Mal auf den Tisch hauen

Koalitionsgipfel Der ständige Streit muss kein Nachteil sein: Warum Schwarz-Gelb ein Jahr vor der Bundestagswahl unterschätzt wird

Die Koalition hat sich geeinigt, aber wichtiger als die Einigung war der Streit. Selbst wenn weder die Praxisgebühr abgeschafft noch das „Betreuungsgeld“ durchgesetzt worden wäre, hätten beide Themen ihren Zweck doch erfüllt: das Image der sie fordernden Parteien zu verbessern. Man erkennt in diesen Themen das bisherige Verhalten dieser Parteien nicht wieder. Der publikumswirksame Streit ist wie ein Versuch, die Erinnerung an ihr schlechtes Regieren zu löschen, rechtzeitig vor der Bundestagswahl in einem Jahr. Schon das ist Grund genug für eine Bilanz der zu drei Vierteln abgelaufenen Legislaturperiode.

Ist das nicht ein starkes Stück: die FDP als Vorkämpferin für die Abschaffung der Praxisgebühr? Derselbe Philipp Rösler, der damit jetzt als FDP-Vorsitzender glänzt, wollte noch vor drei Jahren als Gesundheitsminister die Kopfprämie durchsetzen und hat immerhin erreicht, dass die Krankenkassen Zusatzbeiträge in beliebiger Höhe erheben können. Was ist denn mit der FDP geschehen? Hat sie sich gewandelt oder tut sie nur so? Und nimmt man es ihr ab?

Um ein Glaubwürdigkeitsproblem geht es auch beim Betreuungsgeld. Die CSU ist besonders engagiert, doch es liegt im Interesse der ganzen Union, mit dem Thema ihren konservativen Grundzug zur Schau zu stellen. Das hat sie nötig, denn für einen Teil ihrer Anhänger modernisiert sie sich zu sehr. Betreuungsgeld wird gezahlt, wenn Kinder unter drei Jahren nicht in der Kita, sondern nur zu Hause erzogen werden. Es ist dazu da, diese ältere Lebensform weiter zu fördern, auch wenn stattdessen gesagt wird, es ermögliche die Wahl zwischen Kita und Zuhause. Das ist der Kompromiss, den die Union mit sich selbst eingeht: Heim und Herd, aber eingebettet in die Idee des Wählens, die ja nie aufhört, modern zu sein. Ganz ähnlich ist es in der Schulpolitik: Das Gymnasium soll bleiben, aber gleichzeitig auch die Wahl, ob die Kinder ins dreigliedrige Schulsystem oder, wie SPD und Grüne wollen, in die Gemeinschaftsschule geschickt werden.

Westerwelle läuft in die Falle

Der Koalitionsstreit hatte also eine Funktion. Und doch war auch die Einigung nötig. Denn Schwarz-Gelb gilt als heillos zerstritten. Darüber wird aber leicht übersehen, dass sich das Regierungsbündnis doch etwas gefestigt hat. Niemand spricht mehr vom bevorstehenden Zerfall. Union und FDP sehen zwar immer noch nicht wie Wahlsieger des nächsten Jahres aus, haben aber wieder eine Chance und stehen in Meinungsumfragen besser da als vor einem Jahr.

Tatsächlich schien diese Koalition ja fast von Anfang an immer wieder an der Schwelle zum Scheitern. 2009 hatte die FDP 14,6 Prozent Stimmen erreicht, weil der Union die Wähler weggelaufen waren. Die Partei, die sie zur Ader gelassen hatte, wurde ihr Partner. Den Wahlerfolg konnte sich Guido Westerwelle, damals noch FDP-Vorsitzender, für seine Linie der Steuersenkung um jeden Preis gut schreiben. Doch dieses Programm, das die kleine FDP ein bisschen größer werden ließ, war der Gesamtbevölkerung angesichts der Wirtschaftskrise höchst suspekt.

28. Oktober 2009: Am Tag, als Angela Merkel ein zweites Mal zur Kanzlerin gewählt wurde, ergab eine Umfrage von forsa, dass zwei Drittel der Deutschen Steuersenkungen ablehnten. Nur 22 Prozent begrüßten sie, auch nur 29 Prozent Unionsanhänger. Eine brisante Situation: Zwar sah die FDP, dass die Zustimmung zu ihrem Programm das ohnehin glänzende Wahlergebnis noch deutlich überstieg. Aber die noch viel breitere Ablehnung des Projekts über alle Lagergrenzen hinweg ließ nichts Gutes erwarten.

Auch wenn Steuersenkungen im Koalitionsvertrag stehen: Bald schon rückt Merkel davon ab, als sich Widerstand in ihrer eigenen Partei zeigt. In den ersten Monaten der Regierung warnen die christdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus, Peter Müller und Jürgen Rüttgers und auch der damalige CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich vor Steuersenkungen. Der Bundespräsident und der Chef der Bundesbank schließen sich an. Die Unionsführung arbeitet einen regelrechten Plan aus, das Steuersenkungsprogramm über die Landesregierungen zu kippen. Bald droht Sachsen-Anhalts christdemokratischer Ministerpräsident Wolfgang Böhmer mit einer Verfassungsklage.

Westerwelle erkennt nicht, in welche Falle er läuft. Er ist Vizekanzler, spricht aber nur für die Minderheit, die ihn gewählt hat. Als das Bundesverfassungsgericht die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes anordnet, wittert er „Sozialismus“. Gebläht vom Wahlerfolg, raunzt er auch Bundesumweltminister Norbert Röttgen an, weil der es wagt, vom Abschied von der Atomkraft zu sprechen. Weiß Westerwelle nicht, dass eine Mehrheit auch die Atomkraft ablehnt?

Die anderen FDP-Minister machen sich ebenfalls unpopulär: Gesundheitsminister Rösler mit der Kopfprämie, Wirtschaftsminister Rainer Brüderle mit der Weigerung, Opel Staatshilfe zukommen zu lassen. Doch gegen Westerwelle richtet sich der Unmut. Nach einem halben Regierungsjahr sägen schon Parteifreunde an seinem Stuhl. Der dauernde Streit mit der Union schadet der FDP. Das nimmt die Öffentlichkeit so wahr, als werde der Union das radikale Programm einer Minderheit aufgedrängt. Dabei will die FDP nur zeigen, dass sie keine Umfallerpartei ist. In allem macht sie ihren Standpunkt sichtbar, und so wird über alles gestritten: über den Gesundheitsfonds, über die innere Sicherheit. In den Augen der Öffentlichkeit ist die Koalition damit gescheitert. Aber sie macht weiter. Sie setzt durch, dass die Atomkraftwerke im Schnitt zwölf Jahre länger laufen sollen.

Ende 2010 glaubt die FDP immer noch, in der Offensive zu sein, und fordert die Abschaffung der Gewerbesteuer, der wichtigsten Einnahmequelle der Kommunen. Den Hartz-IV-Satz will sie nur um fünf Euro erhöhen. Man einigt sich schließlich mit Union und SPD auf acht Euro. Während des ersten Regierungsjahrs hat sich die Konjunktur gebessert, trotzdem sinkt die Zustimmung zur Union und noch mehr zur FDP. Ein Widerspruch? Vielleicht nicht. Zum Zeitpunkt der Wahl war die ökonomische Angst groß. Da waren manche eher bereit, sich von der FDP radikalisieren zu lassen. Jetzt kehrt die Gutwetterzeit zurück (so scheint es wenigstens) und mit ihr bei vielen das soziale Gewissen.

Merkel dreht den Trend

Das Jahr 2011 beginnt mit dem Skandal um Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Die von ihm begonnene Umwandlung der Bundeswehr in eine Berufsarmee setzt Thomas de Maizière fort, er wird sich als Pluspunkt der Regierung erweisen. Kurz darauf folgt die Katastrophe von Fukushima. Die Kanzlerin ist nun zur Wende in der Atompolitik bereit. Am 14. März, zwei Wochen vor der Wahl in Baden-Württemberg, die sie dadurch noch zu beeinflussen hofft, verkündet sie ein Moratorium der Laufzeitverlängerung. Die Wahl geht trotzdem verloren. Im Nachhinein zeigt sich, dass Merkel durch die Atomwende stärker geworden ist, zunächst aber verlieren die Koalition und sie selbst weiter an Zustimmung. Westerwelle muss im Mai 2011 den Parteivorsitz an Rösler abgeben. Noch mehr als seine soziale Kälte scheint ihm geschadet zu haben, dass er sich im April bei der Libyen-Resolution des Weltsicherheitsrats der Stimme enthalten hat.

Die Koalitionspartner streiten weiter: Die CSU will die Pkw-Maut, die FDP lehnt ab. Die CSU will die pauschale Verlängerung der Anti-Terror-Gesetze, die FDP wird eine teilweise und zeitweilige Verlängerung durchsetzen. Im Juni werden wieder einmal Steuersenkungen versprochen, ohne nähere Angaben. Im Juli fällt Merkel in der öffentlichen Gunst weit hinter ihren ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zurück. Im August übersteigt RotGrün in Umfragen die 50-Prozent-Marke. Zu diesem Zeitpunkt erkennt die Union, was ihre letzte Chance ist: die Europapolitik. „Das größte Projekt für die nächsten Jahre wird aber die Stabilisierung Europas sein“, schreibt der Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder im November. Schon im September kann man lesen, Merkel sei „in die Rolle der leidenschaftlichen Kämpferin für Europa geschlüpft“. Ein Jahr später im selben Monat wird es heißen, sie sei „extrem beliebt“. Erst einmal bleibt freilich der Vorsprung von Rot-Grün: zehn Prozentpunkte.

Nicht nur Merkels Werte steigen ab Ende 2011, auch die FDP kommt im September auf fünf Prozent, wohl weil sie laut über Griechenlands Insolvenz nachgedacht hat. Merkel wird der Ausweitung des „Rettungsschirms“ EFSF zustimmen, und die FDP, aber auch die CSU sind eigentlich dagegen: Beides kommt in der Öffentlichkeit gut an. Die FDP sackt trotzdem bald wieder auf drei Prozent, als im Dezember Generalsekretär Christian Lindner zurücktritt, auf nur noch zwei Prozent. Sie hat binnen eines Jahres Tausende von Mitgliedern verloren. Nun schwillt die Diskussion über den neuen Parteivorsitzenden Rösler an: Ist er seiner Aufgabe gewachsen?

Nichts ist unmöglich

Er erweist sich als zäh und kann im Februar 2012 einen Erfolg verzeichnen. Nach der Wulff-Affäre, die der Kanzlerin schon keinen Schaden mehr zufügt, setzt er gegen deren Willen durch, dass der von Grünen und SPD vorgeschlagene Kandidat Joachim Gauck neuer Bundespräsident wird. Dies zusammen damit, dass Lindner den Vorsitz der nordrhein-westfälischen FDP übernimmt und sie bei der Landtagswahl im Mai über die Fünfprozenthürde führt, lässt die Werte der Partei auch bundesweit auf fünf Prozent steigen. Ungefähr dort verweilt sie seither. Man muss es wieder für möglich halten, wenn auch nicht für sicher, dass die FDP nächstes Jahr in den Bundestag gelangt. Zumal sie sich der SPD zu nähern scheint. Lindner hat diesen Kurs angedeutet und auch Röslers Einsatz für Gauck kann, wer will, so deuten. Ein Teil der Öffentlichkeit findet es reizvoll, sich die FDP als Partner einer Ampelkoalition unter einem SPD-Kanzler Steinbrück vorzustellen. Der allerdings liegt inzwischen wieder weit hinter Merkel.

Die Koalition hört nicht auf, zu streiten. Über die Finanztransaktionssteuer, über das Betreuungsgeld. Beides lehnt die FDP ab, beidem stimmt sie schließlich zu. Doch die Öffentlichkeit scheint sich an den Streit zu gewöhnen. In einer Emnid-Umfrage vom Sonntag kommen Rot-Grün und Schwarz-Gelb beide auf 42 Prozent. Die FDP liegt zwar unter fünf Prozent. Das könnte sich aber nach der Einigung vom Sonntagabend geändert haben.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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