Eine gewisse linke Sicht auf die im Herbst des Jahres bevorstehende Bundestagswahl geht so: Der Kapitalismus, mit der ihn selbst bedrohenden Gefahr ökologischer Katastrophen konfrontiert, sieht sich gezwungen, zum „grünen Kapitalismus“ zu mutieren, und das politische Subjekt dieses Umschwungs, diejenigen, die berufen sind, ihn herbeizuführen, sind die Grünen. Dieser Umschwung ändert aber nichts Wesentliches, weder am Kapitalismus noch an den ökologischen Katastrophen. Er besteht nur darin, dass der Kapitalismus grün angestrichen wird. Deshalb ist eine Bundestagswahl, bei der vor allem die Grünen gegen die CDU/CSU antreten, nur eine Scheinwahl.
Das ist schon deshalb eine absurde Erzählung, weil doch jede(r) sehen könnte, dass der grüne Kapitalismus keineswegs auf die Grünen gewartet hat, um in die Existenz zu treten. Er ist längst da! Hat etwa Elon Musk auf die Grünen gewartet, um die Tesla-Fabrik in Grünheide zu bauen? Macht nicht die Bundesregierung seit Jahren Pläne, die PKW-Produktion auf Elektroautos umzustellen? Gibt es nicht Windräder und Solarzellen? Absurd ist es aber auch, nur einen „grünen Anstrich“ in alldem zu sehen. Gerade wenn man marxistisch herangeht, ist es absurd. In der berühmten Passage, in der Karl Marx seine Unterscheidung von ökonomischer „Basis“ und juristischem, politischem, ideologischem „Überbau“ einer Gesellschaft einführt und begründet (MEW 13, S. 8 f.), lesen wir doch: „Eine Gesellschaftsform geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist.“ Solarzellen zum Beispiel sind eine solche Produktivkraft, für die der Kapitalismus „weit genug ist“, und statt ein bloßer „Anstrich“ zu sein, sind sie eine Technik, die zu erben die nachkapitalistische Gesellschaft sich wird freuen können. Für Elektroautos gilt das weniger, für Solarzellen, Windräder und manch anderes, was die „Energieeffizienz“ steigert, aber wohl.
Der Profit nimmt ab
Es wäre freilich fatal, wenn Marx auch damit recht hätte, dass der Kapitalismus so lange noch weiterlaufen kann, wie er solche notwendigen Techniken entwickelt. Denn sie sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend zur Abwendung des ökologischen Zusammenbruchs. Für die Zeit zwischen 1990 und 2007 wurde ermittelt, dass die Energieeffizienz weltweit um jährlich 0,7 Prozent anstieg, schneller aber nahmen die Weltbevölkerung und die Einkommen, damit auch die Produktion und der Kauf von Konsumgütern zu. Die CO₂-Last wurde größer, nicht kleiner. Daran hat sich nichts geändert, und auch die Umstellung auf erneuerbare Energien braucht Zeit, besonders im Weltmaßstab. Ein Problem aber besonders der reichen Länder des Westens ist der ökologisch verheerende Konsumismus, der uns nun direkt zum Kern des Problems führt, wie Marx es sah: Produktivkräfte mögen entwickelt werden, aber ihr Widerspruch zu den „Produktionsverhältnissen“, die kapitalistisch geblieben sind, verschärft sich.
In seinem Hauptwerk Das Kapital erklärt Marx den Mechanismus: Da in der Produktion immer mehr Technik und relativ dazu immer weniger menschliche Arbeitskraft eingesetzt wird, nimmt der Profit, den das Kapital aus verkauften Waren ziehen kann, pro Stück immer mehr ab; und da sich „Mehrwert“ nur der Arbeitskraft rauben lässt, während die Unternehmen alle Technik zum vollen Preis bezahlen müssen, sehen sie sich gezwungen, den resultierenden „Fall der Profitrate“ durch eine immer größer werdende Stückmenge zu kompensieren.
Auch wenn viele Menschen in den reichen Ländern eigentlich schon alles haben, was sie brauchen, muss das so sein. Man hält sie dann eben zum Kauf unnötiger oder direkt sinnloser Waren an. Eben das geschieht schon seit längerer Zeit, wir nennen es Konsumismus. Der Konsumismus ist von den bessergestellten Menschen auch angenommen worden. Er genießt längst den Status einer Ersatzreligion. Mit der Steigerung der Energieeffizienz sind die Menschen einverstanden, das Problem ist nur, dass sie immer zu spät kommt, da sie nur pro Stück verbessert werden kann. Aber wer in den scheinbaren Reichtum des Konsums eingreift, muss sich auf Widerstand gefasst machen.
Die ökologische Krise bedeutet, dass die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in einen kapitalismusimmanent nicht mehr lösbaren Widerspruch getreten sind. Denn dazu da, den Menschen Lebensmittel (im weitesten Sinn) zu verschaffen, haben sich die Produktivkräfte unter dem kapitalistischen Zwang, zur Produktion unendlich vieler Waren eingesetzt werden zu müssen, in Katastrophenmittel verwandelt. Die ökologische Krise bedeutet also nicht, dass der Kapitalismus ein neues „Produktionsregime“ generieren muss und auch kann, den „grünen Kapitalismus“ eben, nachfolgend dem Fordismus, Neoliberalismus und wie sie alle genannt wurden. Viele Marxisten glauben das zwar, berücksichtigen aber nicht, dass ein solches „Regime“ kapitalismuskompatibel sein müsste und bisher auch immer war, nun aber nicht mehr sein kann. Tiefstes Charakteristikum der Kapitallogik ist der ökonomische Wachstumszwang. Auf ihn war man im Fordismus und Neoliberalismus noch stolz – jetzt ist er zum ökologischen Problem geworden. Was soll da ein neues „Regime“ helfen? Es ist zwar richtig, dass es postuliert wird, und zwar vom Kapital selbst. In der FAZ zum Beispiel ist „grüner Kapitalismus“ ein positiv besetzter Begriff. Aber das ist kein Grund für Linke, dem Begriff zu glauben.
Die Wahl ist keine Scheinwahl
Die Sache hat allerdings noch eine Kehrseite, die fast nirgendwo bedacht wird, auch unter Linken nicht: Niemand weiß von vornherein, wie die Krise bewältigt werden kann, weil sie ganz neuartig ist. Das gilt auch für Marxisten. Die wissen zwar, was Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sind, aber wie sehr der Kapitalismus in diesen ökologischen Widerspruch geraten würde, konnte auch Marx nicht voraussehen. Dafür hat er aber beschrieben, in der erwähnten Passage über „Basis und Überbau“, was unter solchen Umständen zu geschehen pflegt: „Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ In dessen „ideologischen Formen“ werden „sich die Menschen“ jenes Widerspruchs „bewusst“ und „fechten“ ihn „aus“. Marx unterstellt an dieser Stelle offenbar, dass die Bewusstwerdung ihre Zeit braucht: Zu hilfreichen Einsichten kommt es „langsamer oder rascher“, eine ganze „Epoche“ kann darüber vergehen! Und welche sind hilfreich? Das steht in keinem goldenen Buch. Sogar das Kapital selbst ist einsichtig und macht Vorschläge, und wer es überbieten will, muss argumentieren.
Da stoßen wir nun auf Marxisten, die meinen, es reiche aus, zu sagen, der Kapitalismus sei schuld und müsse beseitigt werden. Ohne weitere Ausführung vorgebracht, ähnelt das dem Verfahren der Hebräer, die einst die Mauern von Jericho durch puren Trompetenschall zum Einsturz brachten. Das steht in der Bibel, aber – it ain’t necessarily so. Es geht nicht an, die bevorstehende Bundestagswahl zur Scheinwahl zu erklären, nur weil auch die Grünen nicht vorhaben, den Kapitalismus zu beseitigen. Solche Kritik ist nutzloses Lärmen.
Man muss sich vielmehr ihre Vorschläge ansehen und mit den Vorschlägen dieser und jener Marxistengruppe vergleichen. Wenn sich zum Beispiel jemand, wie jüngst im Freitag geschehen, auf den „Wertkritiker“ Robert Kurz beruft und von den Grünen sonst offenbar nur weiß, dass sie auf Elektroautos setzen, ist das zu wenig. Mit der Gruppe Krisis hat sich Kurz nicht aus ideologischen Gründen zerstritten. War die Vision von Krisis nicht seine eigene: dass „an die Stelle der Warenproduktion die direkte Diskussion tritt, Absprache und gemeinsame Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen“? So soll es „für jedes Gesellschaftsmitglied zum Bestandteil des Alltags“ werden, „vom Stadtteil bis zur Weltebene“ – und weil die Grünen das nicht auch vorschlagen, sind sie nur eine Scheinalternative zur CDU/CSU?
Sie sind die einzige politische Kraft in diesem Land, die nicht nur die Energiewende technisch beschleunigen, sondern auch die bessergestellten Menschen – zu denen sie selbst gehören – dazu bringen will, sich mit weniger Konsum zufriedenzugeben. Letzteres tun die Grünen mit aller Vorsicht, weil sie wissen, auf welchen Widerstand sie da stoßen, und eben nicht nur beim Kapital, sondern auch bei den Wählern und Wählerinnen. Aber in ihrem Grundsatzprogramm kann man es lesen: Der Konsum von Fleisch, überhaupt von tierischen Nahrungsmitteln soll sich verringern, „deutlich weniger Autos“ soll es geben, vor allem in den Städten, und so weiter.
Die Grünen wollen also sowohl die Produktivkräfte ökologisch entwickeln als auch der kapitalistischen Überproduktion entgegentreten. Wen wundert es, dass ihnen vonseiten der Parteien, die den Kapitalismus seit eh und je politisch verkörpern, so viel Gegenwind entgegenschlägt?
Dabei wissen sie gar nicht, was sie tun. Sie sind subjektiv gar keine Kapitalgegner, objektiv aber durchaus. Ins Kanzleramt gelangt, würden sie auf Hemmnisse stoßen, die den Bewusstwerdungsprozess weiter steigern und zuspitzen müssten, sei es bei ihnen selbst oder bei anderen. Verglichen gerade mit vielen Marxisten, die bloß auf Verstaatlichung und Sozialpolitik setzen oder gar auf die Abschaffung des Marktes, ist der Grad an Bewusstwerdung, den sie jetzt schon erreicht haben, nicht das Schlechteste. In ihnen schlichte Repräsentanten des „grünen Kapitalismus“ zu sehen, ist nicht sehr intelligent.
Man sieht es dem Wahlkampf doch an, dass der zutage getretene Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise, mit Marx gesprochen, in ihm „ausgefochten wird“. Hat es denn jemals seit der Gründung der Bundesrepublik einen Wahlkampf gegeben, den nicht entweder die CDU/CSU oder die SPD gewonnen hätte? Nein. Das ist aber genau die Art Parteien, von denen Antonio Gramsci schrieb, sie hielten im Interesse des Kapitals „ein bestimmtes Gleichgewicht“ aufrecht, indem sich, unter ihrem Label, Kleinbürgerinnen und Arbeiterinnen stets gegenseitig bekämpften, die Großbourgeoisie aber auf beiden Seiten stehe und daher im toten Winkel verschwinde.
Im jetzigen Wahlkampf wird das System „CDU/CSU versus SPD“ zum ersten Mal als solches angegriffen, indem die Grünen selbst die Kanzlerin stellen wollen. Und mit welcher Wut verteidigen sich die bisherigen Leitparteien! Markus Söder von der CSU hat erklärt, eine Koalition unter Führung der Grünen sei undenkbar, und von Olaf Scholz hört man, er beanspruche in einer Koalition sogar dann die Kanzlerschaft, wenn die Fraktion der SPD kleiner sein sollte als die der Grünen. Viel spricht dafür, dass die alten Gesichter noch einmal obsiegen werden. Aber ihr Schwanengesang hat begonnen.
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