Furchtbare Seiten der menschlichen Existenz kommen zur Sprache in The Sixth Commandment (Das sechste Gebot, 2021) der polnischen Komponistin Elżbieta Sikora und Quando Stanno Morendo (Wenn sie sterben, 1982) des Venezianers Luigi Nono – man ist trotzdem zunächst irritiert über die Zusammenstellung beider Werke in einem Konzert im Rahmen des Festivals „Klangwerkstatt Berlin“.
Nonos Trauer wegen des 1981 in Polen verhängten Kriegsrechts – wie passt das zusammen mit den Verbrechen im NS-Konzentrationslager Majdanek, von denen Sikoras Musik zeugt („ich kroch unter den Leichen in der Grube hervor“), und das wiederum in Kombination mit der Lyrik Ekhmetjan Osmans, die auf das aktuelle Leid der Uiguren verweist? Sikoras Perspektive ist hier entscheidend, denn sie hat sich am Ensemble von Nonos Komposition orientiert: vier Frauenstimmen, Flöte und Cello, nur Nonos Live-Elektronik hat sie durch Schlagzeug ersetzt. Polens historisches Schicksal stand ihr vor Augen. Nonos Musik konnte ein Bezugspunkt sein, weil sie von zerbrochener Hoffnung handelt.
Auf den Feldern feiert der Tod
Musikalisch ist Nonos Werk sogar noch furchtbarer anzuhören. Im ersten Teil stehen isolierte Singtöne in hoher Lage nebeneinander, und nicht nur weil Aleksandr Bloks Verse vertont werden: „wieder hat der Schnee die Spuren gelöscht“, „auf den Feldern feiert der Tod lärmend sein Fest“, sondern auch weil trotz allem eine paradoxe Schönheit waltet, denkt man an Eiskristalle. Manchmal wird gregorianischer Gesang evoziert. Wenn im zweiten Teil die Instrumentalisten dazukommen, drängt alles in eine Richtung, und ferne Erinnerung an Karl Amadeus Hartmanns Versuch eines Requiems kommt auf, bei Nono zu Velemir Chlebnikovs Worten wie „Moskau, wer bist du?“, „Mauern, in denen Kinder auf den Tod zuspringen“. Derselbe Chlebnikov beschließt den dritten Teil mit dem Vers „Wenn Menschen sterben, singen sie ...“ Dieser dritte Teil ist in seiner furchtbaren Schönheit kaum noch zu ertragen; die harten hohen Töne des ersten Teils biegen sich gleichsam zueinander, Kristalle kurz vor dem Zerspringen, und formen eisig-zarte Sologesänge, auch Chorsätze.
Sikoras Besetzung schließt an Nono an, nicht so ihre Musik; das talmudisch „sechste Gebot“ – morde nicht – führt sie zu einer vielfältigen Klangwelt aus teils tradierten kammermusikalischen, teils avantgardistischen Formen, die wie im Traum ineinander übergehen. Obwohl Sikora die Gaskammern vertont, wirkt ihre Musik weniger verzweifelt als die von Nono; es ist, als hätten die Verbrechen im 20. Jahrhundert einen neuen Realismus geweckt, in dem sich die Desillusionierung über den Menschen mit trotziger Geduld paart. Berührend die Passagen, in denen das Cello mit wilden Figuren Gesänge begleitet, die trotz dieser gleichsam leiblichen Haltlosigkeit fest bleiben. Die ganze Komposition bleibt fest; immer wieder klingt Choralartiges an. Besonders am Anfang und Ende rufen die Pauken mit größter Lautstärke das Furchtbare in Erinnerung. Ein simples Symbol, doch ein angemessenes; es steht für die Unbegreiflichkeit der menschheitlichen Verbrechen.
Wenn Menschen sterben, singen sie: Man kann da auch an eine Szene in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre denken, die gar nicht furchtbar ist, obwohl auch sie wohl vom Tod handelt. Wanderer brechen auf, gemeinsam ein Lied singend, und verstreuen sich in verschiedene Richtungen; jeder hört die anderen immer schwächer und zuletzt gar nicht mehr. Doch das Lied bleibt. Das ist die Hoffnung.
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