Neben allem Furchtbaren, Ärgerlichen, auch manchmal Erfreulichen des Weltgeschehens behält das Musikhören sein Mitspracherecht. Meine Rezension einer sieben CDs umfassenden „Nonsuch Retrospective“ auf Werke des polnischen Komponisten Henryk Górecki erschien hier vor zwei Monaten. In der zweiten Hälfte des Textes hatte ich Góreckis 2014 uraufgeführte vierte Sinfonie behandelt. Ihre Motive waren Anspielungen auf Werke von Wagner, Mussorgski, Strawinski und anderen. Zugleich erschienen sie als Varianten eines im ersten Takt vorgestellten Grundmotivs, so dass sich die Komposition bei aller Vielfalt sehr einheitlich ausnahm. Bilder einer Ausstellung der Melancholie - die Frage aber, ob auch das Hauptmotiv eine Herkunft haben könnte, kam bei mir nicht vor. Ich gebe die Textpassage zunächst so wieder, wie sie hier zu lesen war, und wende mich dann der Frage zu:
„An seinem letzten Werk, der vom ebenfalls komponierenden Sohn Mikolaj Górecki vervollständigten vierten Sinfonie (2014 uraufgeführt), sind die musikalischen Querverbindungen interessant, die der Komponist mit seinen einfachsten Gesten herstellen kann. Das wiederum tragische Grundmotiv verwandelt sich mal in eine Zirkusmusik wie aus Igor Strawinskis Pulcinella (1920) – um gleich danach in Klänge aus dessen Le Sacre du Printemps (1913) überzugehen –, mal klingt ein Klaviersolo wie Modest Mussorgskis Rundgang durch die Bilder einer Ausstellung (1874); und als würde ein Vorhang aufgezogen, verwandelt es sich am Ende in den ersten Teil des Siegfried-Motivs aus Wagners Ring (ebenfalls 1874). Eine Passage erinnert an die Militärmusik, die in der achten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch (1943) entsetzt zitiert wird. Dass gerade hier ein paar Takte folgen, die auch in der minimalistischen Oper Nixon in China von John Adams (1987) stehen könnten, ist vielleicht kein Zufall. Góreckis ganzes Werk erscheint als ins Tragische gewendeter Minimalismus.“
„Das wiederum tragische Grundmotiv“: Schon bei der Niederschrift hatte ich das Gefühl, es nicht ganz zu treffen. „Tragisch“ war nicht das richtige Wort. Hätte ich das Motiv auf ein anderes zurückführen können, wäre es mir möglich gewesen, die besondere Färbung zu benennen, mit der es sich vom Ursprung entfernte. Doch erst gestern kam ich ihm zufällig auf den Grund. Es ist dem Grundmotiv des ersten Stücks der Nocturnes (1897-99) von Claude Debussy abgelauscht, das ich nach langer Zeit wieder einmal hörte. Nuages, der Titel des Stücks, kann mit „Wolken“ übersetzt werden, und sicher ist es diese Bedeutung, die Debussy vorschwebte. Es passt zur Gesamtszenerie eines ozeanischen Fests, wo er etwa Sirenen auftauchen und singen lässt. Doch auch die Übersetzung „Zweifel“ ist möglich und sie dürfte für Górecki ausschlaggebend gewesen sein. Dass der Pole vor seinem Tod am Sinn der Zeitläufte zweifelte, kann der Vierten auch ohne Aufhellung des Grundmotivs entnommen werden.
Gefärbt hat er es nicht tragisch sondern mit lautem empört-verzweifeltem Protest. Jetzt, wo ich die Herkunft sehe, kann ich es auseinanderhalten. Selbst wenn Górecki auf dem Höhepunkt der Symphonie an Wagners Siegfried erinnert, wird keine Tragik evoziert, weil er nur die erste Hälfte des Siegfriedmotivs aufruft. Die läuft in eine Wendung nach oben aus - eine musikalische Frage. Wagners Fortsetzung verklärt die Frage, bei Górecki bleibt sie ganz einfach offen. Fordernd genug trägt er sie vor.
Debussy Wolken waren weder tragisch noch zweifelnd gewesen, dafür geheimnisvoll und voller Melancholie. Melancholisch ist ja alle Musik.
Kommentare 5
Deinen früheren Text zu Gorecki habe ich übersehen, schön, daß Du hier nochmals Gelegenheit bietest, den Polen zu thematisieren. Die IV. Sinfonie Goreckis nehme ich wie die III. etwas zwiespältig auf, manches ist genial, manches irritiert. Zunächst einmal zu den musikalischen Referenzen. Debussys Nuages höre ich nicht, die anderen Bezüge sind teils überdeutlich. Wagner ist nicht nur mit dem direkten Zitat aus dem Ring präsent, sondern auch in dem kompletten zweiten Satz, Mussorgskis Promenade klingt an, am deutlichsten aber die Nähe zu Strawinsky. Nun hat die Sinfonie den Beinamen Tansman Episodes, ich vermute mehrfache Tansman-Zitate.
Zur Musik: Der Beginn ist der kadenzierte Schlußakkord. Hat Gorecki seine IV. selbst vollendet? Wenn nicht, hätte er vielleicht die eine oder andere Wiederholung oder Schleife gekürzt (andrerseits zeigt auch die III. eine exzessive Dehnung – Du nennst das vielleicht etwas irreführend Minimalismus). Weniger wäre hier sicher mehr gewesen. Allerdings gehört das wörtliche Insistieren zu dem rituellen Charakter der Bilder aus dem heidnischen Osten, die Musik ist auf hohem Niveau etwas epigonal. Auch die Blockbildung von archaisch-brutal auftrumpfender Simplizität und zartester filigraner Lyrik läßt Strawinsky mithören (das himmlische Wiegenlied am Ende des Feuervogel). Da gelingt Gorecki in der Elegie des 3. (oder falls man die Minute davor als eigenständigen Satz wertet, des 4.) Satzes (etwa von 15:20 bis 23:40) ein kleines Meisterwerk, das dem Schlußsatz der III. ähnelt, die die beliebteste Musik des Komponisten geworden ist. Gekonnt führt der Schlußsatz der IV. zum Anfang zurück, nimmt dessen Motive auf. Hinzuweisen ist auf den klugen musikalischen Einfall, das Moll der Untergrundmusik in pp zu verdüstern durch Verschmieren des Klangs (ich höre viele Parallelen zu Ives' Unanswered Question, das hier auszubreiten führt aber zu weit). Das Ende der Sinfonie ist schließlich mE mißglückt. Nach 12+6-maligem Spielen des Schlußakkords in Moll und ff mit einem kleinen Einschub des Adagios der Untergrundmusik in pp wird der Schlußpunkt in dem in Dur erneut herausgedonnerten Schlußakkord gesetzt. Das verdirbt etwas den Gesamteindruck. Es wäre doch viel besser gewesen, man hätte nach wenigen Anschlägen des Schlußakkords das Stück in der Untergrundmusik verstummen lassen.
Schön, daß du die Vierte im Detail analysierst, vielen Dank. Nein, Górecki hat sie nicht selbst vollendet. Die Frage, ob er manches noch gekürzt hätte, ist also berechtigt. Aber vielleicht hätte er nicht. Ich höre sie eigentlich nicht so, als sei da ein Wort zuviel. „Minimalismus“ heißt ja auch nicht, daß man sich nicht auf endlose Wiederholungen gefaßt machen müßte; im Gegenteil; wenn man etwa Nixon in China, worauf ich verwiesen habe, anhört, muß man schon eine gewisse Geduld mitbringen. Das „Minimale“ liegt vielmehr in der Simplizität der musikalischen Gesten, und zwar künstlichen Simplizität, die nämlich bei aller scheinbaren Plattheit nicht verbirgt, daß ihre Komponisten auch anders könnten.
"Das „Minimale“ liegt vielmehr in der Simplizität der musikalischen Gesten, und zwar künstlichen Simplizität, die nämlich bei aller scheinbaren Plattheit nicht verbirgt, daß ihre Komponisten auch anders könnten."
Warum künstlichen und nicht künstlerischen Simplizität? Es lässt sich doch schon unterscheiden, wann eine Musik wirklich eine komponierte ist. Künstlich ist eine, wie auch immer verfasste, Musik ohnehin immer. Im Gegensatz dazu liest und hört man ja häufig, dass sich eine Musik oder Spielweise organisch füge oder organisch sei - als sei selbstverständlich klar, was eine organische Musik sein soll.
Wenn ich nun künstlich lese, schwingt für mich aber wiederum eine gewisse Geringschätzung mit - auch wenn Sie das hier erkennbar nicht so meinen. Andererseits ist vielleicht aber auch etwas dran, am Vorwurf einer Künstlichkeit - etwa im Sinne von aufgezwungen, determiniert. Gerade in der aktuellen Musik, die nach wie vor in den Dogmen der alten Wortgeber aus den 50er Jahren ff. gefangen zu sein scheint. War es einst die Verpönung jeder Reminiszenz an Tonalität und "klassischer" Form, so ist es heute anscheinend die Unmöglichkeit, ein Instrument so erklingen zu lassen, dass es als ein solches erkannt wird. Um das jetzt hier nicht zu sehr auszuwalzen, kurz ein Verweis auf den schön kritischen Text "Das Spießerproblem in der Neuen Musik". Ähnliche Erfahrungen wie hier Martin Grütter habe ich jüngst bei Konzerten aktueller Musik geteilt. Aber ich stehe auch dem Begriff von Fortschritt in der Musik sehr skeptisch gegenüber ...
Vielleicht eines, oder zweies, noch zur Künstlichkeit und Plattheit: Im Studium durfte ich einmal Lachenmann in einer Gesprächsrunde erleben, wo er u.a. hören ließ, wenn er "einfach so" am Klavier spiele, kommt tonale Musik heraus. Das, sein, Komponieren sei dagegen etwas ganz anderes. Das einmal zur Künstlichkeit; so dahingestellt. Anlehnend an die hier besprochene Sinfonie Goreckis fällt mir diese eine Sinfonie Schnittkes ein - kann jetzt nicht genauer sagen, welche es ist -, wo er Passagen aus u.a. Beethoven-Sinfonien nicht einmal nur zitiert, sondern bis zur Instrumentierung so exakt wiedergibt und zur Entstellung führt, wo ich mich wirklich frage, was das soll; ob es nicht nur ausgestellte Plattheit oder wirklich Plattheit ist. Ein starker Kontrast jedenfalls zu dem, was ich sonst von Schnittke kenne.
Mit Gorecki bin ich bisher gar nicht vertraut. Habe mir die Sinfonie gerade einmal angehört. Mit Ihrem intertextuellen Zugang gehe ich ja - wir hatten das ja bereits in Diskussion - an sich nicht so ganz konform. In diesem Falle ist er freilich nicht zu leugnen. Auch wenn mir Ihre Übertragung von Debussy zu Gorecki wieder ein wenig zu weit geht. Tragisch finde ich aber eigentlich eine recht treffende Vokabel. Im Gegensatz zu W. Endemann höre ich aber nicht ein "heidnischen Osten" evoziert, wie in Stravinskys Sacre, sondern höre eher einen, ich sage mal, typisch osteuropäischen tragischen Ton; fühle da eher in Richtung Schostakowitsch (ja, etwa wie in dessen achter Sinfonie). Also mehr Realismus als vorgestellte oder eingebildete Rohheit irgendwelcher Urvölker. Die einschneidenden Repetitionen Goreckis gehen wirklich an die Schmerzgrenze; berühren wirklich. Das geht bei Stravinsky nicht. Danke jedenfalls für den Text und den Anschub in Richtung Gorecki!
PS: "Pulcinella" kann ich in der Sinfonie nicht durchhören, eher "Petrushka". Und "Petrushka" ist ja auch eigentlich tragisch.
Grüße!
Das Motiv a-a-e'-es'-a mit finalisierendem Paukenschlag (vgl Mahlers Axthieb in der VI. Sinfonie) kann man tragisch nennen, es umklammert die Sinfonie. Tragisch auch die von mir benannte Verdüsterung durch die kleinen Sekunden sowie durch die größtmöglich dissonanten Einwürfe des Klaviers im zweiten Satz. Der von mir als Meisterstück bezeichnete langsame 3. (bzw 4.) Satz ist nicht tragisch, sondern melancholisch. Aber mit den heidnischen Bildern waren die zahlreichen motorischen Passagen gemeint: 13:43 – 15:18, 23:42 – 30:04, kulminierend in 26:20 – 27:00 und 29:14 – 30:04. Erst danach, strenggenommen erst nach dem Siegfried-Zitat kehrt der Ton zum Tragischen zurück. Man muß sich schon anstrengen, will man nicht in den von mir benannten Stellen den Sacre, noch deutlicher vielleicht die acht kleinen Stücke, das gesamte Frühwerk einschließlich les Noces heraushören. Die Verbindungen zu Schostakowitsch ergeben sich in den lyrischen Passagen. Strawinsky ist, wie Sie sogar selbst bemerken, kein Tragiker, auch nicht in Petruschka, nicht einmal die Geschichte vom Soldaten spielt diese Melodie.
Sie haben recht, „künstlich“ war ein ungewollt zweideutiges Wort. „Gewollte“ Simplizität? Aber der Wille geht auch dahin, daß man mithören soll, daß die Simplizität gemacht und nicht etwa ein direkter spontaner Gefühlstransport ist; gemacht ist alle Musik, aber viele Musik will es verbergen. Es wäre unter diesem Aspekt interessant, Górecki mit Mahler zu vergleichen, obwohl man sicher nicht sagen kann, sie machten es auf gleiche Weise. Am Besten wäre es vielleicht, bei Górecki von einer „Simplizität, die sich ihrer bewußt ist“, zu sprechen.
Auch was Pulcinella und Petrushka angeht, haben Sie recht. Ich hatte beide Werke in meiner Erinnerung zusammengeworfen (es sind keine, die ich oft höre).
Ich wollte nicht sagen, daß in der ganzen Symphonie nichts Tragisches sei, sondern daß mir der Gestus des Grundmotivs nicht tragisch erscheint und auch nicht die Art, wie das Siegfriedmotiv zitiert wird: daß die Tragik bei Wagner erst aus dem Zusammenspiel der beiden Hälften des Motivs entsteht, der Frage und der Antwort, wie man sagen könnte; das Motiv im Ganzen spricht so zu mir: „Deine Frage hat nicht beantwortet werden können, das ist so, das mußt du hinnehmen, aber du hast sie gestellt und dafür bist du ein Held.“ Die Trauermusik für Siegfried nimmt dann im Ganzen denselben Verlauf. Górecki aber spricht: „Nein, ich nehme das nicht hin.“
Der Text von Martin Grütter ist interessant und entspricht in Vielem meinen Erfahrungen. In Berlin ist es im Moment besonders schlimm, aber das ist ein anderes Thema. Eigentlich sollte ich künftig nach Donaueschingen fahren, aber das könnte die Redaktion nicht bezahlen.