Nicht diese Töne

Beethoven Kirill Petrenko gibt sein Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern. Die Neunte gerät ihm gewaltsam, brüchig und mitunter erschreckend
Ausgabe 35/2019

Alle Menschen werden Brüder – habe ich mich jemals gefragt, wie diese Aussage zu verstehen ist, die im Mittelpunkt der Ode an die Freude steht, des Schlusssatzes der Neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens? Natürlich nicht, denn der Sinn ist selbstevident. So scheint es! Seit aber Kirill Petrenko am vorigen Freitag sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gab, ist die Unvollständigkeit der vier Wörter offenkundig geworden. Sie sind noch gar nicht die Aussage, vielmehr selbst eine Frage, und die Antwort folgt erst: „... wo dein sanfter Flügel weilt“. Der Flügel der Freude nämlich. Wir haben es mit einem Konditionalsatz zu tun: Wenn wir das Reich der Freude betreten, dann werden alle Menschen Brüder; Schwestern, würden wir heute formulieren. Sonst nicht. Es soll also nicht umgekehrt gesagt werden, dass erst alle Menschen Brüder geworden sein müssen und wir dann, infolgedessen, das Reich der Freude betreten können. Aber gerade so pflegt die Aussage verstanden zu werden. Wie Petrenko die Richtigstellung gelungen ist, ist erst einmal ziemlich rätselhaft. Denn froh beflügelt hat sein Beethoven nicht geklungen. Eher gewaltsam, mitunter erschreckend, auch gnadenlos antreibend. Und während er sein neues Orchester entfesselte, lächelte er und bewegte sich fast tanzend auf seinem Podium.

Rezos Lebensfreude

Es ist bekannt, wie hart er an den Partituren arbeitet, und hier konnte man hören, dass er es nicht verbergen will. Er strebt keine glatte Kohärenz an, wenn das aufgeführte Werk sie nicht hat; er geht vielmehr der Arbeit des Komponisten nach und macht hörbar, wo sie an Grenzen stößt, die dann auch der Interpret nicht übersteigen kann. Darauf hat er schon im Vorfeld der Aufführung hingewiesen: Alles, „was uns als Menschheit auszeichnet, und zwar im positiven wie auch im negativen Sinne“, sei in der Neunten enthalten; sie spreche auch von „schrecklichen Dingen, die wir gemacht haben“. Darin liegt, dass er die Sinfonie, wie Beethoven selber es wollte, von ihrer „Idee“ her zu fassen sucht. Gegen „das bloße Silbenzählen“ einer Komposition, sprich ihre bloße Formanalyse, hat sich der Komponist ausdrücklich gewandt. Gerade Petrenko, der die „Silben“ wohl genauer „zählt“ als jeder andere, fragt dennoch vor allem danach, was die Neunte mitteilt. Deren Idee ist freilich in sich selber gebrochen – es zeigt sich schon daran, wie sie missbraucht werden konnte. Die Neunte ist zweifellos ein Appell, die Revolution zu machen. Doch nicht nur die Bürger und die Arbeiterbewegung, auch die Nazis haben sich auf sie berufen.

In der Literatur wird sie heute anders analysiert als früher. Man sieht nicht mehr eine quasi historische Darstellung in ihr, wie die Menschheit aus dunklen Uranfängen zum Licht der Zukunft, zu den Sternen fortschreite. So wurde sie einst von Wilhelm Furtwängler begriffen, dem Chefdirigenten der Philharmoniker von 1922 bis 1945 und von 1952 bis 1954, seinem Todesjahr. Die Folge war, dass er im ersten Sinfoniesatz einem heiligen Geheimnis nachzugehen schien. Unter Herbert von Karajan, Chefdirigent zwischen 1956 und 1989, klang es schon anders, da hörte man Gewaltausbrüche und eine Gegenkraft, die zur Mäßigung aufrief. Heute liest man meistens, dass die Sinfonie in allen Teilen von Beethovens Gegenwart handelt. 1808, als er seine Fünfte uraufgeführt hatte, war seine revolutionäre Gesinnung noch zeitgemäß gewesen, jetzt, 1824, nach Napoleons Niederlage und dem Wiener Kongress, war sie es nicht mehr. Der erste Satz der Neunten sagt aus, dass die Niederlage notwendige Folge eben der Idee ist, der auch Beethoven angehangen und die er der Fünften unterlegt hatte. Es ist die Idee des Durchbruchs. Die Revolution sieht sich mit einer Mauer konfrontiert und rennt gegen sie an. Diese Vorstellung ruft die Neunte in Erinnerung, aber als falsche und scheiternde. „Oh Freunde, nicht diese Töne“, beginnt deshalb der Schlusssatz. In allen vier Sätzen fragt Beethoven, womit der Anfang gemacht werden kann, aber erst der vierte findet die Antwort.

Mit der Freude also. Man braucht eigentlich nur einen Blick auf die Debatten zu werfen: Wut und Griesgrämigkeit korrelieren da mit der gegenseitigen Versicherung, dass alles so schlecht sei und man nichts machen könne. Dagegen steht ein Rezo mit seiner Lebensfreude, während sein Video die schlimmen Dinge angreift. Petrenko hat es bei Beethoven herausgehört. Bei einem Beethoven aber, der mit seiner eigenen neuen Botschaft noch ringt. Was eine Ode an die Freude sein soll, ist noch allzu sehr ein wütender Kraftakt. Aber schon der Versuch führt weiter, sodass er Petrenkos lächelnde Zustimmung verdient. Schon im ersten Satz macht der Dirigent hörbar, wie es der zur Mäßigung rufenden Kraft gelingt, immer mehr Form in den rohen Prozess zu bringen.

Mit den Symphonischen Stücken zur Oper Lulu (1934) von Alban Berg hatte der Abend so düster wie irgend möglich begonnen. Petrenko folgt aber offenbar der Devise „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“.

Info

Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko Die zweite Aufführung (Brandenburger Tor) ist in Kürze online nachzuhören

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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