Mit aller Macht

Auschwitz Wladimir Putin wurde nicht zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers eingeladen. Das ist empörend – wie auch die irreführende Berichterstattung darüber
Ausgabe 05/2015
Am 27. Januar 1945 wurden die letzten Überlebenden von der Roten Armee befreit
Am 27. Januar 1945 wurden die letzten Überlebenden von der Roten Armee befreit

Foto: AFP/Getty Images

Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit, doch zu der Gedenkfeier ist Präsident Wladimir Putin, der Repräsentant des russischen Volkes, das dabei die Hauptrolle spielte, nicht eingeladen worden. Das ist ungeheuerlich, und man weiß wieder einmal nicht, worüber man mehr empört sein soll – über den Skandal der Nichteinladung als solchen oder über die Berichterstattung vieler deutscher Medien.

Es sei ja auch sonst niemand ausdrücklich eingeladen worden, wird da behauptet und auf die Zuständigkeit des Veranstalters, des Auschwitz-Museums, verwiesen. Allen habe es freigestanden zu kommen, und so hätten sich denn auch die Staats- oder Regierungschefs aus 40 Ländern angemeldet, nur Wladimir Putin eben nicht; er selbst sei also schuld, wenn er an diesem Tag nicht dabei gewesen ist. Zum 60. Gedenken war Russlands Staatschef noch ausdrücklich gebeten worden. Und jetzt, zur 70. Wiederkehr der Lagerbefreiung, lud die polnische Premierministerin Ewa Kopacz, als sie zu Besuch in Kiew weilte, den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko persönlich ein.

Überhaupt taten Polen und die Ukraine alles, um Putin das Erscheinen unmöglich zu machen. So behauptete der polnische Außenminister Grzegorz Schetyna, nicht Russen, sondern Ukrainer hätten Auschwitz befreit. Dabei sollte Schetyna wissen, dass die Abteilung der Roten Armee, die den Namen 1. Ukrainische Front trug, nicht deshalb so hieß, weil sie aus Ukrainern bestanden hätte, sondern weil das ihren Einsatzort beschrieb. Man ist Schetyna aber gleichsam dankbar, weil er nicht so weit ging wie der Kiewer Regierungschef Jazenjuk. Der sagte kürzlich bei seinem Berlin-Besuch, Deutschland wie die Ukraine hätten schlechte Erfahrungen mit Russland gemacht, sei doch die Rote Armee der Invasion in Deutschland schuldig. Die ARD strahlte diesen Unsinn aus, und weil niemand widersprach, muss man annehmen, dass auch die Bundesregierung Putin das Erscheinen bei der Gedenkfeier unmöglich gemacht hat.

All das fließt in die mediale Urteilsfindung mit keinem Wort ein. Selbst in der taz kann man stattdessen lesen, „nur einer“ habe es „beleidigend“ gefunden, „keine gesonderte Einladung“ bekommen zu haben, nämlich Russlands Präsident. Die Zeitung hat einfach einen Artikel des Wiener Standard leicht verändert übernommen („empörend und gar beleidigend“), erinnert aber so wenig wie andere Medien daran, dass zwei Millionen russische Kriegsgefangene in Deutschland ermordet wurden, darunter mindestens 70.000 Juden. Oder dass in Israel das Ende des Zweiten Weltkriegs Jahr für Jahr mit russischen Kriegsliedern gefeiert wird. Oder dass die etwa 7.500 Häftlinge, die sich am 27. Januar 1945 noch in Auschwitz befanden, beim Erscheinen ihrer Befreier in den freudigen Ruf „Die Russen sind da!“ ausbrachen.

Es blieb dem Historiker Götz Aly vorbehalten, das in einem WDR-Interview zu tun. Im Standard und in der taz liest man im Unterschied dazu nur, „ein ukrainischer Jude“ habe das Tor von Auschwitz geöffnet, womit erneut suggeriert wird, die 1. Ukrainische Front müsse dann ja wohl aus Ukrainern bestanden haben. Dass diese Desinformation mit dem Krieg zusammenhängt, der heute in der Ukraine geführt wird und gerade eskaliert, liegt auf der Hand. Der Schluss liegt nahe, dass wir wohl auch über diesen Krieg nicht sehr wahrheitsgetreu informiert werden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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