genauso stumm. Was für eine Love Parade. Ich bekam Angst: Würde der Kudamm jetzt immer so voll sein? Selbst wenn nur ein Fünftel dieser Menschen jeden Tag kam, würde es niemals mehr der Kudamm sein, wie ich ihn kannte. Verbrenne die Mauern, schließe uns ein... Warum sah ich mir das überhaupt an? Dass ich die Freundin verfehlen würde, war seit Stunden klar.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.