Dass die westdeutsche Bundesrepublik durch die Vereinigung mit Ostdeutschland manches gewonnen, manches aber auch verloren hat, ist heute evident. Gewonnen wurde die staatliche Souveränität und damit mehr Manövrierfreiheit in der Außenpolitik. Da im gleichen Maß der Druck zunahm, sich an Militäraktionen in aller Welt zu beteiligen, und ihm auch gern nachgegeben wurde, war schon dies eine zwiespältige Gabe. Zwar wäre eine weltöffentlich ausgetragene Kontroverse, wie die zwischen Kanzler Schröder und US-Präsident Bush um den Irakkrieg, vor 1990 undenkbar gewesen. Aber ihr war der früher ebenfalls undenkbare Eintritt in den Kosovokrieg schon vorausgegangen.
Auf dem Feld der Wirtschaft sticht der Verlust von vornherein in die Augen. Die deutschen global players haben natürlich auch hier gewonnen, aber die kleinen Leute mussten die erst scheibchenweise, dann rabiate Zurücknahme des Sozialstaats erdulden. Auch die immer maßloser werdenden Angriffe auf die Rechte der Lohnabhängigen gehen auf die Wende von 1989/1990 zurück. Denn seitdem braucht sich das kapitalistische System nicht mehr vor der realsozialistischen Alternative zu rechtfertigen. Dem widerspricht nicht, dass der neoliberale Durchmarsch Großbritannien schon in den achtziger Jahren heimsuchte. Nicht durch Großbritannien, sondern durch Deutschland lief die Front der Systemauseinandersetzung. Auch in Westdeutschland hätte Kanzler Kohl am liebsten schon in seinen ersten Jahren neoliberale Reformen durchgesetzt. Aber er konnte nicht, weil es der SPD damals nicht einfiel, mit dem Wolf zu heulen, gar wölfischer als der Wolf sein zu wollen. Und sogar ohne SPD-Opposition hätte Kohl es sich vor 1990 nicht leisten können, Sozialstaat und Arbeitnehmerrechte im Kern zu beschädigen. Union wie SPD mussten noch darauf achten, dass der Ost-West-Vergleich für den Westen günstig ausfiel.
Wenn das auch der Grund ist, weshalb die kleinen Leute vor 1990 weniger Existenzsorgen hatten als heute - unsinnig und irreal wäre es, an die damalige Wende zum Schlechteren mit Bedauern zurückzudenken. Der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems war ja kein Zufall, er hätte sich allenfalls verzögern können. Ein Fortbestand der deutschen Teilung und damit der westdeutschen Sonderexistenz war auf mittelfristige Sicht keine Option - und einer Situation, die unhaltbar war, mag sie noch so bequem gewesen sein, sollte man keine Träne nachweinen. Es wäre zwar vermutlich besser gewesen, wenn die deutsche Teilung in der Form einer Konföderation zweier Staaten überwunden worden wäre. Einige Verwerfungen im innerdeutschen Verhältnis hätten so vermieden werden können. Aber auch dann wäre Westdeutschland souverän geworden und hätte in Ermangelung des realsozialistischen Gegners den Durchmarsch des Neoliberalismus erlebt.
Günter Gaus hat die untergegangene DDR als "Nischengesellschaft" beschrieben. Vom alten Westdeutschland kann gesagt werden, dass es in Gänze eine Nische in der Weltgesellschaft besetzte. Hier wehte der Wind weniger scharf. Vermutlich war das auch der Grund, weshalb die "neuen sozialen Bewegungen", die seit dem Ende der sechziger Jahre in allen Westgesellschaften auf dem Vormarsch waren, in der Bundesrepublik noch mehr erstarken konnten als anderswo. Der Akzent auf der moralischen Seite der Politik, die Verbindung des Politischen und Privaten und überhaupt das "postmaterialistische" Denken der nachwachsenden Generation - all das sollten wir gewiss nicht als bloße Folge der weltpolitischen Schutzhaft, der sich Westdeutschland noch erfreuen durfte, verunglimpfen. Es steckte ja auch ein Stück echter Erkenntnisfortschritt darin. Der aber konnte sich eben nirgends so einseitig entfalten wie in dieser "Etuigesellschaft". Wahrscheinlich wäre schon 1990 mit Oskar Lafontaine ein "Postmaterialist" - damals konnte er einer sein - ins Kanzleramt eingezogen, hätte dem nicht die Vereinigung den Riegel vorgeschoben. Von "Etuimenschen" hat Walter Benjamin gesprochen. Es sind Charaktere, die sich wie Brillen in ein weiches Gehäuse betten dürfen. Nun mussten diese Menschen - schutzlos sehend - ein eher stählernes Gehäuse beziehen.
Noch einmal: Es fällt schwer, den gewiss unerquicklichen Wechsel fundamental zu betrauern. Das Vordringen der "postmaterialistischen Werte", so fortschrittlich sie immer sein mögen, geschah doch in einer irgendwie unernsten Situation. Anders gesagt, sie hatten es in der weltgesellschaftlichen Nische allzu leicht. Nach 1990 mussten sie die Bewährungsprobe unter veränderten, nunmehr ernsten Bedingungen bestehen. Wenn sie vor ihnen versagten, hat doch nicht die Vereinigung schuld, vielmehr die eigene Substanzlosigkeit, die nun eben sichtbar wurde.
Besonders rasch und radikal veränderten sich gerade die Grünen, von denen die fortschrittlichen Tendenzen am meisten verkörpert worden waren. Für den innerparteilichen Sieg der "Realos" wurden damals die Weichen gestellt. Vor 1990 hatte die Partei noch einen Zusammenhang zwischen der ökologischen Krise und dem Wachstumsfetischismus der kapitalistischen Produktionsweise gesehen. Gleich nach 1990 setzte sich in ihr die Behauptung durch, die ökologische Krise würde sich von selbst lösen, wenn man nur die "Ökosteuer" und andere "marktwirtschaftliche Instrumente" einsetze. Der Zusammenbruch des grünen Pazifismus brauchte etwas länger, aber auch er verdankt sich im Kern der Weitergabe der weltpolitischen Normalisierung, die das Land insgesamt erlitt, an dessen einzelne Gliederungen.
So etwas geschieht immer wieder. Ich muss an Johannes Brahms denken, der vor der Reichseinigung 1871 kompositorisches Neuland betrat, dann aber sehr strikt die klassischen Beethovenschen Formen zurückholte. Einen Moment lang schien es, als habe eben das die Operation sein müssen, durch die er sich endlich finden konnte. Jetzt rief man seiner Ersten Sinfonie nach, es sei "die zehnte Sinfonie Beethovens". Für Brahms war es freilich nur eine Durchgangsstufe. Er komponierte bald kühner als je zuvor. Seine Vierte Sinfonie war unerhört: Man beschuldigte sie, sie klinge wie "Mir fällt nichts ein", und das war wohl tatsächlich der Spiegel, den er dem Reich vorhalten wollte, das drei Jahrzehnte später den Ersten Weltkrieg begann. Die Moral von der Geschichte ist, dass Brahms eben Substanz hatte, schon in den frühen Kompositionen vor der Reichseinigung. Ihn warf der Ernstfall nicht um. Die Grünen aber und die SPD änderten sich chamäleonhaft, als sie in die Weltpolitik und Weltwirtschaft stürzten.
Sie hatten vorher nicht genug Substanz erworben. Vielleicht wäre mehr aus ihnen geworden, hätte sich die Vereinigung noch etwas verzögert. Nicht dass diese kam, aber dass sie etwas zu früh kam, mag man also bedauern. Denn der grüne Neubeginn war wichtig - und 1990 erst zehn Jahre alt. War es nicht fast sensationell, dass die Partei während dieser ganzen Zeit von erklärten Marxisten geführt wurde und doch zunehmend ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückte? Überhaupt begreift man den Schaden, den Westdeutschland durch die Vereinigung erlitt, am besten in der scheinbar marginalen marxistischen Perspektive. So lange es die "neuen sozialen Bewegungen" gab, hatte sich der Marxismus in einer produktiven Krise befunden, an deren theoretischer und praktischer Lösung viele Menschen in den westlichen Gesellschaften arbeiteten. Es war ein Marxismus, der sich nicht mehr allein auf "die Arbeiterklasse" berufen konnte; den die "neuen Bewegungen" zur Demokratisierung zwangen; der mit neuen, nicht schon von Marx gelösten Problemen wie der Ökologiekrise konfrontiert war; der sich mit der damals modernsten Philosophie, dem Poststrukturalismus, zu verbinden begann. Auch dieser Marxismus hätte mehr Zeit zur Entfaltung gebraucht. Nach 1990 ging es nicht mehr darum, ihn zu erneuern. Er war passé.
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