Was passiert ist, zeigt die Ikone zweier Sportsmen, die sich teils glücklich, teils hämisch in den Armen liegen - Gerhard Schröder und Hans Eichel ein paar Stunden nach ihrem Sieg. Gäbe es noch mehr Hauptakteure, sagen wir elf wie bei einer Fußballmannschaft, sie könnten sich einer über den anderen werfen, ihre Trikots schwenken, die Eckfahne tanzend umkreisen ... Komisch, dass die Steuerreform in den Umfragen immer noch unpopulär abschneidet. Die deutsche Gesellschaft soll vergessen und verdrängen, was sie ges tern noch wusste. Es wird alles ganz anders und will immer schon auf dem Weg dazu gewesen sein. Bald müssen wohl die Geschichtsbücher umgeschrieben werden. Der Spiegel arbeitet vor, er stellt die Reform im Titelbild als Erstürmung der Bastille dar. Erinnerung scheint keine Option mehr zu sein. Sie ist aber doch eine.
Die rot-grüne Regierung, 1998 nicht zuletzt deshalb gewählt, weil die sie tragenden Parteien der Deckungslücke von 50 Milliarden Mark in Theo Waigels Steuerreformplänen widersprachen, feiert sich nun ihrerseits für eine Lücke von 60 Milliarden. Die Voraussage Wolfgang Schäubles und anderer Unionspolitiker ist eingetroffen: der Widerstand gegen Waigels Pläne werde nach der Bundestagswahl zusammenbrechen. Vorher fragte die SPD noch nach den Folgen der »Nettoentlastung« und antwortete, es laufe auf Abbau des Sozialstaats hinaus. Selbst Waigel hatte die Lücke zunächst viel stärker durch Gegenfinanzierungsmaßnahmen schließen wollen. Denn es gibt ungerechte Steuerbevorteilungen in Deutschland, die nicht einmal die USA, auf deren niedrige Steuersätze man sich berief, ihren ökonomisch Mächtigen zugestehen. Das ist Schnee von gestern. Die USA sind grandios abgehängt. Die Spitzensteuersätze für einbehaltene Gewinne von Kapitalgesellschaften belaufen sich dort auf 46,5 Prozent, in Deutschland ab 2001 auf 38,6 Prozent. Die simple Rechtfertigung lautet, dass Großunternehmen mit so wenig geschmälertem Gewinn vielleicht geneigt sein möchten, mehr Arbeitsplätze einzurichten oder zu halten - statt noch mehr an der Börse zu spekulieren, was ihnen auch niemand verbieten kann.
Mit dem Rheinischen Kapitalismus sind die politischen Verfahren der Bonner Republik begraben worden. Hat es schon einmal eine Regierung gegeben, die den Föderalismus in einer zentral wichtigen Frage so glatt überfahren konnte? Die Bundesländer hatten dem Kanzler gegenüber keine politische Gestaltungsmacht, sondern nur Geldsorgen; sie waren erpressbar. Hätten sie sich quergelegt, wäre ihr Steuerausfall schließlich noch gravierender gewesen. Bezeichnend auch, wie die neue CDU-Führung ausgetrickst werden konnte. Das war nicht bloß Bestrafung für Unerfahrenheit. Bonner Opposition hatte stets die kalkulierte Mischung von ernster Kritik, theatralischer Verweigerung und halboffener Zustimmung zu Regierungsplänen bedeutet. Sprachlich schlug sich das in den »Ja, aber«-Formeln beider großer Parteiblöcke nieder. Solche Einsprüche musste die Regierung meistens teilweise berücksichtigen. An dieser Vergangenheit gemessen, erscheint die Niederlage der neuen CDU-Führung nicht als vermeidbarer Fehler, sondern als Kapitulation vor neuen seltsamen Regeln, deren Bewältigung Zeit braucht.
Oppositionsführer Merz hatte doch versucht, mit »Ja, aber nicht so« zu reagieren. Die veröffentlichte Meinung sah nur, dass Schröder und Eichel den gleichen Weg gingen wie vorher Kohl und Waigel. Es war wirklich wie bei einem Fußballkampf, wo zwei Mannschaften das Gleiche wollen, nämlich Tore, und nur die Frage bleibt, wer es wann schafft. Die Regierung machte sich einen Spaß daraus, das zu unterstreichen, indem sie allen Oppositionsforderungen, die in der Öffentlichkeit begriffen wurden, ohne Streit entgegenkam. Was sollte die Union da machen? Ihr »Ja, aber« lief leer. Mit Konfrontation à la Stoiber war ihr nicht gedient. Man kann eine Politik nicht blockieren, wenn jeder weiß, dass man sie billigt. Auch der Ratschlag, die Union hätte sich selbst als Mutter und Siegerin der Steuerreform präsentieren sollen, geht fehl. Sie hätte damit ihre Überflüssigkeit eingeräumt. Längst konterte Scharping: »Sie hat ja nur geredet! Wir tun etwas!« Wir schießen Tore, sie nicht.
Wie dramatisch verändert die Macht- und Diskursverhältnisse sind, zeigt sich am meisten an der neuen Rolle der PDS. Auch die mecklenburgische Landesregierung war erpressbar, auch die ihr angehörenden PDS-Minister mussten Landes- über Partei-Interessen stellen. Die Parteiführung glaubt aber immer noch, sie könne ihr sozialistisches Programm nur mit der SPD zusammen verwirklichen. Was kommt heraus: 53 Prozent Spitzensteuersatz gefordert, 42 Prozent schließlich toleriert. Innerparteiliche Koalitionskritiker können sich im Recht fühlen und haben nichts davon. Das Spiel geht einfach weiter. Schröders Gegenleistung besteht darin, die PDS nun an den Rentenkonsensgesprächen zu beteiligen. Der Beginn einer neuen Ära? Die neue Ära hat mit der Beteiligung der PDS an den Steuerkonsensgesprächen, mit der erpressten Tolerierung der 42 Prozent schon begonnen. Deshalb klingt der »Rote Socken«-Protest von CDU-Politikern so hohl, daß nicht einmal die FAZ ihn ernstnehmen kann. »Die Unions-Parteien in der Bundesrepublik zu isolieren, das«, schreibt sie, »ist die Zielrichtung dieser Strategie.« Mit 60 Milliarden Mark Steuerverzicht droht nun mal keine Sozialismusgefahr. Von einem Staat, der sich das leistet, wird auch die PDS nicht verlangen können, dass er Rentnern eine bedarfsdeckende Grundsicherung finanziere. Wäre sie nicht doch besser beraten gewesen, sich vorerst mit dem Magdeburger Modell zu bescheiden?
Auch die Opposition von links braucht Zeit, sich auf die neue Wirklichkeit einzustellen. Der Neoliberalismus hat in Deutschland gesiegt. Darüber sich keine Illusionen zu machen, dürfte der Anfang der Gegenwehr sein. Es wäre schon viel gewonnen, wenn das stark Neuartige der Berliner Republik den Menschen und schließlich den Parteien bewusst würde. Solange dieses Bewusstsein fehlt, führen auch Protestwahlen nicht mehr weiter. Der Sieg, den Schröder und Eichel jetzt feiern, ist eben keiner wie beim hunderttausendsten Fußballspiel. Aber wahr ist, was ein Industrieverbandskapitän dazu sagte: nach dem Spiel ist vor dem Spiel - »nach der Reform ist vor der Reform«.
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