MaerzMusik 2023: Der Letzte pustet das Streichholz aus
Festival „Verschärfte Subtilität“ der Klänge, „Stiefel und schlechte Sonne werden zu Sandpapier“, Kieselstein-, Alpen- und Muschelhorn-Soli und ein gewöhnliches, aber überdeterminiertes Schlagzeug-Solo
Am Dienstag, den 21., 19:30 Uhr folgte auf den „Grenzraum HÖREN“ im Großen Saal des Festspielhauses mit Jakob Ullmann, worüber ich berichtet habe, eine Performance des norwegischen Komponisten Øyvind Torvund, Plans for Future Operas (2022) für Sopran (Juliet Fraser) und Klavier /keybord / sound design (Mark Knoop): Hierhin waren so viele Leute geströmt, überwiegend junge Leute, dass die Hinterbühne des Hauses sie kaum fassen konnte.
Die „geplanten Opern“ waren welche, die gar nicht in Frage kommen: „Wie unterhält man sich, wenn man sich nicht in der gleichen Dimension bewegt?“ So die Programmankündigung. Die Opern waren visuell nur als projizierte Bleistiftskizzen präsent. Ich hatte vorher gedacht, es
suell nur als projizierte Bleistiftskizzen präsent. Ich hatte vorher gedacht, es gehe wieder um Mensch und Computer wie in der Eröffnungsveranstaltung am 17.3., das war aber nicht so, es ging vielmehr um Gespräche zwischen Lebenden und Toten, oder zwischen der Sopranistin und einem Pelzmonster aus der Muppet Show, oder um die Autobahn durch den Wald. Und es ging wieder um das Hören. Einzelne Töne tauchten an verschiedenen gut lokalisierbaren Stellen des ganzen Raums der Hinterbühne auf, und ihr Klang kam aus verschiedensten Registern, des Konzertsaals wie des Alltags, war aber meistens kultiviert, nicht wild, in freilich fremder Zusammenstellung. Alle möglichen Klänge etwa, die man mit dem Auto assoziieren kann, gehörten dazu, in den Anzug aber gleichsam gekleidet, mit dem man ins Konzert geht (oder früher ging), keine „emanzipierten Geräusche“ wie bei John Cage.Einen Gestus von Pop Art, wie in Bildern Roy Lichtensteins, habe ich darin gehört. Als Beispiel dafür, was in dieser kurzweiligen Veranstaltung gelang, sei das Zwitschern der Vögel im Wald angeführt: Das Klavier zwitscherte, die Sopranistin auch, aber bei ihr klang es anders, obwohl sie sich derselben Tonfolge bediente, und nochmal anders in der elektronischen Übersetzung, die irgendwo im Raum dazu trat, was alles gleichzeitig geschah – eine verblüffende, auch verblüffend eingängige Polyphonie.Von Cage ist diese Art von Musik einmal ausgegangen. Aber man kann auch sagen, dass sie nur etwas zuspitzt, das so gut wie alle moderne Musik nach Anton Webern kennzeichnet, dass man sie nämlich als gegenwärtig trotz der Nacheinander-Ereignisse in einem ganz anderen Sinn erlebt, als Augustin es erläutert hatte – so nämlich, als vollziehe man eine von der jeweiligen Komposition geleistete Bildbeschreibung nach. Auch ein derartiger Nachvollzug, wie schon die musikalische Bildbeschreibung selber (man denke etwa an Kompositionen Bruno Madernas), geschieht ja im Nacheinander, so aber nun, dass wir quasi die Einzelheiten und die Struktur eines Gemäldes, die alle gleichzeitig vor unsern Augen stehen, nach und nach erfassen, mit diesen Augen erfassen, indem sie durchs Gemälde spazieren wie durch eine Stadt. Dieser Charakter moderner Musik, die also nicht mehr auf etwas zu- oder fortschreitet, was zunächst noch fehlt, sondern in allem immer schon da ist, trifft damit zusammen, dass derselben Musik auch daran liegt, immer neue Klänge zu erfinden. Die Instrumente des klassischen Orchesters haben schon einem Pierre Boulez nicht mehr ausgereicht. Aus diesem Grund spielt seitdem die Percussion eine so große Rolle, hat ihr Anteil an Kompositionen so stark zugenommen und ist sie um so viele neue, klanglich neue Elemente bereichert worden.Beides zusammen, die Gemäldeartigkeit der inzwischen schon klassisch gewordenen modernen Musik seit Webern wie auch das Interesse an neuen Klängen, bedeutet, dass diese Musik sich nicht mehr bloß wie Augustin fragt, „was die Zeit ist“, sondern genauso stark, wenn nicht stärker, was es mit dem musikalischen Raum auf sich hat. Denn wenn Verschiedenes gleichzeitig da ist wie im Gemälde, heißt das, es verteilt sich im Raum, wie wir auch Klänge nur im Raum hören; die Zeit der Klänge, ihr Nacheinander, ist in der Partitur festgelegt, kann dort gelesen, aber nicht gehört werden. Wie sie sich im Raum verteilen, ist allerdings schon immer wichtig gewesen, deshalb haben Orchester eine bestimmte Sitzordnung und hören wir auch traditionelle Musik mit der Stereoanlage. Was aber wäre eine Philosophie des musikalischen Raums, wie Augustin eine der musikalischen Zeit skizziert hat? Und was hätte sie zu den neuesten Klangkompositionen zu sagen? Zu solchen Fragen führt es, wenn man wie die künstlerische Leiterin Metwaly die „Praktiken des Hörens in den Blick“ nimmt.Widersprechen in der MusikAuch im Konzert Contemplations into the Radical Others am Freitag, den 24., 20 bis 23 Uhr ebenfalls im Raum der Hinterbühne, ging es darum. Das Programm hatte „klingende Welten voller unerwarteter Texturen und Resonanzen“ angekündigt und das war nicht zu viel versprochen. Der erste Teil des Konzerts stand unter dem Titel „Subtle Matters“ und wurde von der Pianistin Agnese Toniutti bestritten. In Kompositionen von Lucia Dlugoszewski (1925-2000), Tan Dun (*1957) und Philip Corner (*1933) war immer wieder ein Pianospiel nicht nur auf den Tasten, sondern mehr noch auf den Saiten unter offenem Pianoflügel der Hauptzug. Dergleichen hat man schon gehört, aber in den hier vorgestellten Kompositionen (die von Tan Dun trägt den Namen C-A-G-E, fingering for piano [1994], der nicht nur auf eine Tonfolge verweist, sondern auch auf jenen großen Initiator, und der also Cage implizit auf eine Stufe mit B-A-C-H stellt) werden die Saiten oft wie eine Zither gebraucht, und hören sich auch fast so an, mal wohlklingend mal „erhaben“ chaotisch, was dann beides gelegentlich von den Tasten verdoppelt wird – ein Piano gleichsam, das mit sich selbst spricht. Als wenn ich mich mit meinem Unbewussten austausche, was ich ja natürlich auch tue, ununterbrochen, aber ohne daran zu denken. Das entsprechende Stück von Dlugoszewski heißt Exacerbated Subtlety Concert (1997/2000), „Konzert der verschärften Subtilität“, dazu noch in Klammern Why Does a Woman Love a Man? - eine Frage, die sie sich selbst stellt, und aufs Piano projiziert. Aber auch ein Toy Piano kommt vor, das nicht nur so heißt (Corner 2012), sondern auch ganz klein, dreißig Zentimeter vielleicht, auf der Bühne steht, so dass sich Toniutti vor ihm hinkniet, um ihm seltsame Töne entlocken zu können.Der zweite Teil des Konzerts hieß „Space is a Diamond“, Hervorhebung des Raums also, wo weitere Instrumente zum Einsatz kamen, und nicht nur klassische wie Trompete, Tenorhorn, Posaune, sondern es gab auch ein Stück „für Muschelhorn Solo“ (Yan von Jing Wang, 2016) und eins „für Kieselstein Solo“ (Rondo de Facto von Mazyar Kashian, 2020). Wie Letzteres erzeugt wurde, bot das Bild einer Werkstatt, wo der Musiker sich über einen Arbeitstisch beugt; ebenso dann bei na rua – uma bota e um sol pobre – revira no lixa (der Titel spricht von Klängen: „Auf der Straße – ein Stiefel und eine schlechte Sonne – wird zu Sandpapier“, Tamara Miller 2022) für Kornett und Schlagzeug. Die Musiker:innengruppe nennt sich ja auch Ensemble Musikfabrik. Aber auch eine Komposition für zwei Alphörner stand auf dem Programm, li-lá von Hans-Joachim Hespos (1938-2022); solche nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, ist schon ein eigener Genuss. In der traditionellen Musik hört man sie selten genug, bei Mahler einmal, auch in Daphne von Richard Strauss. Das Konzert endete mit Dlugozewskis Tender Theatre Flight Nageire für Blechbläserquintett und Schlagzeug (1971, rev. 1978), und das war ein Höhepunkt, auch weil die Komponistin nicht nur ihre Lust an aufregenden Klängen mit uns teilte, sondern auch klassische Satzformen wie einmal ein Fugato einsetzte, das entfernt an die Blechbläsereinleitung der 2. Sinfonie von Witold Lutosławski erinnert. Nageire oder Ikebana „ist die japanische Kunst des Blumenarrangierens“, lese ich in Wikipedia. Der letzte Klang dieser eindrucksvollen Komposition bestand darin, dass der Schlagzeuger ein Streichholz anzündete und ausblies.Schon lange habe ich mich gefragt, ob und wie das Widersprechen in der Musik dargestellt werden kann. Von Augustins Musikphilosophie her wird es nicht verständlich, und es gibt auch keine Werke der vormodernen Musik, in deren Verlauf ein Umschlagpunkt kommt, von dem an sie sich gleichsam sagen müssen, so, wie ich angefangen habe, kann es nicht weitergehen, denn ich habe mich geirrt und bin jetzt ent-täuscht. Diese Unfähigkeit, ist sie nicht die Konsequenz dessen, dass Musik nur als zeitliche Ereignisfolge begriffen wird? Denn damit mir widersprochen werden kann, bedarf es des Raums. Ich lerne zwar, meine Irrtümer selbst herauszufinden, mir also selbst zu widersprechen, aber so fängt es nicht an, vielmehr damit, dass ich von Anderen zurückgewiesen werde, und es mir einleuchtet. Die Anderen sind außerhalb meiner, also im Raum. Eine musikalische Darstellung des Widersprechens muss also räumlich sein und das heißt, sie äußert sich in Klängen, die ich nicht erwartet habe. Sie ist kein Umschlag in der Zeit, sondern tritt mir als An-Spruch von außen entgegen. Die moderne Musik nach Webern hat die Notwendigkeit erfasst, diesen wesentlichen Zug menschlichen Existierens dem musikalischen Kanon hinzuzufügen.Wenn ein Konzert Contemplation into the Radical Others heißt, oder wenn Dlugoszewski im Titel einer Komposition fragt, warum Mann und Frau in „verschärfter Subtilität“ einander lieben, liegt die Dimension der Ent-Täuschung auf der Hand.Drei Tempi gleichzeitigEin weiterer Höhepunkt der diesjährigen MaerzMusik war für mich der zweistündige asamisimasa-Zyklus von Mathias Spahlinger (*1944), eine Uraufführung. Das Werk heißt so, weil es fürs asamisimasa Ensemble geschrieben wurde. Es greift noch einmal die Tradition der klassisch gewordenen, seriellen Moderne auf (ich weiß nicht, nach welcher Methode es komponiert ist, es erinnert aber stark an jene Musik) und bringt eine wundervolle Polyphonie zur Geltung, hat auch enorme Kraft, musikalische Gestalten zu schaffen. Der Zyklus wurde am Mittwoch, den 22. im Kammermusiksaal der Philharmonie aufgeführt und hatte gar nicht so viel Zulauf; nur der Besucher:innen-Block vor der Bühne war besetzt; es scheint dabei zu bleiben, dass viele junge Leute diesen Traditionsort „hoher Kunst“ eher meiden. Aber sie haben etwas versäumt, schon allein das Schlagzeug-Solo (5 Tomtoms) hätte sie zur Raserei gebracht. Der Titel dieses fünften von elf Stücken zeigt, worum es ging: doppelt und dreifach determiniert. Spahlinger erläutert: „für unsere traditionellen vorstellungen von musikalischem zusammenhang ist wohl die zeitordnung die bestimmendste gewesen: die abfolge der klangereignisse“ (mit Betonung nicht auf „klangereignisse“, sondern auf „abfolge“ zu lesen). Aber „mit der ‚geschichtlichen tat‘ der erfindung von atonalität sind alle voraussetzungen des systems musik in frage gestellt; gleich, ähnlich und verschieden ebenso wie vorher/nachher beziehungsweise synchron“. So hat denn Spahlinger einen Rhythmus geschaffen, der „gleichzeitig in drei unterschiedlichen tempi oft wiederholt“ wird, und „diese drei tempi [laufen] nicht lediglich nebeneinander her, sondern sind so aufeinander bezogen, dass immer wieder bis zu drei anschläge aus den unterschiedlichen tempoebenen zusammentreffen müssen“. Bewunderswert war, dass es nicht bei der Konzeption geblieben ist, sondern man es heraushören konnte.Auch so also, nicht durch Klänge – schon auch durch Klänge, aber diese hier waren schon klassisch geworden -, sondern durch die Erfindung immer neuer musikalischer Strukturen, „wird zum Raum die Zeit“, „dreifach determiniert“ und plastisch gestaltet und erregend wie im Jazz oder Beat. Hoffentlich wird der asamisimasa-zyklus bald als CD verlegt!Für die diesjährige enorm bereichernde MaerzMusik bedanke ich mich.
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