Nein zu Preußen

LINKE DEUTSCHLANDBILDER Europa-Freunde müssen sich auch fragen, wer sie selber sind

Wenn in diesen Wochen die rot-grüne Regierung beschuldigt wird, sie habe die deutsche Einheit gar nicht gewollt, in deren trotzdem gemachtem Bett sie sich jetzt suhle, so braucht man darin nicht bloß ein Manöver von Unionspolitikern zu sehen. Dass von Helmut Kohls Spendenaffäre abgelenkt werden soll, ist ja nur die halbe Wahrheit. Wir sollten uns erinnern: vor zehn Jahren waren tatsächlich ein paar »nationale« Probleme bewusst, die mit der staatlichen Vereinigung viel eher abgeschnitten als aufgelöst worden sind. Die jetzt Regierenden waren wirklich nicht begeistert von der Vereinigung. Warum es denn leugnen? Es dürfte produktiver sein, den damaligen Unmut sich heute noch einmal vorzunehmen und nach seinem rationellen Kern zu fragen.

Es stimmt doch, dass Willy Brandts Patriotismus nicht repräsentativ für die jüngere Generation seiner Partei war. Deren Auffassung ist hinlänglich bekannt: mit Auschwitz habe Deutschland das Recht auf Nationalstaatlichkeit verwirkt, nationale Politik falle deshalb mit dem »Einbinden« der Bundesdeutschen in die Westintegration zusammen. Das laut zu sagen, war nicht die Aufgabe der linken Spitzenpolitiker, sondern der mit ihnen verbündeten Publizisten. Ich erinnere nur an den ZEIT-Artikel vom 30. März 1990, in dem Jürgen Habermas die sich anbahnende Vereinigung auf den »DM-Nationalismus« der Ost- und Westdeutschen zurückführte. Und zugleich darauf, dass die Westdeutschen nicht gefragt worden seien. Denn gerade weil sie den »DM-Nationalismus« der vereinigungswilligen Ostdeutschen teilten, hätten sie die Vereinigung als zu teuer ablehnen müssen.

Habermas kommt in diesem Text zu dem Schluss, dass die Kontinuität der deutschen Geschichte durch Auschwitz unterbrochen sei, weshalb die Deutschen »die Möglichkeit eingebüßt« hätten, »ihre politische Identität auf etwas anderes zu gründen als auf universalistische Prinzipien«. Aber er geht noch weiter und behauptet, so etwas wie Nationalstaatlichkeit sei in Deutschland immer ausgeschlossen gewesen. Denn »anders als in den klassischen Staatsnationen des Westens hat sich in den Nachfolgestaaten des Alten Deutschen Reiches oder im kleindeutschen Reich Bismarcks die politische Vergemeinschaftung der Staatsbürger mit den vorpolitischen Gegebenheiten einer ›historisch-material gegebenen einheitlichen Nation‹ niemals gedeckt«. Es ist ein seltsamer Denkfehler des Frankfurter Soziologen. Von der Hitlerzeit würde er doch nicht sagen, wir stünden in keiner Kontinuität zu ihr, weil politische und vorpolitische Gegebenheiten sich in ihr nicht deckten, und wir hätten also - weil wir Universalisten statt Ethnizisten seien - mit der Hitlerei nichts zu schaffen. Ganz im Gegenteil will Habermas, dass wir für Auschwitz die Verantwortung übernehmen. Warum denn aber nicht auch für Preußen und sogar für das Alte Reich? Was ist überhaupt »nationale Identität«, wenn nicht der Zwang, auf eine nationale Vorgeschichte durch eigene Taten aktuell antworten zu müssen - so aber auch die Chance, im Antworten das Vorgegebene neu justieren zu dürfen?

Doch dies ist nur immanente Kritik; man muss auch fragen, ob Habermas' Nichtnationalismus überhaupt glaubwürdig ist. Was Finanzminister Eichel einräumt: »Wir waren allesamt rheinische Separatisten«, könnte doch auch für den Soziologen zutreffen. Nicht erst Habermas, sondern schon der Rheinbund wollte mit Preußen nichts zu schaffen haben. Rheinischer Separatismus ist auch ein nationaler Standpunkt! Und weiß Gott kein verrückter. Verrückt ist es aber, ihn nicht zu diskutieren und nicht einmal offenzulegen.

Von Habermas aus können wir die geistige Genealogie der rotgrünen Regierung entwickeln. Als gelehriger Schüler erwies sich Joschka Fischer. Aus dessen Buch Risiko Deutschland, Köln 1994, spricht die Preußenfeindschaft: vom Siebenjährigen Krieg bis Auschwitz soll ein gerader Weg führen. Deshalb muss Deutschland nicht nur wegen Hitler, sondern schon wegen Friedrich dem Großen als gefährliches Untier eingehegt werden. Fischer zieht daraus 1994 den Schluss, es sei bei der Entsendung deutscher Truppen in Krisenregionen äußerste Zurückhaltung geboten. Später trat bekanntlich die andere Komponente des Habermas-Textes in den Vordergrund: Vernichtung und Ersatz der nationalen Gefahr, die das eigene Land bedeutet, durch Universalismus der Menschenrechte. Da wird er deutsche Truppen gerade deshalb entsenden wollen, weil Deutschland - weil schon Preußen! - dieses gefährliche Untier war. Habermas selbst hat im Kosovo-Krieg denselben Standpunkt eingenommen.

Diese Haltung bedarf nun wirklich der Debatte. Der in linken Kreisen sehr angesehene Historiker und Publizist Sebastian Haffner hatte ein ganz anderes Preußenbild: er meinte, Preußen sei einmal ein fortschrittliches Land im Sinn der Aufklärung gewesen. Er tut das Naheliegende, Friedrich den Großen nicht an Roosevelt zu messen, sondern am gleichzeitig in Frankreich regierenden Ludwig. Nicht dieser, sondern jener hat den Aufklärer Voltaire gerufen. Friedrichs Preußen, meint Haffner, sei nicht 1945 und auch nicht 1933 untergegangen, sondern 1871: mit der Reichseinigung habe es sich übernommen. Dadurch, dass Preußen sie exekutierte, habe es sich verwandeln müssen. Für Haffner ist Theodor Fontane ein Zeuge, jedenfalls dessen letzter Roman Der Stechlin; den kann man so lesen. Einen anderen Fontaine-Roman, Effi Briest, in dem die brutalen Züge der altpreußischen Moral hervortreten, hat Haffner wohl weniger beachtet. Auch dieses Preußenbild kann insgesamt nicht überzeugen.

Ich möchte zwei weitere linke Preußenbilder zitieren, die bereits die Ereignisse von 1990 reflektieren. Da ist zum einen das Europa-Buch von Joscha Schmierer - Mein Name sei Europa, Frankfurt/Main 1996 -, der zur Zeit der Abfassung noch Kommune-Redakteur war und jetzt zu Fischers Beraterstab im Außenministerium gehört. Der Linie Haffners gar nicht unähnlich, wird hier herausgearbeitet, dass der kleindeutschen, also preußenzentrierten Lösung von 1871 seinerzeit auch andere, an Westeuropa orientierte Lösungsvorschläge gegenüberstanden. Beim Lesen fragt man sich, ob ein gewisser Rheinbund-Traditionalismus des Frankfurters Schmierer etwa schon in seiner Frühzeit als Maoist eine Rolle gespielt haben könnte: als er gegen die Moskauer und Ostberliner »Revisionisten« kämpfte, sollte da auch ein Quentchen Widerwillen schlechthin gegen alles Ostelbische mitgespielt haben? Auf jeden Fall wird 1996 eine Abweisung Preußens nachgetragen, die in der Konsequenz dazu führt, dass man die deutsche Geschichte schon vom 14. Jahrhundert an zurückweisen müsste. Schmierer behauptet nämlich, der »Königstitel von Preußen« habe überhaupt »nie etwas mit Deutschland zu tun« gehabt. Und Preußen selber deshalb auch nicht? Es ist eine merkwürdige Verkürzung. Hohenzollern und auch Habsburger werden uns als Mächte geschildert, die vor allem »nach außen« expandierten; dass sie deutschen Ostmarken vorstanden, fällt nicht ins Gewicht. Es »hatten sich aus den beiden alten Marken heraus Territorialstaaten gebildet«, schreibt Schmierer. Neben Österreich scheint auch Preußen sogar in Aufklärungszeiten bestenfalls ein deutscher Grenzfall gewesen zu sein. Und wenn Deutschland insgesamt ein Grenzfall ist? Dem wir angehören?

Ich selbst hätte gedacht, Hohenzollern, Habsburger und auch Luxemburger, das wären westdeutsche Geschlechter gewesen, die sich am Ende des Mittelalters in den Osten verfügten - die Luxemburger nach Böhmen -, weil sie dem französischen Druck auf das Reich nicht anders standhielten als durch Schaffung von Gegengewichten ganz auf der geografisch anderen Seite. Auf Habsburger und Luxemburger trifft das unmittelbar zu. Warum wurden sie denn jeweils von allen Kurfürsten zu deutschen Königen gewählt? Spielte die Abwehr des aufstrebenden französischen Zentralstaats gar keine Rolle? Wenn das deutsche Grenzfälle sind, dann höchstens insofern, als ihre Geschlechter aus Gebieten an der Westgrenze kamen. Das gilt auch für die Hohenzollern. Einem von ihnen wurde von einem Luxemburger die Mark Brandenburg übertragen, weil er sich als Gefolgsmann bewährt hatte. Als er wenige Jahre später Kurfürst wurde, konnte man da sagen, er habe »nie etwas mit Deutschland zu tun« gehabt?

Man kann Preußen nicht von Deutschland trennen und kann Deutschland nicht beschuldigen, es habe versäumt, sich schon im Spätmittelalter dem Pariser Zentralismus einzuverleiben. Preußen war später ein Kernland des Protestantismus. Der hatte alle Hände voll zu tun, sich gegen die Auslöschung auf militärischen Weg zu wehren. Goethe sah in Friedrich dem Großen den Führer der protestantischen Sache! Preußen eine fast außerdeutsche Ost-Mark, ein falscher Fuffziger gewissermaßen? Nein und abermals nein. Aber hier ahnt man eine noch tiefere Spur: der Osten gleich hinter der Elbe hatte schon immer etwas leicht Undeutsches - wurde er doch durch Eroberung gewonnen und seitdem überwiegend mit Kolonialmethoden in den Westen integriert. Das begann bei den Ottonen, das setzte der erste Hohenzoller nur fort; er kam auf den preußischen Thron ungefähr wie Biedenkopf auf den sächsischen. Als Westimport.

Wenn Schmierers Sicht fragwürdig erscheint, muss man doch auch ihr historisches Recht hervorheben. Er denkt auf der Linie des jungen Marx und Heinrich Heines weiter. Wer erinnert sich nicht an Heines Gelächter über den deutschpreußischen Befreiungskrieg - wie da, als »die fremden Eroberer kamen, der Kaiser die Herren überwand, der Tambourmajor die Damen. Wir haben lange getragen das Leid, geduldig wie deutsche Eichen, bis endlich die hohe Obrigkeit uns gab das Befreiungszeichen...« Freilich: für ihn war Deutschland damit nicht erledigt. Er dachte über das Vor- und Außerpreußische nach, die Reformation, Barbarossa, die Sachsenbekehrung. Dass er zu einem Schluss kam, kann man nicht behaupten, aber seine Sorgen waren zu groß, als dass er das Thema einfach gemieden hätte.

Nach all den Frankfurtern - Habermas, Fischer, Schmierer, Goethe - soll zum Schluss Ulla Lachauer aus Aalen in Westfalen zu Wort kommen. Die Historikerin und Fernsehjournalistin hatte zu der Zeit, als Schmierer Maoist war, an die Sache der Moskau-orientierten Kommunisten geglaubt: das war ihr Schluss aus der Hitlerei. Als Schmierer an seinem Europa-Essay arbeitete, veröffentlichte sie ihre Reise-Erlebnisse im russischen Teil des ehemaligen Ostpreußen, dem Kaliningrader Oblast. Das lesenswerte, teilweise erschütternde Buch - Die Brücke von Tilsit, Reinbek 1994 - dokumentiert den sehr verständlichen, aber dennoch furchtbaren Versuch der Sowjetmenschen, die deutschpreußischen Spuren im Oblast vollständig zu vernichten. In Trakehn zum Beispiel, das für seine Pferdezucht berühmt war, rätselten noch 1990 die russischen Bewohner über die historische Herkunft der Stadt, die sie nach dem Krieg bezogen hatten; als die ersten Vertriebenen als Touristen wiederkehrten, wurde gerade die These öffentlich debattiert, sie sei von General Paulus gegründet worden, dem Führer der deutschen Truppen vor Stalingrad. Lachauer, die bei Willy Brandts Kniefall in Warschau »zum erstenmal das Gefühl hatte, dass es eine Bundesrepublik gibt, mit der ich mich identifizieren konnte«, kennt die Geschichte Trakehns und vieler anderer Orte Ostpreußens. Sie erzählt sie. Denn sie fragt sich, ob es gerecht sei, die Gegenden, die als deutsche Gegenden untergegangen sind, durch historische Nicht-Erinnerung »noch ein zweites Mal auszulöschen«. »Ankämpfend gegen den Sog des Schreckens, entwickelte ich eine immer größere Lust, Anfänge zu finden. Zu probieren, wie sich die Geschichte von vorne erzählt. Ich entdeckte plötzlich einen Grundsatz des Historismus neu: ›Jede Epoche ist direkt zu Gott!‹ Diese altertümliche Position, die die Zusammenhänge der Zeiten leugnet, ließ sich ketzerisch wenden - gegen das Übermaß an Befangenheiten, die sich vom Heute über die fernsten Vergangenheiten stülpten.«

Wir müssen, was von Deutschland gerechterweise nur übriggeblieben ist, neu durchsehen wie ein veraltetes, immer noch virulentes Buch, um das Zukünftige in kritischer Lektüre herauszuholen. Zu den guten Dingen, die wir hoffentlich (er)finden, wird sicher vor allen eine neue Art von Europa-Freundlichkeit gehören. Die kommt und bleibt aber nicht, wenn wir nur fragen, was wir tun sollen, und nicht auch, wer wir sind.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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