Alle Menschen werden Brüder – habe ich mich jemals gefragt, wie diese Aussage zu verstehen ist, die im Mittelpunkt der Ode an die Freude steht, des Schlusssatzes der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens? Natürlich nicht, denn der Sinn ist selbstevident. So scheint es! Seit aber Kirill Petrenko am vorigen Freitag sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gab, ist die Unvollständigkeit der vier Wörter offenkundig geworden. Sie sind noch gar nicht die Aussage, vielmehr selbst eine Frage, und die Antwort folgt erst: „... wo dein sanfter Flügel weilt“. Der Flügel der Freude nämlich. Wir haben es mit einem Konditionalsatz zu tun: Wenn wir das Reich der Freude betreten, dann werden alle Menschen Brüder; Schwestern, würden wir heute formulieren. Sonst nicht. Es soll also nicht umgekehrt gesagt werden, dass erst alle Menschen Brüder geworden sein müssen und wir dann, infolgedessen, das Reich der Freude betreten können. Aber gerade so pflegt die Aussage verstanden zu werden. Wie Petrenko die Richtigstellung gelungen ist, ist erst einmal ziemlich rätselhaft. Denn froh beflügelt hat sein Beethoven nicht geklungen. Eher gewaltsam, mitunter erschreckend, auch gnadenlos antreibend. Und während er sein neues Orchester entfesselte, lächelte er und bewegte sich fast tanzend auf seinem Podium.
Rezos Lebensfreude
Es ist bekannt, wie hart er an den Partituren arbeitet, und hier konnte man hören, dass er es nicht verbergen will. Er strebt keine glatte Kohärenz an, wenn das aufgeführte Werk sie nicht hat; er geht vielmehr der Arbeit des Komponisten nach und macht hörbar, wo sie an Grenzen stößt, die dann auch der Interpret nicht übersteigen kann. Darauf hat er schon im Vorfeld der Aufführung hingewiesen: Alles, „was uns als Menschheit auszeichnet, und zwar im positiven wie auch im negativen Sinne“, sei in der Neunten enthalten; sie spreche auch von „schrecklichen Dingen, die wir gemacht haben“. Darin liegt, dass er die Sinfonie, wie Beethoven selber es wollte, von ihrer „Idee“ her zu fassen sucht. Gegen „das bloße Silbenzählen“ einer Komposition, sprich ihre bloße Formanalyse, hat sich der Komponist ausdrücklich gewandt. Gerade Petrenko, der die „Silben“ wohl genauer „zählt“ als jeder andere, fragt dennoch vor allem danach, was die Neunte mitteilt. Deren Idee ist freilich in sich selber gebrochen – es zeigt sich schon daran, wie sie missbraucht werden konnte. Die Neunte ist zweifellos ein Appell, die Revolution zu machen. Doch nicht nur die Bürger und die Arbeiterbewegung, auch die Nazis haben sich auf sie berufen.
In der Literatur wird sie heute anders analysiert als früher. Man sieht nicht mehr eine quasi historische Darstellung in ihr, wie die Menschheit aus dunklen Uranfängen zum Licht der Zukunft, zu den Sternen fortschreite. So wurde sie einst von Wilhelm Furtwängler begriffen, dem Chefdirigenten der Philharmoniker von 1922 bis 1945 und von 1952 bis 1954, seinem Todesjahr. Die Folge war, dass er im ersten Sinfoniesatz einem heiligen Geheimnis nachzugehen schien. Unter Herbert von Karajan, Chefdirigent zwischen 1956 und 1989, klang es schon anders, da hörte man Gewaltausbrüche und eine Gegenkraft, die zur Mäßigung aufrief. Heute liest man meistens, dass die Sinfonie in allen Teilen von Beethovens Gegenwart handelt. 1808, als er seine Fünfte uraufgeführt hatte, war seine revolutionäre Gesinnung noch zeitgemäß gewesen, jetzt, 1824, nach Napoleons Niederlage und dem Wiener Kongress, war sie es nicht mehr. Der erste Satz der Neunten sagt aus, dass die Niederlage notwendige Folge eben der Idee ist, der auch Beethoven angehangen und die er der Fünften unterlegt hatte. Es ist die Idee des Durchbruchs. Die Revolution sieht sich mit einer Mauer konfrontiert und rennt gegen sie an. Diese Vorstellung ruft die Neunte in Erinnerung, aber als falsche und scheiternde. „Oh Freunde, nicht diese Töne“, beginnt deshalb der Schlusssatz. In allen vier Sätzen fragt Beethoven, womit der Anfang gemacht werden kann, aber erst der vierte findet die Antwort.
Mit der Freude also. Man braucht eigentlich nur einen Blick auf die Debatten zu werfen: Wut und Griesgrämigkeit korrelieren da mit der gegenseitigen Versicherung, dass alles so schlecht sei und man nichts machen könne. Dagegen steht ein Rezo mit seiner Lebensfreude, während sein Video die schlimmen Dinge angreift. Petrenko hat es bei Beethoven herausgehört. Bei einem Beethoven aber, der mit seiner eigenen neuen Botschaft noch ringt. Was eine Ode an die Freude sein soll, ist noch allzu sehr ein wütender Kraftakt. Aber schon der Versuch führt weiter, sodass er Petrenkos lächelnde Zustimmung verdient. Schon im ersten Satz macht der Dirigent hörbar, wie es der zur Mäßigung rufenden Kraft gelingt, immer mehr Form in den rohen Prozess zu bringen.
Mit den Symphonischen Stücken zur Oper Lulu (1934) von Alban Berg hatte der Abend so düster wie irgend möglich begonnen. Petrenko folgt aber offenbar der Devise „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“.
Info
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko Die zweite Aufführung (Brandenburger Tor) ist in Kürze online nachzuhören
Kommentare 15
Man höre als Vergleich einmal die Staatskapelle Berlin unter Otmar Suitner aus dem Jahre 1982 oder George Szell mit dem New Philharmonia in der Live-Aufnahme von 1968 aus London. Da muss Petrenko mit den Philharmonikern noch eine gewaltige Schippe drauf legen, sonst reicht er an diese famosen und leider fast vergessenen Neunten nie heran. Aber was nicht ist...
Das sind die einzigen nachdenklichen Worte, die ich zu Petrenkos Einstand gelesen habe, der ansonsten von einem blinden Hype der Affirmation begleitet war, der jemanden wie mich eher misstrauisch macht.
Und Sie legen Ihren Finger genau in die Wunde, die auch mich, mit dem Beethoven Jubiläum in Sichtweite, angelegentlich beschäftigt.
Es gibt ja Berichte von der Uraufführung der Neunten, die keineswegs ein rauschender Erfolg war, bei dem sich die Leute in Tränen in die Arme fielen, sondern eher ein mauer Halberfolg, was eben das zeigt, was Sie auch anmerken, nämlich, dass der Revolutionsoptimismus schon längst verflogen war.
Wie so oft sind die Dinge viel komplizierter als sie zunächst scheinen. Schillers Gedicht ist ja bereits vor der französischen Revolution entstanden und gerade Schiller (wie auch Goethe) hielt die Revolution ja für gescheitert und er rang lange mit der Frage, warum. Und es wäre in der Tat interessant zu erörtern, ob Beethoven Schillers Gedanken (etwa aus den Ästhetischen Briefen) reflektiert hat, und was Beethovens Neunte in diesem Kontext wirklich zu bedeuten hat.
Daher empfand ich auch Petrenkos Bemerkung, sie sei „was uns als Menschheit auszeichnet, und zwar im positiven wie auch im negativen Sinne“, eher als Marketing Platitüde. Dasselbe hätte man auch über Bergs "Lulu" Sinfonie sagen können, die eine durchaus sinnige Pogramm Wahl war und die man mit Adrian Leverkühns "Rücknahme der 9. Sinfonie" identifizieren könnte.
Überhaupt zähle ich eher zu den Petrenko Skeptikern. Weder der Bayreuther Ring, noch einige Münchner Opernaufführungen, noch die letzte CD Veröffentlichung mit Tschaikowskys 6. Sinfonie haben mich wirklich überzeugt. Er ist gewiss einer der präzisesten Dirigenten, die es im Moment gibt, doch hat sich das noch nicht in einer höheren künsterlischen Identifizierung verwirklicht. Ich hatte mir ja im Konzert (das ich im Radio gehört habe) mehr von Berg als von Beethoven erwartet. Doch auch hier war vor allem alles präzise akurat, doch von der dekadenten Überfeinerung, dem Auskosten aparter Klangkombination und den müden Wiener Tanz-Rhythmen spürte man wenig.
Bei Claudio Abbado und Simon Rattle war der Hype zu Beginn ähnlich hoch. Doch beide konnten am Ende die überhohen Erwartungen nicht wirklich einlösen. Daher weiß ich nicht, ob man Petrenko mit den üppigen Vorschuss-Lorbeeren wirklich einen Gefallen tut.
Doch Kunst ist unberechenbar, und ich will Petrenko keineswegs schon abschreiben. Vielleicht überrascht er ja auch mich noch.
Das sind die einzigen nachdenklichen Worte, die ich zu Petrenkos Einstand gelesen habe, der ansonsten von einem blinden Hype der Affirmation begleitet war, der jemanden wie mich eher misstrauisch macht.
Und Sie legen Ihren Finger genau in die Wunde, die auch mich, mit dem Beethoven Jubiläum in Sichtweite, angelegentlich beschäftigt.
Es gibt ja Berichte von der Uraufführung der Neunten, die keineswegs ein rauschender Erfolg war, bei dem sich die Leute in Tränen in die Arme fielen, sondern eher ein mauer Halberfolg, was eben das zeigt, was Sie auch anmerken, nämlich, dass der Revolutionsoptimismus schon längst verflogen war.
Wie so oft sind die Dinge viel komplizierter als sie zunächst scheinen. Schillers Gedicht ist ja bereits vor der französischen Revolution entstanden und gerade Schiller (wie auch Goethe) hielt die Revolution ja für gescheitert und er rang lange mit der Frage, warum. Und es wäre in der Tat interessant zu erörtern, ob Beethoven Schillers Gedanken (etwa aus den Ästhetischen Briefen) reflektiert hat, und was Beethovens Neunte in diesem Kontext wirklich zu bedeuten hat.
Daher empfand ich auch Petrenkos Bemerkung, sie sei „was uns als Menschheit auszeichnet, und zwar im positiven wie auch im negativen Sinne“, eher als Marketing Platitüde. Dasselbe hätte man auch über Bergs "Lulu" Sinfonie sagen können, die eine durchaus sinnige Pogramm Wahl war und die man mit Adrian Leverkühns "Rücknahme der 9. Sinfonie" identifizieren könnte.
Überhaupt zähle ich eher zu den Petrenko Skeptikern. Weder der Bayreuther Ring, noch einige Münchner Opernaufführungen, noch die letzte CD Veröffentlichung mit Tschaikowskys 6. Sinfonie haben mich wirklich überzeugt. Er ist gewiss einer der präzisesten Dirigenten, die es im Moment gibt, doch hat sich das noch nicht in einer höheren künsterlischen Identifizierung verwirklicht. Ich hatte mir ja im Konzert (das ich im Radio gehört habe) mehr von Berg als von Beethoven erwartet. Doch auch hier war vor allem alles präzise akurat, doch von der dekadenten Überfeinerung, dem Auskosten aparter Klangkombination und den müden Wiener Tanz-Rhythmen spürte man wenig.
Bei Claudio Abbado und Simon Rattle war der Hype zu Beginn ähnlich hoch. Doch beide konnten am Ende die überhohen Erwartungen nicht wirklich einlösen. Daher weiß ich nicht, ob man Petrenko mit den üppigen Vorschuss-Lorbeeren wirklich einen Gefallen tut.
Doch Kunst ist unberechenbar, und ich will Petrenko keineswegs schon abschreiben. Vielleicht überrascht er ja auch mich noch.
In einem Zeit-Artikel wird ein sehr ambivalenter Blick auf Petrenko geworfen. Mangelnde eigene Erfahrung mit dem Dirigenten verbietet mir ein Urteil, aber es scheint, als vertrete er eine extrem nüchterne Auffassung der Werktreue. Ich denke, es gibt in aller künstlerisch starken Musik eine Ideallinie, aber die Musiker sind Individuen, in der Regel zu einseitig vielseitig, um diese Linie zu finden. So setzen sie ihre individuellen Modelle gegeneinander, und das bringt oft einen großen Gewinn, auch wenn es nicht die Ideallinie ist. Vielleicht ist Petrenko das analytische Modell. Das universalste Herangehen bestünde in der differenzierten Modellierung, das genialste in der integralen Präsentation des Diversen. Also analytisch-berauscht, durchsichtig-transzendental.
Ich neige ja zur These, bei der "Ode an die Freude" handele es sich zunächst einmal um ein Sauflied, naja, zumindest recht berauschte Schöpfung Schillers.
Und Beethovens "Ode" wird so sehr überinterpretiert wie das Werk bis zum Erbrechen durchgenudelt wird. Für jeden größeren, feierlich-offiziellen Anlass muss "die Neunte" herhalten. Armer Beethoven!
Dabei ist "die Neunte" nun auch gar nicht das Mega-Werk, zu dem es erkoren wurde; schon gar nicht der Finalsatz. Beethoven hat deutlich Besseres komponiert. Das Beste an "der Neunten" ist klar der erste Satz.
Stimmt.
Mir ist der mittlere Beethoven lieber, speziell der der Rasumovsky-Quartette.
Sehe ich alles auch so. Schillers Ode ist ein Sauflied, eindeutig, kann das überhaupt angezweifelt werden? Und der erste Satz der Neunten ist allerdings interessant. Wenn man ihn heute anhört, meint man das ziellos-verzweifelt-wütende Anstürmen der Kapitallogik zu hören, so geht es mir jedenfalls. Aber das macht dann natürlich auch die folgenden Sätze interessant, egal wie hoch ihre musikalische Qualität ist. Dieter Rexroth hört in 1. Satz immer wieder „Auflösungsprozesse“ und „-tendenzen“ und daß „den Motiven sukzessive ihr individueller, prägnanter Charakter entzogen“ wird. „Sie werden in Entwicklungsmotive verwandelt, die den Satzverlauf in einen forttreibenden Prozeß aufgehen lassen.“ „Es ist, als ob der Verlauf kein Ende finden wollte.“ Das finde ich treffend. Besonders in der Einspielung von Norrington hat man den Eindruck, in allen vier Sätzen werde versucht den Weg zum Ruhepunkt zu finden, aber es gelinge nie. Also doch eine bedeutende Symphonie; ich glaube, Adorno hat irgendwo in etwa geschrieben, die scheiternden Werken seien unter Umständen die wichtigsten.
"Wenn man ihn [erster Satz] heute anhört, meint man das ziellos-verzweifelt-wütende Anstürmen der Kapitallogik zu hören, so geht es mir jedenfalls."
Aha ...
Norrington ist bestimmt interessant; ich werden sie mir mal anhören. Ich mag auch die von Furtwängler, von 1952, glaube ich. Unheimlich langsam und tief.
Naja, Berliner Philharmoniker halt. Das ist die Berufung des Orchesterchefs ja auch eine Art Staatsakt und dann gab's noch fast drei Jahre Anflugzeit für den Neuen. Da muss schon entsprechend Wind vorauswehen.^^ Am Ende kommt dann freilich auch nur ein Mensch.
Das Problem der IX. ist, daß sie grandios beginnt, aber das Niveau nicht halten kann. Schon der Scherzosatz ist zu lang, der Adagiosatz ebenfalls, aber der Schlußsatz toppt das negativ. Ich sage nicht, daß die IX. kein guter Beethoven ist, nur sind die Schwächen nicht zu überhören. Ich kenne mich nicht aus in der Literatur über Beethoven, was ich hier sagen kann, ist wahrscheinlich schon zig mal gesagt, ich möchte trotzdem die Schwächen aus meiner Sicht benennen. Mit einer etwas anderen Tendenz kann ich Rexroth zustimmen, es liegt in Beethovens Kleinmotivik ein drive zum perpetuum mobile, besonders in den motorischen Sätzen; aber auch in den langsamen eine entsprechende Dehnung, wenig Material, aber der Drang, fortzuschreiten. Daher würde ich sagen, diese Musik sucht nicht das Ende. Dieses die Musik aus Kleinmotiven entwickeln sehe ich als einen Hauptaspekt der Beethovenschen Kunst. Aber im zweiten Satz trägt das Material nicht so gut wie im ersten. Das Adagio ist auch ein bißchen dünn, allerdings würde ich hier die musikgeschichtliche Bedeutung hervorheben, den prophetischen Vorgriff bzw die Referenzialität für Mahlers Adagios. Man kann zahlreiche Parallelen heraushören.
Damit zum Problemkind Schlußsatz. Ich höre kein Sauflied, sondern ein Jubellied, das ist nicht viel besser. Dennoch, auch hier die Entwicklung aus einem trivialen Kern, also Beethovensche Kunst. Aber die enorme Ausdehnung des Satzes würde eine entsprechend starke Sublimierung erfordern. Ich denke, die kann nicht geleistet werden wegen des zu affirmativen Ansatzes. Eine ähnliche Problematik sehe ich in der Schlußapotheose der Gurrelieder. Man zeige mir den Komponisten, der nicht nur für Einfältige mitreißende Jubelmusik schreiben kann. Zusätzlich ist nicht die Integration von Gesang in die Symphonie gelungen (ich weiß nicht, ob das Neuland in der damaligen Musik war), mE, weil Beethoven die Stimmen zu sehr wie Instrumente einsetzt, also zu wenig singen läßt. Das ist übrigens dann doch noch Mahler gelungen, und Schönberg hat die Stimme unvergleichlich genial ins Streichquartett integriert.
“ich weiß nicht, ob das Neuland in der damaligen Musik war [Integration von Gesang on der Sinfonik]“
Aber ja! Und da haben wir auch formal die Integrations- und Umarmungsabsicht Beethovens. Er schließt mit der strikten Trennung von Sonate/Sinfonie und Vokalmusik ab, indem er sie wieder und final zusammenführt. Dabei hatte sich dieser Gattungszweig ja “gerade erst“ wirklich etabliert. Noch im ausgehenden 18. Jh. hatte man ja durchaus Schwierigkeiten mit rein instrumentaler Musik, was Rousseaus berühmtes Bonmot, “Sonate, was willst du?“, widerspiegelt. Das “eigentliche“ Musik gesungene war, wirkte noch lange nach.
In Zeiten, als an ein Urheberrecht noch lange nicht zu denken war, scheuten die Aufführenden, eben auch Beethovens Musik, es nicht, Werke nach Gusto und wie es die Meister “wirklich gemeint“ hätten zu spielen bzw. spielen zu lassen. Auch entgegen dem, was geschrieben steht. So hat Richard Wagner als Dirigent Gesangspassagen in der “Ode“ “verbessert“. Und zwar so, dass sie sanglicher seien und damit auch transportierten, was Beethoven “eigentlich gemeint“ habe. Nun ja ...
Ich wollte übrigens etwas nachtragen über die aktuelle Spektralmusik, über die wir uns vor einiger Zeit austauschten. War es Anfang des Jahres oder im vorigen Jahr? Ich weiß es nicht mehr. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen schrieb, ich hätte die YouTube-Einspielung des Konzerts, um das es ging, auch gehört, fände mein Konzerterlebnis aber dort nicht wieder; daß Sie an dem, was Sie dort hörten, nichts Besonderes fanden, konnte ich verstehen.
Nun hat ein mir befreundeter Pianist ein Gesprächskonzert auf YouTube aufnehmen lassen und mir erzählt, wie so was läuft: YouTube gibt eine Grenze der Aufnahmequalität vor, die ziemlich niedrig ist. Ich vermute, das ist der Grund, weshalb so etwas wie YouTube überhaupt vorhanden sein kann, ohne daß die Firmen, die CDs usw. verkaufen, es verhindern. Das Konzert, das mein Freund aufnehmen ließ, hatte 15,5 Gigabite und das hätte auch übertragen werden können, aber YouTube läßt nur 1,5 Gigabite zu. Ich weiß es nicht mehr genau, aber das waren in etwa die Größenverhältnisse.
Seit ein paar Tagen nutze ich die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker, in der man nicht nur die laufenden Konzerte mithören und –sehen kann, sondern die auch den Zugriff auf ein riesiges Archiv gestattet. Während YouTube umsonst ist, muß man hier zahlen – aber es lohnt sich! Denn da gibt es keine Einschränkung der Aufnahmequalität. Diese Digital Hall ist begeisternd, man möchte die Wände hoch gehen.
Vielleicht geht es Ihnen ja wie mir und Sie wußten das nicht.
Danke für den Hinweis. Sie haben gewiss Recht, dass die Musikkonserve immer einen anderen Eindruck vermittelt als das Live-Erlebnis, auch unabhängig von der Klangqualität, wobei letztere in besonderen Fällen auch noch mal einen Unterschied machen kann.
Ich nutze die Digital Concert Hall schon seit einigen Jahren ziemlich regelmäßig, alle paar Monate höre ich mir die neuesten Sachen mit einem Wochenabo an. Streame überhaupt eigentlich inzwischen nur noch, hauptsächlich mit Idagio oder Qobuz (erstere haben die besseren Metadaten aber immer noch erhebliche Lücken in Repertoire, letztere haben das breitere Repertoire und bieten auch Booklets), und habe mein technisches Equipment entsprechend angepasst. Damit kann ich auch YouTube, die wie Sie richtig sagen nur komprimierte Formate verwenden, in relativ guter Qualität anhören.
Habe übrigens gestern Ihren ersten Bericht vom Musikfest gelesen und bin gespannt, was Sie über Aimards Hammerklaviersonate schreiben werden.
Kleiner Nachtrag zu Alban Berg. Habe gestern die Einspielung mit Pierre Boulez und den Wiener Philharmonikern gehört, die ganz ausgezeichnet ist. Ebenfalls hochpräzise, doch bringen die Wiener gleichzeitig Bergs Samtigkeit und rhythmisch rhetorische Finesse ungleich viel besser heraus. Diese Musik lebt im Grunde ganz in ihren Nuancen.
Worin nebenbei bemerkt auch die epochale Spannung zu Beethovens Neunter besteht. Das exzeptionelle der Neunten besteht nicht zuletzt in ihren Dimensionen. Es ist die längste Sinfonie der Musikgeschichte, die noch vermochte, die Gezeitenkräfte des klassischen Formgesetzes zu wahren. Bei Mahler hingegen, wie auch Adorno sehr treffend analysiert, sind diese Kräfte bereits kollabiert. Und man kann die Lulu-Suite durchaus in der Linie von Mahlers Sinfonien betrachten.
Auch der "Sauflied" Hinweis ist nicht ganz verkehrt (auch wenn Beethoven die letzte weinselige Strophe gar nicht vertont hat), denn die dionysische Entgrenzung, die sich am apollinischen Formgesetzt abarbeitet, ist eben genau das, was der Beethovenschen Ästhetik diese enorme epochale Wucht verleiht.