Marx in Dada

Bildband Lea Grundig schuf Ende der 1960er Jahre einen Zyklus über das „Kommunistische Manifest“ – der DDR gefiel das nicht
Ausgabe 21/2021

Andreas Wessel, der das Nachwort geschrieben hat, hat selbst Zweifel: Sind diese Bilder „überhaupt noch lesbar? Sie erfordern Denken und Fühlen, aber womit soll gedacht werden, ohne Bildung einer wissenschaftlichen, d. h. vernunftgeleiteten Weltanschauung?“ Als die DDR-Künstlerin Lea Grundig 1967/68 ihren Elfteiligen Bild-Zyklus zum Manifest der Kommunistischen Partei schuf, waren die Rezeptionsbedingungen ganz anders als heute. Ja, wir schauen heute auf Grundig wie falsch herum durch ein Fernglas. Das liegt aber nicht nur an Mängeln unserer Vernunft! Das erste Blatt zeigt aufragende Industrie, unter ihr die Arbeitermassen, und oben auf der Höhe der höchsten Türme die Ausbeutung, dargestellt durch große raffende Hände mit Gichtknoten. Bourgeoisie und Proletariat heißt dieses Blatt. Aber wer soll es verstehen, wenn heute ein Monteur der Autoindustrie 42.000 Euro jährlich verdienen kann und sich vielleicht gemeinsam mit dem ihn ausbeutenden Kapitalisten gegen die ökologische Wende stemmt?

Eine weitere Barriere ist das Verhältnis zur Kunst-Avantgarde. Grundigs zweites Blatt, Die Krise im Ruhrbergbau, ist ganz im dadaistischen Stil gehalten. Das heißt, es ist aus Einzelheiten montiert, die auch ausgetauscht werden oder von denen einige fehlen könnten, ohne dass die Ästhetik der Bildeinheit verletzt würde, und es heißt weiter, dass ein gutes Drittel aus Realitätsfragmenten besteht, die Grundig nicht bearbeitet, sondern nur eingefügt hat: Reklamebildfetzen von Maggi oder Opel, mit Aufschriften wie „Weniger Bananen, aber mehr Banane“. Dazwischen gezeichnete Arbeiter, eine Gruppe etwa, die von einer Faust am Schlafittchen gepackt und weggetragen wird. Peter Bürger, der die Dada-Ästhetik 1974 in einer klassisch gewordenen Studie erklärt hatte, kam 2014 noch einmal darauf zurück: Die Revolte von 1968, schrieb er nun, einen Begriff Walter Benjamins aufnehmend, habe sich in historischer „Konstellation“ mit den revoltierenden Künstlern der 1920er Jahre befunden, doch dieser „Augenblick der Erkennbarkeit“ sei vergangen.

Dann gibt es noch die biografischen und zeitgeschichtlichen Vermittlungen. Sie erschweren die Rezeption vielleicht am meisten. Grundig war eine jüdische Künstlerin, die 1926 in die KPD eintrat, 1938 von den Nazis verhaftet wurde, 1940 nach Palästina flüchtete, 1951 die Professur für Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden erhielt. Alles andere als eine Dissidentin, gelingt es ihr dennoch nicht, den Bildzyklus in der DDR zu veröffentlichen. Dabei war sie zu ihm beauftragt worden – aber ihr Malstil gefällt nicht. Genaues weiß man nicht, nur dass eine Sitzung des Politbüros sich eigens mit der Sache befasste. Sie selbst meinte, ihre Arbeit falle noch unter „Sozialistischen Realismus“, aber andere sahen das offenbar anders. Nur einzelne Blätter können, aus dem Kontext gerissen, an verstreuten Orten erscheinen. Umso verdienstvoller ist die späte Veröffentlichung des Gesamtzyklus, denn nun ist er zum Stolperstein geworden: Er regt zur Aufarbeitung der Licht- und Schattenseiten der DDR an; eine Jüdin wie Grundig konnte sich in der DDR sicher fühlen.

Den Klassenfeind verstehen

Licht und Schatten auch im Zyklus selber. Grundig schreibt, sie wollte „die Wahrheit des Kommunistischen Manifestes darstellen an den Ereignissen unseres“, also ihres, „Jahrhunderts“. Das gelingt in einigen Bildern recht überzeugend. So ist das vierte Blatt, Oktoberrevolution, nicht nur surreal mit den außereuropäischen Gesichtern im weiß strahlenden roten Stern der Bildmitte, dem sich kämpfende, hoffende Menschen, gute und böse, von allen Seiten nähern, sondern erinnert auch an die Darstellung des Dante-Himmels bei Tintoretto. Das achte Blatt, Die Krise in den USA und der Vietnamkrieg, zeigt einen Vietnamesen, der mit einem Ungetüm ringt: Dass es der Mitteltafel von Max Beckmanns Perseus-Triptychon entfernt ähnelt, wenn man diese verkehrt herum hält, ist nicht zu verkennen. Andere Blätter bieten nur platte Propaganda. Zum Beispiel das sechste, Die beiden deutschen Staaten, wo in der DDR alles eitel Sonnenschein ist, Friedenstaube, Nelken und fröhliche Kinder, während der westdeutsche Adler die Menschen mit dem Stiefel zertritt. Wie steht Grundig zum Prager Frühling, der bald erstickt werden wird? In der Perspektive ihrer Blätter gibt es ihn gar nicht.

Zur „Wahrheit des Kommunistischen Manifestes“ gehört die Bewunderung, die Marx und Engels der Bourgeoisie entgegenbringen. Eine „höchst revolutionäre Rolle“ habe sie gespielt. Dass sie eine weltweit „unendlich erleichterte Kommunikation“ schafft, gilt sogar noch heute. Sie auf raffende Gichthände zu reduzieren, war unklug. Wer seinen Klassenfeind nicht versteht, kann ihn natürlich auch nicht besiegen.

Info

Lea Grundig: Elfteiliger Bild-Zyklus zum Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels Mit einer Einleitung von Dietmar Dath und einem Nachwort von Andreas Wessel, verlag 8. mai 2020, 126 S., 22,90 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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