Langsames Denken

Anpassung Ist die Wende der Union in der Mindestlohndebatte eine Einladung an die SPD zu einem Notstandskabinett? Fakt ist: Auch die SPD schwenkt Richtung Union

Man glaubt zu träumen ob der vielen politischen Positionswechsel der Union in kurzer Zeit. Am letzten Wochenende kam noch der Schwenk zum flächendeckenden Mindestlohn dazu. Was ist denn in die Union gefahren, wenn Frank Schirrmacher in der Faz die Frage aufwirft, ob „die Linken“ nicht vielleicht recht gehabt haben? Wer hätte es ihr vor ein paar Jahren zugetraut, dass sie für die Finanztransaktionssteuer eintreten und den Atomausstieg beschleunigt durchsetzen würde? Dass eine Unionskanzlerin den Wehrdienst abschafft und Banken im Zweifelsfall verstaatlicht, dass der nordrhein-westfälische Landesverband den Schulkompromiss eingeht? Ist es Vernunft, was die Union zum Wechsel ihrer Positionen treibt? Oder gibt sie dem Anpassungszwang nach, der aus der Logik des Parteiensystems folgt? Wenn es nur Anpassung wäre - bräuchte man sich nicht zu beunruhigen.

Solange es die Bundesrepublik gibt, hat sich die SPD einer Unions-, die Union einer SPD-Politik angepasst, sobald diese von der eindeutigen Wählermehrheit eindeutig präferiert und mit dem Mandat zur Regierungsbildung belohnt worden ist. So bequemte sich die SPD 1959 dazu, den linken Nationalismus Kurt Schumachers aufzugeben, und schloss sich der christdemokratischen Politik der Westbindung an. Umgekehrt gab die Union ihren Widerstand gegen die sozialdemokratische Politik der Aussöhnung mit dem Osten auf, als Willy Brandt Kanzler geworden war. Vor diesem Hintergrund versteht man, weshalb die Sprache des Parteiensystems so viele „Ja, aber“-Sätze enthält. Als sich die SPD der Politik der Westbindung anschloss, tat sie es in der Form, dass sie sagte: Ja, aber wenn wir uns mit dem Westen versöhnen, dann auch mit dem Osten! Und als klar war, diesen Satz würde eine Mehrheit dauerhaft tragen, sagte die Union: Versöhnung mit dem Osten ja, aber nicht um den Preis eines Ausverkaufs deutscher Interessen!

Derselben Logik begegnen wir, wenn die CDU Nordrhein-Westfalens den Schulkompromiss eingeht. Und man glaubt leicht, sie sei auch in der Wende zum flächendeckenden Mindestlohn wirksam. Das ist zwar eine Wende der ganzen Partei, die sich nicht anzupassen bräuchte, da sie die nächste Bundestagswahl noch gar nicht verloren hat. Aber hat nicht auch diese Wende in Nordrhein-Westfalen begonnen? Der dortige CDU-Politiker Laumann war der Erste, der für sie kämpfte. Und wir hören den typischen Satz: Gesetzliche Regelung des Mindestlohns ja, aber nur wenn sich vorher die Tarifparteien geeinigt haben.

Einschwenken beiderseits

Indessen zeigt diese Anpassung eine Besonderheit. Die Union nimmt sie nämlich, wie man hört, deshalb vor, weil sie die Gerechtigkeitsdebatte der nächsten Jahre fürchtet. Die wird unweigerlich aufbrechen, wenn aus der heute noch abstrakten Belastung des Steuerzahlers mit gigantischen Bankenrettungskosten die reale und real gefühlte Belastung wird. Man muss die Mindestlohndebatte vor dem Hintergrund der Finanzkrise sehen. Dann stellt sich die Frage, ob hier nicht die Anpassungslogik des Parteiensystems zurücktritt hinter einer ganz anders gearteten Logik der Krise. Die bestand in früheren Zeiten darin, dass der Parlamentarismus zu funktionieren aufhörte, weil sich die Parteien zu sehr zerstritten; stattdessen schlug die Stunde des Faschismus und / oder der Militärdiktatur. Heute in der Bundesrepublik bedeutet es, Union und SPD schließen sich zusammmen, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Ist die Wende der Union in der Mindestlohndebatte eine Einladung an die SPD, sich auf ein gemeinsames Notstandskabinett vorzubereiten?

Es gibt Zeichen, die in eine solche Richtung weisen. So jenes Sondergremium für „Fälle besonderer Vertraulichkeit“, das am Bundestag vorbei in Angelegenheiten der Schuldenkrise sollte entscheiden können, vom Bundesverfassungsgericht aber erst einmal gestoppt wurde. Es hätte geheim getagt und sich, einmal vorhanden, auch Aufgaben zuschreiben können, von denen die Öffentlichkeit nichts ahnt. Ein anderes Zeichen: Nicht nur schwenkt die Union in Richtung SPD, sondern auch die SPD in Richtung Union. So buchstäblich nach der Berliner Senatswahl. Erklärungen wie „Wowereit mag die Grünen nicht“ sind naiv, ist doch Wowereits Entschluss zur Großen Koalition von SPD-Chef Gabriel ausdrücklich gelobt worden. Sein Argument war, die Grünen müssten erst noch lernen, dass man sich großen Infrastrukturprojekten in einer modernen Industriegesellschaft nicht verweigern dürfe. Das zusätzliche Stück Autobahn, um das in Berlin der Streit ging, war aber sogar von Vertretern der Berliner Wirtschaft als unwichtig bezeichnet worden. Es ist also wohl doch ums Prinzip gegangen.

Was tat die Regierung der Großen Koalition 2008 gegen die Krise? Sie kurbelte mit der „Abwrackprämie“ die Autoindustrie an. Wenn ein Notstand kommt, legt die SPD ihre ökologischen Programmteile auf Eis, obwohl gerade der Notstand sich zum ökologischen Umbau nutzen ließe. Eben erst war Rot-Grün das große Alternativprojekt auf Bundesebene, aber die Zeiten ändern sich rasch. Jetzt will die SPD Baden-Württembergs ihren Koalitionsvertrag mit den Grünen nachträglich ändern, ein wahrlich einmaliger Vorgang. Bereitet sie schon den Koalitionswechsel nach dem Volksentscheid über Stuttgart 21 vor?

Die Transaktionssteuer, die höhere Kernkapitalquote waren früher so wenig Unions- wie SPD-Politik gewesen. Man täuscht sich daher, wenn man den Schwenk der Union zu solchen Positionen als „Anpassung an linke Politik“ verbucht. Ein anderes Bild mag treffender sein: In der Krise kennen Union und SPD keine Parteien mehr, sondern nur noch Staatsmänner; das sind sie selbst. Alles, was sie mit ihrer gemeinsamen Macht anstellen, hängt wirklich nur noch von ihrer Vernunft ab. Diese Vernunft erlaubt noch ganz andere Wenden als die zur Transaktionssteuer. Das ist eine wirklich kreative Vernunft, die imstande ist, Neuland zu erschließen. Man braucht sich doch nur der früheren Weltwirtschaftskrisen zu erinnern. Beide Male, nach 1873 wie nach 1929, fanden die Staatsmänner Lösungen, die nie da gewesen waren, im einen Fall den Imperialismus (die Aufteilung der Welt in europäische Kolonien), der zum Ersten Weltkrieg, im andern den Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte.

Zu beidem wird es heute nicht kommen, denn die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Logik der vergangenen Krisenepochen lebt wieder auf, und sie lässt sich mit einem kurzen Satz beschreiben: In der Krise des Kapitals weicht Parteienkonkurrenz der Staatenkonkurrenz. Im Versuch, der Staatenkonkurrenz gewachsen zu sein, finden Notstands-Kabinette ihre „kreativen“ Lösungen. Aber arbeiten heute nicht alle Staaten zusammen? Das kann man so nicht behaupten. Es würde keine europäische Schuldenkrise geben, hätten nicht US-amerikanische Banken ungefähr seit der Jahrtausendwende europäischen Banken Wertpapiere angedreht, von denen sie wussten, dass sie vergiftet waren; hätten nicht US-amerikanische Ratingagenturen diesen Papieren ihre Bestnoten gegeben; hätte nicht die US-amerikanische Finanzaufsicht es zugelassen. Noch sind europäische Banken bei der US-Bank AIG gegen Verluste wegen jener Papiere versichert. Der weltgrößte Kreditversicherer ist inzwischen verstaatlicht, und Hans-Werner Sinn, der deutsche Ökonom, schreibt dazu: „Die Deutsche Bank ist so lange vor dem Konkurs gesichert, wie der amerikanische Steuerzahler bereit ist, für die Versicherungspflichten der AIG aufzukommen.“

Oppositionelle Begleitung

Was heute zu befürchten ist: dass sich die Vernunft europäischer Notstandskabinette gegen die USA wendet. Noch denkt niemand an dergleichen. Aber dass EU und USA sich nicht auf die Transaktionssteuer einigen werden und auf manches andere auch nicht, ist absehbar. Die EU hofft bereits, China werde sie retten. Es wird schon ganz nüchtern erwogen, dass China wohl Gegenleistungen verlangen wird, auch politische. Wie es scheint, ist man bereit, über dergleichen zu verhandeln. Wenn das keine gefährliche Konstellation ist. So wie wir unsere derzeitigen Unions- und SPD-Politiker kennen, trauen wir ihnen zwar zu, mit der Gefahr verantwortungsvoll umzugehen; sie sehen nicht wie Leute aus, die Öl ins Feuer gießen wollen. Aber die Krise entwickelt sich rasch und man weiß nicht, vor welche Herausforderungen sie noch gestellt werden. Man muss ihnen auf die Finger schauen.

Die Opposition – will sagen: die wirkliche Opposition jenseits von Union und SPD - hat sich auf die neue Situation noch nicht eingestellt. Sie sollte die Politik der Notstands-Parteien durchaus freundlich mit guten Ratschlägen begleiten. Versuchungen, denen ein Notstandskabinett erliegen kann, sollte sie immer schon benennen, bevor das Kabinett selbst sich ihrer bewusst wird. Aber es wäre gut, wenn sie sich nicht an der Nase herumführen ließe – von der Union nicht und auch nicht von der SPD. Bei den Grünen gibt es jetzt Leute, die vom Ausgang der Berliner Senatswahl „gelernt“ haben, man müsse sich künfig immer klar zur SPD bekennen. Das ist langsames Denken, wie man es sich in Gutwetterzeiten erlauben darf, aber nicht in der Krise.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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