Noise everywhere

Elektroakustische Musik Eine Biennale am vorigen Wochenende wirft die Frage auf: Was hören wir da eigentlich?

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Noise everywhere

Foto: Marco Tedaldi/Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der vorigen Woche von Donnerstag bis Sonntag lief in der Akademie der Künste, Berlin Hanseatenweg, die „Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst“ Kontakte. Ich habe nur wenige Eindrücke mitgenommen. Nicht entfernt kann ich beanspruchen, über die Veranstaltung im Ganzen „mit 28 Ur- und Erstaufführungen und mehr als einhundert Künstlern aus 27 Nationen“ einen Bericht zu geben. Nur gleichsam eine Notiz kann es sein, die darauf hinweist, dass es diese Biennale gibt und sicher auch in Zukunft geben wird. Sie fand schon zum zweiten Mal statt, das erste Mal war 2015. Hauptveranstalter ist DEGEM, die Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik.

Für mich ist elektronische Musik (der Terminus „elektroakustische“ Musik ist spezieller auf Nicht-Pop-Musik bezogen) noch immer Neuland, obwohl ich sie seit Jahrzehnten hier und da höre, auch schon gelegentlich darüber geschrieben habe. Sie stand bisher am Rande: Kompositionen für traditionelle Instrumente und ihren Klang, denen elektronischer Klang nur hinzugefügt war, habe ich meistens gehört. Im Versuch, die Frage zu beantworten, was ich da eigentlich höre, bin ich nie sehr weit gekommen, obwohl ich Werke wie Répons (1981) von Pierre Boulez außerordentlich schätze. Mit den Kontakten hat sich die Perspektive nun umgekehrt. „Was ich höre“, damit will ich sagen, wenn ein traditionelles Orchester einen Trauermarsch spielt, dann höre ich einen Trauermarsch – ich muss es vielleicht nicht weiter explizieren. Auch wenn wir die Musik eines Boulez nehmen, ich meine jetzt die nichtelektronische, „serielle“, sie ist immer noch geeignet, literarische Texte zu begleiten. Eine Begleitung solcher Texte allein durch Elektronik ist aber schwer vorstellbar. In der Biennale kam das jedenfalls nicht vor.

Was es gibt, sind Kompositionen für Elektronik und „Stimmen“, und das mag weiterführen. Texte weisen auf Stimmen, Stimmen aber nicht unbedingt auf Texte. Die Komponisten selber denken darüber nach. Uraufgeführt wurde ein Stück von Wolfgang Heiniger „für sechs Stimmen, fünf selbstspielende kleine Trommeln und Kugellautsprecher“ mit dem Titel Ich habe einen Fisch im Ohr. Es ist die Anfangszeile eines Gedichts, das Heiniger zur Erläuterung geschrieben hat. Der „Fisch“ soll offenbar auf den Tinnitus anspielen. „Und er macht Geräusche. / Ein tiefes Dröhnen, eine Art Wummern.“ Weiter im Deuten geht Hans Tutschku, der sagt in einem Gespräch über sein Stück entwurzelt „für sechs Stimmen und iPod“, ebenfalls eine Uraufführung, es gehe um Vokale und ihre Verbindung mit Konsonanten, Hintergrund sei sein „allgemeines“ Sprachinteresse, Interesse auch für die italienische Oper und das französische Lied, und fügt hinzu: „Wenn man so will, sind wir alle, die mit anderen Sprachen umgehen, in gewissem Sinn entwurzelt.“ Was man hört, wäre demnach eine fremde, uns unverständliche Sprache, aber doch eine Sprache, nur dass uns ihr Sinn verschlossen ist? Ja: „Sehnsucht nach Sinn trifft es ganz gut.“ Befragt, welche Aufgabe die Elektronik in der Komposition erfüllt, antwortet er, sie agiere „als Dialogpartner“, so aber, dass „eine sinngebende Semantik schon im Ansatz verwischt werden [soll], auch wenn eine Öffnung beabsichtigt ist hin zu dem Eindruck: ‚Das kommt mir bekannt vor.‘“ Dann spricht er noch von einer (nur) „vordergründig fremden Klanglandschaft“.

Ich habe das Stück nicht gehört, aber so, wie Tutschku im zuletzt zitierten Satz darüber spricht, könnte man auch über jede tonale Komposition fürs klassische Orchester sprechen. Man hört immer eine Fremdsprache und das Fremde, auch wenn unübersetzbar in Literatur, ist nur vordergründig fremd. Nur was er vorher sagt, markiert den Unterschied: Beethoven oder Brahms komponieren „Sinn“ und nicht bloß die Sehnsucht danach. Auch wenn man es nicht in Worte fassen kann, man versteht sie. Indessen ist Tutschkus Deutung unvereinbar mit derjenigen von Heiniger. Der spricht nur von einem Geräusch im rechten Ohr, das ihn „nicht schlafen lässt“. Hier frage ich mich allerdings, ob es ernst gemeint ist, und glaube eher, dass er sich über uns lustig macht. Ich habe mir auch den Fisch im Ohr nicht angehört, dafür aber eine Komposition, für die er und Enno Poppe gemeinsam zeichnen, Tonband (2008/12) „für zwei Schlagzeuger (mit ca. 25 Kontaktmikrofonen), zwei Keybords und Live-Elektronik“: Das sind nun alles andere als Störgeräusche.

Diese Komposition hat einen solchen Wohlklang, auch eine solche Fülle verschiedenster Klänge samt komplexer Textur und Polyphonie, dass man nicht traurig sein konnte, einmal etwas anderes zu hören als das klassische Orchester. Mit diesem wird eine bestimmte Klangwelt erzeugt, mit der Elektronik, wie Poppe und Heiniger sie ausreizen, eine andere! Wenn ich mir vorstelle, dass ein Heranwachsender künftiger Generationen in beide Klangwelten gleichzeitig eingeführt wird, derart dass er sie von Anbeginn nebeneinander hört, ich wüsste nicht, weshalb er das eine „natürlicher“ als das andere finden sollte. Fasziniert wird er, wenn er für Musik überhaupt empfänglich ist (oder für „Musik und Klangkunst“, wie sich die Biennale differenziert und tautologisch benennt), von beiden Welten sein. Die Frage nach deren „Sinnunterschied“ ist damit freilich nicht beantwortet.

Aber wenn man so fragt: Hat denn der klassische Orchesterklang als solcher einen „Sinn“? Doch wohl so wenig oder so viel wie der elektronische. Eins aber lässt sich sagen, und man dankt es der Biennale, dass es sich sagen lässt. Der Klang des klassischen Orchesters ist in unserer Hörgewohnheit mit „Harmonien“ und deren zunehmender Entgleisung von der „Konsonanz“ in die „Dissonanz“ assoziiert. Es ist nur eine Assoziation, aber eine, die uns prägt. Und am Anfang hat eine Vorstellung gestanden: Die Harmonie bilde den Zusammenklang des „Kosmos“, der Sphären und Weltkörper ab oder sei geradezu er selber. Auf dieser Biennale ist aber zu Gehör gebracht worden, wie es wirklich klingt, wenn menschliche Ohren das All anhören, oder Aspekte davon. Ein Konzert stand unter dem Titel „Musik und Beschleunigerphysik“. Ich habe es gehört, wäre auch hier nicht fähig, mit Worten mehr zu sagen, als dass es elektronisch war. Aber was da gemacht wurde, ist mitgeteilt worden:

„Im Dezember 2015 kam es auf Einladung des Helmholtz-Zentrums Berlin zu einem ersten Treffen zwischen dem Künstler Gerriet K. Sharma und Mitarbeitern des Instituts für Beschleunigerphysik.“ Ergebnis der Zusammenarbeit war gleAM, „Ambisonische Klangskulptur für Bessy II VSR und einen Ikosaederlautsprecher“, eine am vorigen Samstag uraufgeführte Komposition von 35minütiger Dauer. „BESSY II VSR ist ein Projekt des Helmholtz-Zentrums Berlin mit dem Ziel, Elektronenimpulse variabler Länge in dem Elektronenspeicherring BESSY II zu erzeugen.“ „Analoge physikalische Phänomene des Elektronenspeicherrings, wie Interferenzen elektromagnetischer Wellen, hochfrequentes Beamforming und supraleitende Kavitäten – notwendig zur Erzeugung der Synchrotronstrahlung, die z.T. eine Million mal heller als die Sonne ist -, wurden motivische Grundlagen für diese neue Raum-Klangkomposition.“

Dass die Sonne, und was sie an Helligkeit überbietet, nicht nur gesehen sondern gehört werden kann, ist doch gar kein neuer Gedanke. „Ungeheures Getöse verkündet das Herannahen der Sonne“, lesen wir in Goethes Faust. „Felsentore knarren rasselnd, / Phöbus Räder rollen prasselnd, / Welch Getöse bringt das Licht! / Es trommetet, es posaunet, / Auge blinzt und Ohr erstaunet, / Unerhörtes hört sich nicht. / Schlüpfet zu den Blumenkronen, / Tiefer tiefer, still zu wohnen, / In die Felsen unters Laub; / Trifft es euch so seid ihr taub.“ (Vss. 4669 ff.) Neu ist doch nur, dass man es heute realisieren kann. Und schon Goethe hatte offenbar die Vorstellung nicht mehr, dass es wie c-e-g klingen würde. Seine Trommeten und Posaunen ergehen sich vielmehr in „Getöse“, wahrer Geräuschkunst im modernsten Sinn!

Der Komposition von Sharma kann die von José Manuel Berenguer (mit Piral Subirá) zur Seite gestellt werden, ebenfalls eine Uraufführung, mit dem Titel Bienen. Es ist eine „vernetzte live-elektronische Performance für 16 Lautsprecher mit Live-Beobachtung und –Datenübertragung eines Bienenvolkes“. In die Stürme und irre Geschäftigkeit der Bienen, wenn es denn wahr ist, dass sie vor den Mikrophonen standen oder vielmehr flogen, lässt Berenguer zuletzt menschliche Stimmen einfallen, was natürlich einen totalen Kontrast ergibt. Aber es geht ihm mehr noch um die Vergleichbarkeit: „One of the reasons“, schreibt er, „why communities comprising many individual members with similar characteristics seem fascinating to us lies in the fact that complex forms emerge from their interaction.“ Allgemein auf die Frage des realen „kosmischen“ Klangs bezogen schreibt er: „There is noise everywhere: at any temperature above absolute zero, the atoms are agitated with themal energy.“

Wer sich bei klassisch-tonaler Musik vorgestellt hat, er höre irgendwie mit, wie der „Kosmos“ klingt, die Ordnung des Alls, stellte sich diese Ordnung noch anthropomorph vor, beziehungsweise bezog sich auf solche Vorstellungen. Einen „Sinn“ solcher Art wird heute niemand mehr mit dem All verbinden, Elektroakustik hin oder her. Nahe könnte uns aber die Vorstellung sein, dass das All etwas wie eine Aufzeichnungsfläche für das ist, was wir Menschen Sinnvolles denken und schreiben. Als ich am Donnerstag die höchst eindrucksvolle Komposition ..sofferte onde serene... (1975/77) für Klavier und Tonband von Luigi Nono hörte, war das mein spontaner Gedanke, und er scheint nicht so entfernt von Nonos Konzept zu sein. Der Klaviersatz verströmt eine große Ruhe trotz oder in der Trauer, um die es geht (der Titel wäre mit „durchlittene Wellen heitere“ zu übersetzen, die Wortstellung ist auch im Italienischen verquer), und dahinter liegt, meist leise und pochend, eine dunkle elektronische Wand; es ist über weite Strecken nicht viel mehr als das Schweigen des zuhörenden Publikums, von dem man ja nicht sagen würde, es habe keinen Sinn. Man kann sich das Maurizio Pollini gewidmete Stück auf YouTube anhören, von ihm selbst gespielt (er spielt es weniger ruhig als Sawami Kiyoshi auf der Biennale), und Hochinteressantes dazu bei Google Books lesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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