Wolfgang Fritz Haugs Aufzeichnungen, das Tagebuch und Werkstatt-Journal eines Intellektuellen, sind nahezu 900 Seiten dick. Sie reflektieren fast nur öffentliche Vorgänge und politische Gespräche aus der Zeit zwischen 1990 und 2000. Das war nicht irgendein Jahrzehnt, sondern da begann sich eine neue Welt ohne Ostblock zu formen. Haug gehörte zu denen, die es als existenzielle Krise erfuhren, denn er hatte auf den innersozialistischen Reformversuch Michail Gorbatschows gehofft, sah sich getäuscht und blieb trotzdem Marxist.
Er legt minutiöse Berichte und vielfache Deutungsanstrengungen zum Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung vor. Der Zeitrahmen ist gut gewählt, denn es bedurfte noch des NATO-Kriegs gegen Slobodan Milošević Jugoslawien am Ende des Jahrzehnts, um auch die letzte Karikatur eines „realen Sozialismus“ in Europa vollständig auszulöschen. Die innenpolitische Seite macht Haug am Schicksal Oskar Lafontaines deutlich, der 1990 als Kanzlerkandidat der SPD und neun Jahre später als Bundesfinanzminister scheiterte: Wie sein „Projekt in der Wiedervereinigung, so ist es jetzt im Krieg untergegangen“.
Gefühlte Vergeblichkeit
Diese „Jahrhundertwende“ bedeutete für westdeutsche marxistische Intellektuelle, dass die Arbeitszusammenhänge einer beginnenden Erneuerung des Marxismus, die über mehr als zwei Jahrzehnte fruchtbar gewesen war – so im Brückenschlag zur neostrukturalistischen Philosophie –, quasi über Nacht zusammenbrachen. Haug selbst muss nicht selten „Anflüge des Gefühls völliger Vergeblichkeit meiner hiesigen Arbeit“ niederkämpfen. Die Dimension des Verlusts macht ein Vergleich deutlich, den er 1999 anstellt: „Als Karl Korsch, Bertolt Brecht und Walter Benjamin einen Arbeitskreis über Heidegger planten und mit Otto Neurath und Rudolf Carnap, dem Psychologen Kurt Lewin und dem Physiker Hans Reichenbach sich austauschten, da bildete sich ein Laboratorium neuen Denkens mit vielversprechenden Ansätzen und Impulsen.“ Nazismus, Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg machten diesem Denken den Garaus. Die staatssozialistische Metaphysik des Marxismus-Leninismus „und der unfruchtbare Leerlauf der Analytischen Philosophie sind entgegengesetzte Sackgassen, die im 20. Jahrhundert enden“.
Haug, der am 23. März 80 Jahre alt wurde, ist als Philosoph an der Tradition orientiert, unter Materialismus auch Materialsättigung der Texte zu verstehen. Stets changiert sein Nachdenken zwischen politischen und kulturellen Ereignissen, die er teils direkt erlebt – etwa wenn er 1990 im Auftrag der sich bildenden Freitag-Redaktion nach Moskau reist, um den 28. Parteikongress der KPdSU zu beobachten –, teils sich aus Büchern und Aufsätzen, aber auch aus vielen Magazinen, Tages- und Wochenzeitungen vermitteln lässt.
Weder ist ihm ein Detail zu flüchtig, um daraus eine allgemeine Hypothese zu ziehen, noch liest er politische Kommentare der FAZ, des Freitag oder von El País weniger aufmerksam als wissenschaftliche Texte. Viel denkt er auch über Dichtung nach, zu seinen Lektüren gehört die mexikanische Barockdichterin Sor Juana. In seinem Interesse für Zeitungskommentare wirkt Antonio Gramsci nach, der italienische Marxist, dessen in der Haft geschriebene Gefängnishefte er im Zeitraum des Journals herausgibt. Gramsci hatte nämlich die Theorie entwickelt, dass alle Arbeiter Intellektuelle sein könnten und es zudem „organische Intellektuelle“ gebe, deren Funktion es sei, für eine der kämpfenden Klassen zu denken. Wer so herangeht, wird natürlich die FAZ beachten.
Immer geht es darum, Versuche der Erringung von Deutungshoheit mit Gramscis Hegemonie-Begriff einzuschätzen und ihnen entgegenzutreten. Haug drückt sich da in der Nüchternheit brecht-ähnlicher Sentenzen aus. „Wenn man zu lange nicht mehr widerspricht, drückt einen all das Unwidersprochene schließlich zu Boden“, leitet er seine Kritik einer Rezension von Botho Strauß’ Beginnlosigkeit (1992) ein. Der stets präsente Gramsci-Bezug schließt überraschende Erinnerungen ein, so wenn Haug 1992 von einem Interview berichtet, das der chilenische Putsch-General Pinochet, damals nicht mehr Staatspräsident, aber noch Oberbefehlshaber des Heeres und Senator auf Lebenszeit, der Komsomolskaja Prawda gab. Die russische Krise, sagt Pinochet unter dem Titel „Wie ich Russland retten würde“, sei der chilenischen ähnlich, in der er „unmittelbar zugeschlagen“ habe. Das Marx’sche Kapital habe er studiert, darüber hinaus aber auch Gramsci, dessen Lehre ein gefährlicher „Marxismus in neuem Gewand“ sei. Denn in ihm lebt der Kommunismus nach dem Ende des Marxismus-Leninismus weiter.
Gorbatschows blinder Fleck
In der Einführung des Marktes lag der Kern von Michael Gorbatschows Reformanstrengung. Im Rückblick wird aber deutlich, dass weder er noch andere Genossen der KPdSU eine Chance hatten, ihn so einzuführen, dass der Sozialismus gewahrt bleiben würde. Der Hauptgrund waren Gorbatschows politische Illusionen: Ihm ging es um Demokratie, der freie Markt gehörte dazu, wurde aber nicht ökonomisch begriffen. Dass Haug die teils grotesken Debatten detailliert wiedergibt, erklärt sich aus dem Interesse an der Funktion, die Intellektuelle erfüllen müssten. Die Genossen erfüllten sie denkbar schlecht, aber wer sonst hätte es versuchen sollen? Dass kein theoretischer Vorlauf für den Marktübergang produziert worden war, rächte sich nun bitter.
Zu Gorbatschows Politik zitiert der enttäuschte Haug immer neue Interpretationen, eine aber ist besonders interessant: Er habe jedenfalls bewirkt, dass der Übergang zum kapitalistischen Markt einigermaßen friedlich verlaufen sei. Die Beobachtung bleibt auch dann wichtig, wenn man umgekehrt über eine Revolution nachdenkt, die aus dem Kapitalismus herausführen würde. Dem sowjetischen Staats- und Parteichef gelang es nämlich, jahrelang Demokratie so zu propagieren, dass sich kein bedeutsamer Widerstand in der herrschenden Schicht regen konnte – selbst dann noch nicht, als Anfänge von Parlamentarismus installiert wurden –, und als es dann doch zum Militärputsch kam, 1992, war es zu spät; er brach in kürzester Zeit zusammen.
Info
Jahrhundertwende. Werkstatt-Journal 1990 bis 2000 Wolfgang Fritz Haug Argument Verlag mit Ariadne 2016, 880 S., 38 €
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