Mozart in Corona-Zeiten

Musikfest 2020 Drei Symphonien, in wenigen Wochen des Sommers 1788 niedergeschrieben – reflektieren sie die nahende Revolution?

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Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791)

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Das diesjährige Berliner Musikfest begann am 25. August und endet am 23. September. Wie nicht anders zu erwarten war, bildet Beethoven, dessen 250. Geburtstag wir feiern, den wichtigsten Schwerpunkt, doch wird auch etwa die britische Komponistin Rebecca Saunders herausgestellt. Ich werde über beide berichten. Die vielleicht interessanteste Beethoven-Würdigung ist die Darbietung seiner sämtlichen Klaviersonaten durch Igor Levit, den 33-jährigen deutsch-russischen Pianisten, der heute in aller Munde ist. Seine beiden letzten Konzerte mit den spätesten Sonaten werde ich besuchen. Am Samstag, den 29. August, wurde das erste Orchesterkonzert gegeben und ich war dabei. Auf dem Programm standen die drei letzten Mozart-Symphonien, von denen man sagt, sie stünden Beethovens Sinfonik schon nahe und hätten sie quasi eingeleitet.

Es spielte die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. Ich war sehr gespannt auf die Version dieses Mannes, an dessen Dirigierweise ich mich anfangs erst hatte gewöhnen müssen. Ich erinnere mich noch an eine Aufführung der Walküre von Wagner, es muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein, die meine Lebensgefährtin und ich, wir waren Wagnerbegeisterte, langweilig fanden; Barenboims moderne Auffassung, seine Ausleuchtung der Feinheiten in eher impressionistischer Manier, während ältere Dirigenten die großen Linien des symphonischen Aufbaus hervorgehoben hatten, überforderte uns damals. Wenn ich jetzt auf dieselbe Zeit zurückblicke, ist es ganz anders. Ab dem 25. Juli war eine Inszenierung des Rings von Harry Kupfer mit ihm als Dirigenten bei 3sat und br-klassik.de zu sehen – die beste, die mir bekannt ist. Bald nach dem Fall der Berliner Mauer entstanden, reflektiert sie dieses Ereignis. Barenboim ist großartig. Im Netz findet man das jetzt nicht mehr, als DVD ist es noch zu haben.

Auch bei Mozart bewähren sich Barenboims Qualitäten. In Mozarts Musik spielen ja Pausen eine große Rolle.

Man weiß, wie gleichsam naturwüchsig er komponierte; er konnte, während er eine fertige Partitur in Reinschrift übertrug, im Kopf schon das nächste Werk verfassen. Komponieren muss für ihn so selbstverständlich gewesen sein wie für unsereins das Denken. Er dachte musikalisch, ließ seine musikalischen Gedanken stringent einander folgen, und dann ist es ja so, zwischen einem Gedanken und dem nächsten liegt eine Pause, die des Nachdenkens. Dazu muss man auch wissen, dass die „Sonatenhauptsatzform“, die wir heute in seinen späten Symphonien wiederfinden, zu seiner Zeit noch gar nicht existiert hat, als Begriff jedenfalls nicht. Natürlich hatte sich die musikalische Entwicklung schon eine Zeitlang auf sie zubewegt und Mozart lebte und webte in dieser Bewegung; aber es war doch keineswegs so, dass sie als Schema fertig vorlag und Mozart es ausgefüllt hätte. Nein, der Begriff entstand erst im Anfang des 19. Jahrhunderts, während die drei letzten Mozart-Symphonien in ein paar Sommer-Wochen des Jahrs 1788 entstanden. Die kurze Entstehungszeit kann uns nur fassungslos machen, sie macht aber nochmals die Vorstellung einer Art Gedanken-Niederschrift plausibel.

Doch zurück zu Barenboim, der eine eigene Art hat, die einzelnen musikalischen Gesten zwischen den Pausen zu spielen. Wie sie mit Bestimmtheit einsetzen, verhauchen sie sich am Ende. Als wenn der Komponist, während er noch dabei ist, diesen Gedanken jetzt gerade auszusprechen, schon nach dem nächsten sucht.

Die Darbietung war für mich trotzdem insgesamt eine Enttäuschung, was nicht Barenboims Schuld war. Schon einmal die Atmosphäre fehlte. Jede zweite Sitzreihe leer, zwischen mir und den nächsten Nachbarn zwei unbesetzte Plätze. Und dann die Stühle auf der Bühne – ich habe eine Weile gebraucht, es zu begreifen. Mit großem Abstand voneinander aufgestellt, füllten sie das ganze Podium aus. Die Streicher spielten dann mit Gesichtsmasken, die Bläser natürlich nicht. Ich fand es gut, dass zu Beginn ein Sprecher das Problem erklärte: Es wäre schon wichtig, dass die Mitglieder eines kleinen Mozart-Orchesters, im Grunde eines Ensembles, dicht beieinander sitzen. Das Wort kommt von lateinisch insimul, „zugleich, zusammen“. Wie das Ensemble selbst ein einziger Körper ist, so sein Klang, über dessen Genauigkeit Bruchteile von Sekunden entscheiden; ein „Klangkörper“ eben. Dieser Körper war zerstückelt. Der Sprecher lobte mit Recht, dass trotzdem gespielt wurde. Ob aber wirklich mit vollem Erfolg – ich weiß nicht. Las heute auch einen Beitrag von Maria Ossowski, rbb: „Die Abstände stören nicht“, schreibt sie knapp. Mich haben sie gestört. Für meine Ohren war es wie der Klang eines ausgedünnten Großorchesters, in einem dreiviertelleeren Raum. Als wenn Mozart Strauss oder Mahler wäre.

Ich habe Hemmungen, das niederzuschreiben, weiß ich doch aus den Büchern und Artikeln des Literaturwissenschaftlers und Soziologen Jürgen Link, wie wichtig es für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist, dass die die „normalen“, allbekannten zyklischen Ereignisse, zu denen nicht nur Fußballspiele sondern eben auch Konzerte gehören, nicht plötzlich von der Bildfläche verschwinden. Gerade wir Journalisten hätten dann die Aufgabe, zu künden: Ja doch, the games go on. Aber ich will nicht verschweigen, als wie prekär ich es wahrnehme.

In wenigen Wochen niedergeschrieben, konnte es nicht ausbleiben, dass die drei letzten Mozart-Symphonien motivische Gemeinsamkeiten aufweisen. Manche haben vermutet, dass Mozart bewusst ein einziges Werk mit ihnen habe schreiben wollen; als einen der Belege führen sie an, dass die erste der Symphonien, Nr. 39 in Es-Dur, mit einer ungewöhnlich langen Einleitung beginnt und die letzte, Nr. 41 in C-Dur, die „Jupiter-Symphonie“, mit einem ungewöhnlich langen Schlusssatz endet. Das ist recht spekulativ, stattdessen reicht es wohl anzunehmen, dass Mozarts Gedanken in diesen Wochen um ein Zentrum kreisten – die sich anbahnende Revolution. In den beiden Vorjahren hatte er Le nozze di Figaro und Don Giovanni komponiert, das waren Opern mit unzweifelhaft revolutionärem Gehalt. Besser gesagt waren sie vorrevolutionär und und so auch die Symphonien. Mit so viel Grazie, wie die Es-Dur-Symphonie bei aller Entschiedenheit mitteilt, und auch die C-Dur-Symphonie, wird ein Beethoven auf die Revolution nicht zurückblicken können. Gedankenreich sind auch seine Werke, aber sie sind Kraftwerke.

Ja, selbst Mozarts g-moll-Symphonie, Nr. 40, macht trotz ihrer tragischen Wucht nicht den Eindruck, sie nehme revolutionäre Verwicklungen vorweg; eher liegt die Ahnung in ihr, dass die hochherzigen Erwartungen nicht würden eingelöst werden können. Obwohl wir inzwischen ganz andere „Dissonanzen“ gewöhnt sind als die, die Mozart im dritten Satz dieser Symphonie unterbringt, wirken sie heute noch verstörend. Aber trotzdem: Mozart setzt diese Symphonie nicht ans Ende. Am Ende steht der Schlusssatz der „Jupiter-Symphonie“ (die Bezeichnung wurde ihr nachträglich gegeben) mit der berühmten Viertonfolge c-d-f-e als Thema. Dass es auf b-a-c-h anspielt, die Folge, mit der Johann Sebastian Bach sich gleichsam unterschrieb, wird auch dadurch nahegelegt, dass der ganze Satz von Fugati durchwoben ist. Nur dass b-a-c-h leidend klingt, c-d-f-e erlöst. Besonders die polyphone, ungewöhnlich komplexe Durchführung ist sehr „bachisch“. Vielleicht hat Mozart schon ähnlich gedacht wie in unserer Zeit Luciano Berio, der die 1968er Revolution mit einer Sinfonia kommentierte, in der er die Musik vieler Epochen synchronisierte. Als wollte er sagen, es geht um ein Ziel, das immer vorhanden war: Wenn es nie aufgegeben wird, wird es auch einmal verwirklicht werden. Eben diesen Gedanken hatte Immanuel Kant zu Mozarts Zeit ausdrücklich formuliert.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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