Um "Schlagwerke", aber auch um Streicher ging es beim Konzert am Dienstagabend im Kammermusiksaal der Philharmonie. Die Beschränkung auf diese beiden Gruppen von Instrumenten macht es leichter, im Ungewohnten hier und da etwas zu begreifen, und das ist gut so, denn aktuelle Musik - Werke diesmal, die zwischen 2010 und 2012 entstanden sind, zwei deutsche Erstaufführungen darunter - ist immer reichlich ungewohnt. Die Darbietung des Ensembles Resonanz unter der Leitung von Jean-Michael Lavoie, mit den Schlagzeugern Dirk Rothbrust und Thomas Meixner, wurde von einem nicht kleinen Publikum viel beklatscht. Überhaupt ist der Besucheransturm auf die MaerzMusik beachtlich.
Nun kann es darum, über eine Instrumentengruppe, und sei's das Schlagzeug, als solche zu meditieren, primär gar nicht gehen. Interessant ist vielmehr, welche Musik damit gemacht wird, was deren Sinneffekt ist und ob die Instrumentengruppe an der Erzeugung des Effekts konstitutiv beteiligt ist. Dies führt uns sogleich in Schwierigkeiten. Denn was den Dienstagabend angeht, möchte man im ersten Zugriff aufs beteiligte Schlagzeug gar nicht zu sprechen kommen, so sehr es auf mehreren Tischen vielgestaltig herumlag und natürlich auch eingesetzt wurde. Nein, der Haupteindruck war, dass alle vier Werke, die auf dem Programm standen, auf je verschiedene Art die Neue Musik ins Verhältnis zur älteren setzten und diese im Spiegel jener reflektierten. Das aber ist ohnehin ein Hauptzug Neuer Musik, der sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Vordergrund gespielt hat. Es ist keine Frage des Schlagzeugs.
Beat Furrers Xenos III "für zwei Schlagzeuger und Streicher" eröffnete den Abend und war für mich der Höhepunkt. Ohne dass ältere ("tonale") Musik je direkt zitiert wurde, erkannte man doch in stärkster Verfremdung ihre Gesten wieder. Ihr Aufbrausen etwa, das sich mitteilte wie ein vom U-Bahn-Tunnel her auf die Straße dringendes Geräusch. Hier war Vergangenheit das Verlorene: vorhanden zwar noch, aber nicht mehr begreiflich. Mit andern Worten heißt das, wir werden in eine Zukunft versetzt, in der unsere Gegenwart verloren ist. Nicht unsere Vergangenheit, deren Spuren und "Quellen" wir ja gut begreifen. Dass es tatsächlich so gemeint ist, erfahren wir aus dem Text zu Xenos III oder besser gesagt (denn er ist, von den Schlagzeugern gesprochen, nicht recht hörbar) aus der Information darüber im Programmheft. Ich zitiere nur die Zusammenfassung: "Brüchige Artikulationsversuche eines Verlustes, eine Fata Morgana, ein Morgen ohne Erwachen."
Aber wir bedürfen der Information nicht unbedingt, denn Furrers Musik ist so durchsichtig, dass wir sie unmittelbar verstehen. Seine Methode ist das Fortschreiten von Klangereignis zu Klangereignis, wie es hier schon einmal zur Sprache kam, in einem Beitrag zu Wolfgang Rihm: Jedes Ereignis, schrieb ich, hebt das vorige im doppelten Wortsinn auf, und jedes ist "Strukturklang" im Sinn Helmut Lachenmanns, der den Begriff glücklich geprägt hat. Ein Strukturklang ist eine Mischung aus Tonfolge und Akkord, will sagen, das Ereignis ist so kurz und die Töne liegen, obwohl nacheinander erklingend, so dicht bei- und übereinander, dass sich der Eindruck eines einzigen Akkords ergibt. Eines Akkords, der gerade dabei ist, auseinanderzulaufen, oder auch einer Vielfalt von (sehr kurzen) Tonläufen, die zum Akkord zu bündeln nur annähernd gelingt. Jeder Strukturklang, der auf einen Strukturklang folgt, ist dessen leicht sinnverschiebende Transformation, und wenn die ganze Komposition eine Kette von Strukturklängen ist, dann hört man sie wie eine Rede.
Diese Methode ist selbst schon ein Rückgriff auf ältere Musik, man kann sie nämlich gut mit der musikalischen Prosa eines Johannes Brahms vergleichen, die von Arnold Schönberg als "erweiternde Variation" beschrieben wurde. Ja, man höre einmal die Vierte von Brahms in dem Bewusstsein, hier folge von Anbeginn Strukturklang auf Strukturklang - zerfranster Akkord auf zerfransten Akkord, akkordisierte Zerfransung auf akkordisierte Zerfransung -, und vergesse alles sonstige Formale wie "Themendualismus", "Exposition, Durchführung, Reprise" und so weiter: Man wird glauben, man höre die Sinfonie zum ersten Mal! Dass aber die Methode, Strukturklänge abzuwandeln, von der Avantgardemusik entdeckt und geklärt wurde, hat dieser endlich einen Weg gewiesen, ohne große Vorkehrungen verstanden werden zu können. Unter denen, die insofern verständlich komponieren, ragt Furrer heraus. Andere bringen es zu weniger Verständlichkeit als er, obwohl sie weniger tiefsinnig sind.
Auf Furrer folgte Isabel Mundry: Depuis le jour (mit Blick auf Sweelinck) "für 15 Streicher und Schlagwerk". Sweelinck ist ein niederländischer Renaissance-Komponist, der von Mundry immer wieder direkt zitiert wird. Das ist also ein ganz anderer Vergangenheitsbezug als bei Furrer. Er wirkt auf den ersten Blick etwas hilflos, wenn man ihn nämlich mit Vorgängerwerken wie Alban Bergs Violinkonzert (1935) oder Luciano Berios Sinfonia (1968) vergleicht. Bei Berg wird plötzlich ein Bachchoral eingeblendet, mitten in eine Zwölftonkomposition: "Es ist genug", und eben das soll in Verzweiflung ausgesagt werden. Wir haben es nicht mit einem formalen Experiment zu tun, sondern Berg sagt mit Bach, was er zu sagen hat, weil es keinen Grund gibt, Bachs wahr gebliebene Geste übertreffen zu wollen. Auch vielleicht, weil Berg bei aller Verzweiflung noch hoffen wollte wie Bach. Oder umgekehrt: um, an die Hoffnung der Bachzeit erinnernd, die eigene Hoffnungslosigkeit schneidender auszusprechen. Berio ist ein ganz anderer Fall. Er zitiert - ich habe darüber geschrieben - eine Stelle bei Gustav Mahler, um zu zeigen, dass sie 1968 gleichsam noch aktueller geworden ist, als sie zu Mahlers Lebzeiten war. Musikalisch kommt das dadurch zum Ausdruck, dass er das Mahlerzitat sozusagen "quer liest", in die rhythmische Struktur der Sinfonia einbezieht, derart kommentiert und vielleicht ein in ihm liegendes Unbewusstes ans Licht zieht. Dabei wird es als solches nicht verändert.
Bei Mundry sind die Zitate von Renaissancemusik fast nur Traditionswahrung um ihrer selbst willen, wie sie denn selber sagt, das Stück handle "vom Erinnern und Vergessen, vom Vergehen und Wiederaufblitzen, vom Verweilen, Verwandeln, Rück- oder Abwenden". Das soll keine Kritik sein, aber es zeigt, dass Sinn zu kommunizieren heute nicht leicht ist. Der Wille ist da, sonst gäbe es kein Rückwenden. Aber was genau der Erinnerung wert ist, derart dass es für eine Zukunft produktiv gemacht werden könnte, bleibt offen. Ein wichtiger Sinneffekt kommt bei Mundry aber doch heraus. Die Renaissancemusik fließt ohne Akzent dahin. Sie ist insofern abstrakt. Mundrys Musik akzentuiert aufs stärkste. Sie hat physische Gewalt. Sie lebt. So sind denn Mundrys Strukturklänge um Ausrufe zentriert, während Furrer mehrgliedrige Figuren mit gleichberechtigten Gliedern schreibt. Mundry schreibt sozusagen mehr wie Beethoven, Furrer mehr wie Mozart. Und da haben wir einen Punkt, wo die Frage nach dem Schlagzeug interessant wird. Zwar wird es von Furrer und Mundry auf gleiche Weise eingesetzt, so nämlich, dass ausdifferenzierte Geräusche, weiche und harte, in den musikalischen Verlauf recht vorsichtig eingestreut werden. Nie werden sie zur rhythmischen Melodie verbunden, sondern treten immer punktuell vereinzelt auf. Aber das trägt erheblich zur Prägnanz von Mundrys "Ausrufen" bei. Bei Furrer bleibt es mehr eine Zutat zum Eigentlichen.
Das dritte Werk des Abends, rasch von Wolfgang Mitterer "für String Drum Set, Streichorchester und Elektronik", ähnelte Mundrys Musik darin, dass auch hier neue und ältere Musik hörbar gegeneinander gestellt waren. Ältere Musik wird nicht direkt zitiert, aber durch gewohnte Tonfolgen hinreichend kenntlich. Der Sinneffekt ist im Titel angegeben: Mitterers Strukturklänge sind ruhelos ungeduldig, die ältere Musik erscheint als verlorene Langsamkeit. Damit auch als Bedachtsamkeit. Musik ist "bedächtig", wenn man sie mitdenken kann. Man kann sie mitdenken, wenn sie den Nachvollzug ihrer Transformationen durch hinreichende Langsamkeit erlaubt. Da hat Mitterer den Finger auf einen wunden Punkt gelegt. Denn die Entwicklung der Neuen Musik ging lange so, dass es immer schwerer und schließlich unmöglich wurde, sie noch nachvollziehen zu können. Kein Mensch kann hören, wie sich die "Serien" eines Pierre Boulez entwickeln. Man kann das nur erleben und allenfalls in der Partitur nachlesen. Aber diese Musik wollte gerade gefühlskritisch sein: Dass sie kein Mitdenken erlaubt, ist ein Paradox und sogar ein Selbstwiderspruch. Erst die Musik hörbar aufeinander folgender Strukturklänge macht Mitdenken wieder möglich.
In rasch ist das Schlagzeug nun wirklich zentral, aber auf schlimme Weise. Es besteht nämlich seinerseits aus Streichinstrumenten von der Violine bis zum Kontrabass, die getreten, geschlagen oder mit Luft angeblasen werden. Brauche ich die barbarische Metapher, um zu begreifen, dass unser Vergangenheitsbezug prekär ist?
Enno Poppes Wald "für vier Streichquartette" machte den Abschluss. Poppe hat einen Namen, weshalb ich zögere, dies Werk zu kommentieren. Denn ich kenne sonst nichts von ihm und stoße nun gleich auf ein Stück, das mich nicht überzeugt. Also, über Poppe sagt das gar nichts, abgesehen davon, dass ich vielleicht auch Wald missverstehe. Wie mir jedenfalls schien, liegt der Vergangenheitsbezug von Wald darin, dass die neue Musik sich verhält, als wäre sie die alte. Sogar Fugen sind angedeutet. "Diskurs statt Deklamation" soll nach Poppes Worten geboten werden, ein vernünftiges Gespräch mit musikalischen Mitteln! Die Intention Haydns, der das Streichquartett erfunden hat, wird unmittelbar wiederbelebt. Ich habe nicht verstanden, was das soll. Vernunft? Wo ist ihr Sitz im heutigen Leben? Freilich, der "Diskurs" wird laut Programmheft am Ende "überwunden", indem sich "sämtliche Instrumente glissierend durch den ganzen Tonraum bewegen". Aber um den Eindruck Haydnschen Parlierens wegzunehmen, zu widerrufen, ja nur zu mindern, reicht das nicht aus. Übrigens spielte auch keinerlei Schlagzeug mit.
Die angekündigte Erörterung der Frage, was es überhaupt "bedeutet", "dass Schlagzeug, Schlagwerke in der Neuen Musik so wichtig sind", verschiebe ich auf morgen.
Beiträge zu früheren MaerzMusik- und auch den Berliner "Musikfest"-Festivals können Sie von hier aus aufschlagen.
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