Es ist möglich, dass der amerikanische Militärschlag gegen den Irak bereits im September erfolgt. Das ist nur eine Spekulation. Doch in der Politik sind Spekulationen nicht nur erlaubt, sondern geboten, wenn es darum geht, auf möglicherweise kurz bevorstehende Ereignisse rechtzeitig vorbereitet zu sein. So wäre es gut gewesen, wenn die US-Regierung kurz vor dem 11. September 2001 auf einige Anzeichen mit der Spekulation, es stehe möglicherweise ein Terroranschlag bevor, reagiert hätte - gewisse Geheimdienst-Meldungen, einen vorauseilenden Kult um das Datum "11. September" in ungefähr 20 Internet-Adressen und auch ein paar atypische Entwicklungen an der Börse. Solche werden heute wieder beobachtet. Ein in der FAZ unter der Rubrik "Finanzmärkte"sehr versteckter Artikel weist am 16. Juli darauf hin, dass an den Terminbörsen in London und New York ein atypischer Preisanstieg bei kurzzeitig fälligen Öl-Kontrakten zu verzeichnen sei. Börsianer fragen sich, ob da Kräfte am Werk sein könnten, die mit baldigen Versorgungsschwierigkeiten rechnen. Der Irak ist ein bedeutender Ölexporteur: Im Fall eines Krieges würde er die Ausfuhren vermutlich einstellen.
Diesen Zusammenhang einmal unterstellt, erscheinen einige Vorgänge in einem neuen Licht. So wird in dem Artikel erwähnt, dass die amerikanische Regierung Druck auf die Türkei ausübe, Neuwahlen nicht schon im November abzuhalten. Die US-Armee braucht die Türkei als Basis; wenn da mitten im Krieg islamistische Parteien obsiegen, droht eine gar nicht mehr berechenbare Eskalation. Nun schien es zeitweilig so, als habe sich der türkische Ministerpräsident Ecevit mit Neuwahlen im November schon abgefunden. Doch Ende vergangener Woche begann er wieder für einen späteren Wahltermin zu plädieren. Neuwahlen im November gibt es auch in den USA für einen Teil des Kongresses. Da Präsident Bush wegen der schlechten Wirtschaftslage und der Bilanzierungsskandale amerikanischer Unternehmen befürchten muss, die Wahlen könnten sehr zu seinen Ungunsten ausgehen, ist es möglich, dass er seine eigene Bilanz vorher durch einen erfolgreich anlaufenden Krieg verbessern möchte. So ein Krieg könnte dann bereits im September beginnen. Von da an erlauben es nämlich die klimatischen Bedingungen im Irak.
Der Gedanke scheint zunächst schwer fassbar zu sein, weil man doch seit längerem von der fast in aller Öffentlichkeit betriebenen Kriegsplanung des Pentagon weiß, die - wie immer wieder berichtet wird - auf einen Kriegsbeginn im nächsten Jahr ziele. Diese Berichte müssen aber vielleicht nicht wörtlich genommen werden. Der Umstand, dass die Kriegsvorbereitung nicht verheimlicht wird, ist zunächst weiter nichts als eine imperiale Machtdemonstration; schon der Golfkrieg von 1991 wurde in dieser Weise vorher angekündigt. Es wird den Akteuren nicht wichtig sein, vor allem das Datum zu verraten. Irgendein Überraschungsmoment gehört zu jeder Kriegsstrategie, selbst der imperialen. So hatte man vor dem letzten Golfkrieg nicht gewusst, dass die amerikanische Armee ihren Feind im Wüstensand zu begraben beabsichtigte. Diesmal könnte der Termin das Überraschende sein. Wie kommt es denn, dass just zu Wochenbeginn gemeldet wurde, britische Militärs hätten ihre amerikanischen Kollegen vor dem Krieg gewarnt?
Ziehen wir also die Möglichkeit ins Kalkül, der Krieg könne schon im September beginnen. Nun sind am 22. September Bundestagswahlen. Zwei Szenarien wären denkbar, die einander keineswegs ausschließen. Zum einen könnte sich die Konstellation von 1998 (Stichwort: Kosovo) wiederholen: Durch das Wahlergebnis designiert, steht eine neue, noch gar nicht vereidigte Regierung vor der Kriegsfrage, sieht sich unter Druck und glaubt auf die Frage nicht anders als bejahend antworten zu dürfen. Zum andern könnte ein Regierungswechsel dadurch geradezu herbeigeführt werden, dass der Krieg noch kurz vor dem 22. September beginnt. Die chaotische, wahrscheinlich nicht stimmenmaximierende Debatte, die im rot-grünen Lager ausbrechen würde, kann man sich ausmalen. Amerikanische Präsidenten haben schon häufig Mittel und Wege gefunden, Regierungswechsel in Deutschland zu begünstigen.
Wenn das zu erwarten ist, kann man sich darauf wiederum einstellen und für einen anderen Verlauf kämpfen. Da aber stößt man auf eine Tatsache, die auch ganz unabhängig von aller Spekulation beachtlich ist: Der bevorstehende Irakkrieg - er steht ja jedenfalls bevor, ob nun im September oder erst im nächsten Jahr - ist gar kein Wahlkampfthema! Ist das nicht völlig absurd? Warum setzen nicht wenigstens die kritischen Kräfte alles daran, das Thema auf die Agenda zu bringen? Gerade jetzt! Denn nie sind Herrschende mehr als in Wahlkampfzeiten gezwungen, sich auf Gespräche mit der Bevölkerung einzulassen. Ich habe bisher angenommen, dass beispielsweise die deutschen Gewerkschaften und auch die Kirchen diesen Krieg entschieden ablehnen. Warum formulieren sie das nicht in "Wahlprüfsteinen"? Und die PDS: Warum wiederholt sie nur immer wieder, dass sich Kriege nicht mit ihrem Werte-Verständnis vereinbaren lassen (Gabi Zimmer: dass die PDS Bombardements verurteile, sei "selbstverständlich", das habe etwas "mit humanistischen Werten" zu tun) - warum kündigt sie nicht an, bei jeglicher Unterstützung eines Irak-Kriegs durch die rot-grüne Bundesregierung sämtliche SPD-PDS-Koalitionen auf der Stelle zu beenden?
Dass es Möglichkeiten der Unterstützung eines Irak-Kriegs durch die deutsche Regierung gibt, entgeht im Moment einer schlafenden Öffentlichkeit. Zum einen stellt sich wie schon beim Golfkrieg von 1991 die Frage, wer es bezahlen soll. Damals hatte sich die Bundesregierung an der Finanzierung beteiligt. Die Regierung Schröder müsste jetzt - vor dem Wahltag! - deutlich erklären, dass sie zu keinerlei Kostenübernahme bereit ist. Zum andern wird die US-Armee im Kriegsfall auch Basen auf deutschem Boden benutzen wollen. Dies müsste ihr definitiv verboten werden. Sie hat kein Recht dazu, wenn es sich nicht um einen von der NATO getragenen Krieg handelt. Wird es ihr aber nicht verboten und werden außerdem die Kosten mitgetragen, dann bedeutet das: allem flauen und windelweichen Gerede zum Trotz, das die deutsche Regierung möglicherweise hören lässt, um die Öffentlichkeit zu täuschen, wird sie diesen Krieg an der Seite der USA mitführen.
Warum wird ihr das nicht um die Ohren geschlagen? Vielleicht liegt es daran, dass man sie, einer falschen politischen Taktik zufolge, schon längst öffentlich auf die Verräterbank gesetzt hat. Aber bis jetzt hat sie den Verrat, mag er auch zu erwarten sein, noch nicht begangen. Bei der viel geschmähten Vertrauensabstimmung des Kanzlers wurde der Bundestag nur aufgefordert, solchen Militäreinsätzen zuzustimmen, mit denen auch die Regierung des Landes einverstanden ist, auf dessen Boden sie jeweils stattfinden. Und das so oft getadelte Wort von der "uneingeschränkten Solidarität" hat nie bedeutet, dass die deutsche Regierung nicht versucht hätte, weitere Kriege abzubremsen. Sie hat es versucht.
Norbert Bierbaum, ein unverdächtiger Zeuge, schrieb vor Monaten, die amerikanische Regierung sei verärgert, weil von deutscher Seite trotz öffentlicher Solidaritätsbekenntnisse nur Obstruktion komme. Das alles wurde von den kritischen Kräften ignoriert, als ob sich das Friedenslager dann besser sammeln lasse - jetzt aber stehen sie, wie es scheint, handlungsunfähig da: Es ist ja schon alles entschieden! Nein, es ist noch gar nichts entschieden. Entschiedene Ankündigungen der deutschen Regierung könnten vielleicht immer noch etwas bewirken. Sie agiert zweideutig, sie muss so oder so zur Eindeutigkeit gezwungen werden. Im Übrigen muss diese Regierung sich fragen, was sie eigentlich noch zu verlieren hat. Warum wagt sie nicht die Flucht nach vorn? Ihre Wahlchancen sind doch nicht gerade hoch. Könnte es nicht zum Vorteil ausschlagen, wenn sie nicht nur eine klare Haltung des Protests, sondern des Widerstands einnähme? Verweigert sie das, soll sie nur abgewählt werden.
Krieg im Herbst?
Geschrieben von
Michael Jäger
Redakteur (FM)
studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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