Muss moderne Musik immer moderner werden?

Ultraschall 2017 Lieder von Wolfgang Rihm, die an Franz Schubert erinnern

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Samstag 14 Uhr ein Kammerkonzert mit Liedern von Wolfgang Rihm – das erste an einem langen Tag der Lieder mit vier Konzerten, bis hin zu Jennifer Walshe, bei der sich nach 23 Uhr „Hochkultur mit Trash verbrüdert“, ausgehend von der „alltäglichen Überdosis nutzbringenden und nutzlosen Überdosis von Wissen via Internet“. So das Festivalprogrammbuch über ihre Komposition von 2011 ALL THE MANY PEOPLS [sic], die mit dem Titel an ein Lied der Beatles erinnert (where do they all come from? where do they all belong?). Eigentlich hätte ich ihr Konzert anhören sollen, denn es ist das einzige, in dem eine Künstlerin ihre Komposition selbst vorträgt, ihren Vortrag selbst komponiert hat. Wo also die Rede vom „Unkomponierbaren“ des „Eigensinns“ der Stimme erst wirklich auf die Spitze getrieben wird, die das Buch mit dem Hinweis auf Popsängerinnen geschärft hatte.

Ich habe mir nur Rihm angehört, was in diesem Fall auch heißt, nur Kompositionen von 1999 und 2000, ja von 1990. In den einführenden Worten wurde tatsächlich hervorgehoben, dass dieser Anfang des Liedertags noch weit entfernt sei von seinem viel moderneren Ende; dass Rihm gleichsam noch „klassisch“ komponiere, wenngleich natürlich ganz anders als Schubert. Es gehöre aber ja zum Konzept von Ultraschall, das Neueste mit dem nicht so Neuen zu verbinden. Ist die Wahrnehmung differenter Aktualität bei einem Zeitunterschied von nur gut zehn Jahren nicht erstaunlich? Und muss man dann nicht auch darüber staunen, dass Rihm selbst seinen Stil im Jahrzehnt zwischen 1990 und 2000 nicht geändert hat? Aber es ist wahr: Diese Lieder klingen „klassisch“; in meinen Ohren haben sie nicht anders als Schubert geklungen.

Ich habe mich während des Vortrags gefragt, ob ich vom Hören Neuer Musik schon so „verdorben“ bin, dass ich den Unterschied tonaler von atonaler Musik gar nicht mehr wahrnehme. Das Paradox lag aber in der Musik selber. Sie ist voll von tonal nicht auflösbaren dissonanten Akkorden, wo also das Wort Dissonanz keinen Sinn mehr ergibt, die gesungene Tonfolge indes bleibt häufig, wenn nicht meistens im tonal Gewohnten. Zum Beispiel der Vers „In das enge Kämmerlein“ der Karoline von Günderode geht, wenn ich d als Anfangston setze - ich habe nicht das absolute Gehör -, von d (das) auf g (enge), a (Kämmer-) zu b (-lein), und auch der Rhythmus ist traditionell (die Silben fließen gleichmäßig fort, die Betonung liegt auf –lein). Überhaupt kommen fast nur tonal gewohnte Sprünge vor und die Melodieführung kann chromatisch genannt werden, welches Wort wiederum in „rein“ atonaler Musik keinen Sinn hätte. Folgt einmal auf mehrere Halbtonschritte ein Ganztonschritt, ist man betroffen und horcht auf, als wärs Romantik.

An Schubert erinnert auch, wie die musikalischen Figuren mit dem Text der vertonten Gedichte variieren. Einerseits waren alle drei Zyklen, auch der erste zu Heiner Müller, auch der zweite zu Rilke, im selben düsteren Ton gehalten und trugen überdeutlich dieselbe Handschrift (Ende der Handschrift sind Müllers von Rihm vertonten „Elf späten Gedichte“ überschrieben). Andererseits kam es nur im Zyklus der Günderode, wo sie hingehörten, zu musikalischen Eruptionen. Denn sie sucht den Tod, den sie sich im Alter von 26 Jahren geben wird, und fürchtet ihn auch: „Schneller am Busen / Als sie sonst welkten / Drängt sich das Blut dir / Pochend zum Herzen.“

Nebenbei, Rihm lässt dies Gedicht mit dessen Anfangsvers „Liebst du das Dunkel“ enden, wobei er der tiefen Stimme die schrillen höchsten Töne der Klaviertastatur unter-, nein überlegt, eine Kombination, die mich nicht zum ersten Mal irritiert hat. Bei Mozart Ähnliches: Der steinerne Gast im Don Giovanni fällt ins tiefste Register, wenn er von der „himmlischen Speise“ erzählt. Bisher dachte ich, Mozart mache sich über ihn lustig. Aber es kann auch sein, dass Mozart und Rihm die Inkommensurabilität des Todes, oder mythisch ausgedrückt des Himmels, zum Ausdruck bringen wollen. Dass er schwerlich nach „oben“ oder „unten“ führen dürfte, wird durch die unmögliche Identifikation beider Richtungen angedeutet. Oder schwebt nur die lateinische Vokabel altus vor?

Ganz anders die Figuration in der Vertonung Heiner Müllers. Hier geht es um die Suche nach Worten, die das Unfassbare des Todes artikulieren könnten. „Schlaflos im Fenster die Nacht / Fragt wozu das Ganze“, „Das Dunkel lässt nicht mit sich reden“ – hier spricht einer, der zuschaut, wie das Nichts sich fragt und nicht antwortet. Er selbst scheint nicht mehr da zu sein: „Leere Zeit Meinen Schatten von gestern Hat die Sonne verbrannt“, ist es aber doch: „Warten auf nichts“. Mehr als der Schatten, den er verloren hat, ist er nie gewesen: „Wie einen Schatten / hat Gott den Menschen erschaffen wer soll / ihn richten wenn die Sonne / untergegangen ist.“ Der Dichter spricht nicht nur vom Tod, der ihm bevorsteht, sondern auch vom Ende der sozialistischen Hoffnung, das hinter ihm liegt. Wahrscheinlich ist die Deutung richtig, die Stephan Speicher in der Berliner Zeitung gegeben hat: „Mit dem Ende der Geschichtsphilosophie, die notwendig auf ein Ziel ausgerichtet ist, verliert das Drama, das auf Widerspruch und also Bewegung angelegt ist, seine Rolle. Nun wird das Gedicht zum Ausdruck einer stillgestellten Zeit.“ Deshalb habe sich Müller seit 1989 vom Drama ab- und der Lyrik zugewandt.

Die Suche nach Worten ist das, was Rihm musikalisch umzusetzen versucht. Stockende, hervorstoßende und wieder verstummende Gesten charakterisieren diese Komposition. Anders als die zur Günderode bleibt sie immer verhalten. Das ist nun deshalb mit Schubert nicht vergleichbar, weil Schubert nie solche Gedichte vertont hat. Es gab damals nichts Derartiges. Aber eigentlich reduziert sich der Unterschied darauf, dass Rihm für einen anderen Gedichtgehalt andere Figuren braucht, während ein Gehalt wie bei der Günderode beide zu sehr ähnlichen Erfindungen motiviert, die der eine rein tonal, der andere im Ganzen atonal ausspricht. Im Übrigen war die Suche nach Worten schon immer die Aufgabe und das Problem aller Lyrik. Es tritt nicht erst auf, wenn der Tod thematisiert wird. Wie T. S. Eliot in einer Rede gesagt hat: Der lyrische Dichter „weiß selber nicht, welche Worte er sucht, bis er sie ausgesprochen hat“, „er wird von einem Dämon verfolgt, einem Dämon, dem gegenüber er machtlos ist, weil er, in seinem Anfangsstadium, gesichtslos, namenlos, unbekannt ist“, und dieser Dämon muss nicht der Tod sein, nicht unmittelbar jedenfalls. Was Eliot daran interessiert, ist das Paradox, dass der lyrische Dichter „sich all diese Mühe nicht [macht], um sich einem anderen Menschen mitzuteilen, er will nur Erleichterung von einem plötzlichen Unbehagen finden“, dann aber will er „doch wissen, was das Gedicht [...] anderen bedeutet“. Es interessiert Eliot deshalb, weil er selbst Lyriker wie Dramatiker ist und als Dramatiker sogar noch eine dritte „Stimme der Poesie“ kennt, diejenige, die andere zu anderen sprechen lässt. (Die drei Stimmen der Poesie, in Akzente 2. Jg. 1955, S. 463-479).

Es ist das Paradox dieses Festivals, und vielleicht kann man sagen aller Musik. Sie sucht nicht einmal nach Worten, sondern nur nach Tönen überhaupt, Tönen, deren Sinnhaftigkeit schwer zu bestreiten ist, obwohl manche es versuchen, und die doch nie an Worte heranreichen, in die sie übersetzt werden könnten. Man kann sie mit Tierlauten vergleichen, der Unterschied ist nur, dass Tiere nach ihren Lauten nicht suchen müssen, was wohl auch der Grund dafür ist, dass sie weniger artikuliert sind als musikalische Laute. All diese Laute, deren Bedeutung sich nicht fixieren lässt, versuchen nicht nur etwas zu bedeuten, wie Angst oder Wut, sondern richten sich auch an andere und da wäre zu hören, was der oder die Bedeutende selber bedeutet, wenn man nur übersetzen könnte, was in der Stimme liegt. Das kann man nicht. Und doch mag der unübersetzbare Laut näher an der Bedeutung sein als das Wort, an das er wiederum selbst nicht heranreicht.

Von der Frage, wie modern Rihm ist, oder in diesen Liedern war, bin ich nun ganz abgekommen. Sie ist jedenfalls leichter zu beantworten als die Fragen, von denen die Rede war. Muss moderne Musik eigentlich immer moderner werden? Es gibt ja Strömungen in der aktuellen Musik, in denen das geglaubt wird. Und Wege werden immer gefunden, wenn man sie finden will. Notfalls lässt man die Orchestermitglieder herumwandern oder fordert die Zuhörer zum Herumwandern auf. Als Nächstes könnten die Instrumente verbrannt werden. Wäre das etwa nicht zeitgemäß? Man kann aber auch auf die Idee kommen, dass die musikalische Entwicklung, wie sie bald nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen parallelen Schritten, für die Namen wie Boulez, Scelsi und Cage stehen, ihren modernen Rahmen bereits abgesteckt und aufgespannt hat, für die nächste absehbare Zeit jedenfalls, und es seitdem möglich geworden ist, in ihm unermesslich Vieles zu tun, das vorher nicht hätte getan werden können.

Die andere Seite des Rahmens ist die Tonalität und wird es immer bleiben. Wer es nicht glaubt, sehe sich die Sänger eines Chors an, wenn sie atonale Musik singen und dabei ständig die Stimmgabel ans Ohr führen. So weit sie vom „Grundton“ entfernt sind, noch weiter geht nicht. Rihm hat in diesem Rahmen einen originären Platz gefunden. Marktschreierisch zu sein, hat er nicht nötig. Es ist im Gegenteil bestechend, wie selbstverständlich und unaufgeregt seine Musik Tonales und Atonales ineinanderfügt. Der nächste Gedanke ist, dass endlich eine Tradition beginnen sollte, in der die auffälligsten Werke der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Vorläufer nach dem Ersten immer wieder zu hören wären, ganz wie wir es mit Mozart und Mahler gewohnt sind. Ultraschall ist da nur ein Anfang.

Die Interpretation der Rihm-Lieder durch Christoph Prégardien, Tenor, und Christoph Schnackertz, Klavier, war kongenial, gerade auch was die „Schubert-Dimension“ der Kompositionen angeht. Prégardien ließ mithören, wie Schubert vor Jahren von Fischer-Dieskau gesungen wurde. Auch das ist musikalische Intertextualität.

Über zwei Konzerte, die ich am Freitag gehört habe, und das letzte von heute Abend berichte ich in den nächsten Tagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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