Man tanzt ihn aufrecht

Musik Astor Piazzolla gilt als Retter des Tangos. Zwei CDs bezeugen, warum seine Musik auch den Konzertsaal eroberte
Ausgabe 33/2017
Ohne Piazzollas Modernisierung würde den Tango heute kaum jemand noch kennen, behaupten manche
Ohne Piazzollas Modernisierung würde den Tango heute kaum jemand noch kennen, behaupten manche

Foto: Raul Arboleda/AFP/Getty Images

Es klingt zuerst ganz einfach: Astor Piazzolla (1921 – 1992) hat den Tango Nuevo geschaffen. In seiner Musik überlagern sich aber so viele Dimensionen, dass es einfacher ist, ihr zuzuhören, als sie zu charakterisieren. Dazu gehört, dass sie nicht nur dem Tangofreund etwas bedeutet, sondern auch die Konzertsäle erobert hat. Und das ist es, was The Sound of Piazzolla bezeugt. Dem Palimpsest dieser Musik wird eine weitere Schicht hinzugefügt, wenn wir uns auf zwei CDs anhören können, wie sie das Alban Berg Quartett und das Artemis Quartett, Daniel Barenboim und Martha Argerich am Piano und andere berühmte Musiker interpretierten. Auch der Cellist Mstislaw Rostropowitsch ist vertreten, mit Le Grand Tango, einem fast zehnminütigen Stück, das ihm Piazzolla gewidmet hat.

Manche sagen, Piazzolla habe den Tango gerettet; ohne dessen Modernisierung würde ihn heute kaum jemand noch kennen. Dagegen spricht die Erfahrung. In Berlin zum Beispiel gibt es mehrere Tangoschulen und viele schöne Räume für den Tanz am Sonntagnachmittag.

Was ist Tango, der argentinische wohlgemerkt, der eigentliche? Er ist wie eine Sprache, die den Ernst des Lebens überwindet. Selbst wer nur die Grundschritte kennt, hat schon Freiheiten: kann stehen bleiben und einen Takt überspringen, als wenn er einen Satz schließt und erst einmal schweigt, oder schreitet weit aus, um eine Ungeduld zu zeigen, die er dann wieder zügelt. Der Tänzer zeigt ein trauriges Gesicht, doch die Tänzerin, die es ebenfalls tut, schlingt vielleicht schon ihr Bein um das seine. Als der Tango am Ende des 19. Jahrhunderts bis nach Paris gedrungen war, soll eine adlige Dame gefragt haben: „Ist es wirklich beabsichtigt, dass man ihn aufrecht tanzt?“ Ich habe dort Tangotänzer am Seineufer gesehen, zehn Paare in der Krümmung eines kleinen Amphitheaters, das zum Wasser hin geöffnet ist, und melancholische Zuschauer im Halbkreis der Steinbänke.

Den Paaren und ihrer Liebe

Was Piazzolla hinzufügte, war das wortlose Gespräch dieser Musik mit anderer Musik, besonders mit dem Cool Jazz der 1950er Jahre. Piazzolla wollte ein neuer Strawinsky werden, doch die große Musikpädagogin Nadia Boulanger riet ihm, beim Tango zu bleiben. Er hat dann viel mit dem Jazzmusiker Gerry Mulligan zusammengearbeitet. In einem Interview sagte er, er sähe es gern, wenn Miles Davis seine Musik spielte. Aber wenn man von Davis gesagt hat, er examiniere „das Phänomen der Einsamkeit“, so gehört Piazzollas Musik doch immer den Paaren und ihrer Liebe. Einer wohl meist vergangenen Liebe, die es aber gegeben hat, und das bleibt. Diese Botschaft des Tangos kann niemand vergessen, der ihn noch fortschreibt.

Piazzolla hat aber auch Konzertmusik eingearbeitet, Johann Sebastian Bachs Fugentechnik etwa, wovon die großartige Fuga y Misterio zeugt, die auf den CDs doppelt erklingt, das eine Mal für die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker, das andere Mal für den Geiger Gidon Kremer arrangiert. Und wenn seine hart rhythmisierten melodischen Linien sich oft mit dem Mordent unterbrechen, einem Wechseln des Haupttons mit der Untersekunde, dann denkt man an die Symphonie Nr. 4 von Johannes Brahms, deren Schlusssatz auf diese Figur hinausläuft und ihr die Bedeutung gibt, es sei nun alles vorbei. Bei Piazzolla ist der Mordent nur ein Ausrufungszeichen, das den Lebens- und Sprachfluss befeuert.

Info

The Sound of Piazzolla Warner Classics, 2017

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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