Nur nach Hause!

Literatur Michio Kaku überlegt, warum und wie die Menschheit das All erobern sollte. Aber sollte sie?
Ausgabe 49/2019
Warum nach Centauri schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah
Warum nach Centauri schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah

Foto: Edward Steichen/Condé Nast/Getty Images

Vorbemerkung. Ich möchte etwas sagen zur Bebilderung dieses Artikels von mir, der am 5.12. in der Printzeitung gestanden hat. Sie kommt mir sehr treffsicher vor. Auf den ersten Blick mag es zwar scheinen, als widerspreche sie der Aussage des Artikels, es sei problematisch, dass die Silicon Valley-Milliardäre ihren der Ausbeutung verdankten Mehrwert lieber in Reisen durchs Weltall stecken, die von Menschen nicht mal unternommen werden können, weil sie deren Reisefähigkeit übersteigen, als in die Rettung des ökologischen Gleichgewichts der Erde. Man sieht ja die Erde von einer reichen Spießbürgerin gehalten, liebend, als wär’s ihr Säugling in der Wiege, und möchte in so ein Heim durchaus nicht „nach Hause“ zurückkehren.

Aber genau das war die Haltung des großen uranfänglichen Raumfahrtpioniers, dem zu Ehren der sowjetische Sputnik I ins Orbit gebracht wurde, das geschah nämlich am 100. Geburtstag Konstantin Ziolkowskis. „Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit“, hatte er gesagt, „aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben.“ Gleich nach dem Sputnikstart schrieb Hannah Arendt die „Einleitenden Bemerkungen“ zu ihrem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben, worin sie den Spruch auf Ziolkowskis Grabstein zitiert: „Nicht für immer wird die Menschheit an die Erde gefesselt bleiben.“ Die Erde als Fessel, als Gefängnis. Was wiederum an eine Äußerung Georg Jesco von Puttkamers, der damals zu den NASA-Chefs gehörte, aus dem Jahr 1991 erinnert: „Man muss bedenken, dass [...] die natürliche Umwelt nicht für eine Rasse von Wesen geeignet zu sein scheint, die so dynamisch wächst wie der Mensch – mit der Industrie, mit den Abfällen, mit seinem Energieverbrauch. Irgendwie sind die natürliche Biosphäre der Erde und der Mensch nicht miteinander vereinbar. Ja, es scheint sogar, als ob wir in einer feindlichen Umwelt leben, sonst würden wir nicht in einem solchen Konflikt mit ihr stehen.“ Wer verkenne, dass unsere „Umwelt“ nicht die Erde sondern das Weltall sei, spreche „noch von einer Ökologie des 19. Jahrhunderts“.

Wir haben es da mit einer Alternative zu tun. Ich wollte sie nur klarstellen.

***

Um ein Kilo auf den Mars zu bringen, wären über zwei Milliarden Dollar aufzubringen. Der dorthin fliegende Astronaut verschlingt pro Flug bis zu 500 Milliarden. Die hohen Kosten der Raumfahrt springen Lesern von Michio Kakus Buch Abschied von der Erde zuerst ins Auge. Denn man fragt sich, warum das viele Geld nicht vordringlich zur Rettung der Erde verwendet wird. Weil die Sonne in ein paar Milliarden Jahren kollabieren wird und die Menschheit bis dahin ihre Flucht vorbereitet haben muss? Dieses „Argument“, das wir seit Jahrzehnten kennen, wird auch von dem US-amerikanischen Physiker und Bestsellerautor Kaku, laut Rowohlt Verlag „einer der Väter der Stringtheorie“, wiederholt.

Nun gibt es ja seit Präsident Obamas Appell eine zunehmende Verlagerung der Raumfahrtkosten ins Portemonnaie der US-Milliardäre. Besonders einige Silicon-Valley-Kapitalisten haben sich der Sache angenommen. Jeff Bezos etwa, Gründer von Amazon und Eigentümer der Washington Post, hat das Unternehmen „Blue Origin“ mit dem Nahziel Raumfahrt-Tourismus gegründet. Der Preis für den vielleicht elfminütigen Blick aus der Umlaufbahn auf die Erde könnte bei 200.000 Dollar pro Tourist liegen. Die Marslandung will Elon Musk, Mitgründer des Online-Bezahlsystems PayPal, schneller herbeiführen als die NASA. Aber was ist schon der Mars? Um Centauri zu erreichen, das nächstliegende Sternsystem, wären Tausende Nanoschiffe loszuschicken, von denen einige die Reise heil überstehen würden. Im Vorbeiflug hätten sie einige Stunden Zeit, erdähnliche Planeten zu fotografieren. Es gibt keine Nanoschiffe, man könnte sie aber vielleicht entwickeln. Dafür sind nach Ansicht des jüngst verstorbenen Physikers Stephen Hawking rund zehn Milliarden Dollar erforderlich. Wie die gigantischen Kosten der eigentlichen Flüge bezahlt werden könnten, ist vorerst noch unerfindlich. Doch der Gründer von Facebook, Mark Zuckerberg, unterstützt das Projekt.

KI wird es nie geben

Centauri ist wiederum noch harmlos. Letztendlich berichtet Kaku von der Besiedlung des ganzen Weltalls, ja davon, dass die Menschheit auch den Kältetod des Universums nicht hinnehmen werde. Man stellt sich vor, dass es Abkürzungen im Raum-Zeit-Gewebe der Einstein’schen Relativitätstheorie gibt, sogenannte Wurmlöcher, durch die man schlüpft und so in ein anderes, noch junges Universum gelangt. Die Todesangst scheint groß zu sein. Tatsächlich investieren Silicon-Valley-Milliardäre auch in Projekte, die ihre eigene Unsterblichkeit ermöglichen sollen.

Das Wurmloch ist eine schöne Metapher für unvorstellbar große Parameter. Dass der wie aus weiter Ferne auf die Erde fallende Physikerblick eine Gefahr ist, haben Hannah Arendt, Vilém Flusser und in jüngster Zeit Bruno Latour thematisiert. „Der Marsbewohner“, schreibt Flusser, „würde wahrscheinlich beim Beobachten unserer Hände einen größeren Ekel empfinden als wir, wenn wir die Bewegung von Spinnen beobachten.“ Auch Marx könnte genannt werden, der ja vom christlichen Himmel glaubt, er sei als eine Ferne konzipiert, zu der sich Menschen flüchten, um da, wo sie sind, nicht handeln zu müssen. Kaku jedoch spricht vom Weltall wie von einer Puppenstube.

Statt einen „einzigen gewaltigen Sprung“ zu machen, könnten „wir“ Centauri „per ‚Kometenhüpfen‘ erreichen“, schreibt er etwa. Wenn der nächste „Zwillingsplanet“ 100 Lichtjahre von der Erde entfernt ist, würde ein Raumschiff mit Antimaterie-Antrieb 200 Jahre brauchen, um dort anzukommen. Es wäre die Lebenswelt für zehn Generationen – aber auch „die Kathedralen“, tröstet Kaku, wurden nicht von einer Generation erbaut! Ein Problem ist zwar der Knochen- und Muskelschwund während des Flugs. Schon manche Astronauten, die sich ein Jahr im Orbit befanden, sind danach nie mehr gesund geworden. Man könne den Schwund aber durch ständige Sportübungen aufhalten, mit denen sich überdies die Langeweile vertreiben lasse. Und die Säuglinge, sollen sie auch Sport treiben?

Wir haben es wohl eher mit einer Parabel zu tun, die Kaku dazu dient, sich dem Thema Raumfahrt per Maschinen und KI zu nähern. 200 Jahre – um sicherzustellen, dass es bis zum Ende Nachwuchs gibt, sind pro Raumschiff 200 Menschen Erstbesatzung nötig. Die Bevölkerungsanzahl müsste dann immerzu strikt kontrolliert werden. Ein größeres Problem wäre es, die Strategie dieser Menschen zu kontrollieren. Sie müssten ja über eine Zeitstrecke, die derjenigen zwischen Napoleon und Macron entspricht, immer am selben Ziel festhalten, der Erreichung des „Zwillingsplaneten“; dabei könnte es doch sein, dass schon die erste Generation nach zwei oder drei Jahrzehnten zu dem Schluss kommt, lieber umkehren zu wollen. Dass sich in einer so großen Besatzung Fraktionen, wenn nicht Parteien herausbilden, ist mehr als wahrscheinlich. Soll sie als Diktatur mit bewaffneter Polizei verfasst sein?

Selbst wenn das möglich wäre, könnten spätere Diktatoren anders denken als frühere. Tiefkühlschlaf ist auch keine Lösung, denn auch wache Leute mit „Erfahrung und Urteilsvermögen“ werden immer gebraucht. Es kann ja plötzlich eine unvorhergesehene Gefahr auftauchen, die dann schöpferisch bewältigt werden muss. Dies alles scheint nun dafür zu sprechen, das Raumschiff gar nicht mit Menschen zu besetzen, sondern mit KI-Maschinen: weil sie nicht können, was Menschen können, nämlich ihr Ziel umstoßen. Alle wählbaren Ziele einschließlich des obersten, hier also der Ankunft beim „Zwillingsplaneten“, wären ihnen eincodiert. Das geht aber auch nicht – denn wer sein Ziel nicht umstoßen kann, kann auch der Gefahr nicht ausweichen.

Dieser Widerspruch ist nicht nur unauflösbar, sondern deutet auch darauf hin, dass es ganz allgemein unsinnig ist, zu glauben, es sei so etwas wie „künstliche Intelligenz“ möglich. Denn zur Intelligenz gehört die Fähigkeit, sich auf jeder Ebene des Denkens, auch der höchsten, infolge neuer Wahrnehmung zu korrigieren. Nur Menschen sind dazu fähig. Wollte man eine KI-Maschine auf menschliches Niveau bringen, müssten ihr nicht nur alle Ziele eincodiert werden, die es je gegeben hat, noch gibt und in Zukunft geben kann, sondern auch alle Wahrnehmungen einschließlich der (noch) undenkbaren. Kaku weiß als Physiker, wovon er spricht. Selbst „ein vierjähriges Kind weiß intuitiv mehr über die Physik, Chemie und Biologie der Welt als der fortschrittlichste Computer“. Es gibt zum Beispiel „keine mathematische Formel, die beweist, dass Seile nicht schieben können. Wir haben diese Erkenntnis aus aktueller Erfahrung gewonnen, aus Zusammenstößen mit der Realität.“ Kaku fasst das als „gesunden Menschenverstand“.

Ich glaub, mein Krake pfeift

Dann kommt noch hinzu, dass Roboter auch Begriffe nicht erkennen. Sie nehmen nur Muster wahr, jeder Begriff muss also durch Muster repräsentiert werden, damit sie ihn auffassen können. Das ist schon bei einfachsten sichtbaren Gegenständen schwierig, zum Beispiel dem Tisch, lässt sich da aber noch bewältigen. Man überlege immerhin einmal, wie viele Seiten-, Ober-, Unter- und Schrägwinkel-Ansichten ein Tisch hat, wie viele Arten von Tischen es gibt und welche noch hinzuerfunden werden könnten. Damit der Begriff „Tisch“ wirklich erfasst wäre, müsste auch jener noch eincodiert sein, der in einer Inszenierung von Maurice Ravels L’enfant et les sortilèges auf der Bühne steht, dreimal höher als ein erwachsener Mensch, weil ein solcher in dieser Oper ein Kind spielt (dt. Das Kind und der Zauberspuk, nach dem Libretto von Colette, 1919 – 1925).

Da wäre der staubsaugende Roboter, den es schon gibt, nicht einmal überfordert, doch würde er das Tischbein nicht als Tischbein erkennen. Es könnte ja aber auch ein Lampenständer sein. Gerade dass er keine Begriffe kennt, würde seine Funktionsfähigkeit retten. Und das soll Intelligenz sein? Schon als Roboter in Fukushima aufräumen sollten, sind sie, wie Kaku erzählt, kläglich gescheitert.

Auch „fremde Intelligenzen“ erörtert Kaku breit. Er stellt sich Meere auf Exoplaneten vor, in denen intelligente Wasserwesen leben, eine „krakenähnliche Kreatur“ etwa, die über „eine Zwitscher- oder Pfeifsprache“ verfügt. Aber um andere Intelligenz erfassen zu können, müsste man erst einmal selbst intelligent sein. Da fragt man sich, wozu denn das Weltall gebraucht wird – ob es nicht eine Nummer kleiner geht. Nicht einmal vor die Haustür müsste der Astronaut treten, denn schon die fremde Intelligenz der eigenen Frau oder Freundin wird ihn vielleicht überfordern. Verlässt er aber sein Haus, kann er etwa die Oper besuchen, in Begleitung einer Kunstverständigen, die ihm die Ravel-Colette-Inszenierung erklärt. Das wäre auch deshalb sinnvoll, weil sein astronautischer Impuls ja letztlich aus der Kunst stammt (und nicht wie bei Klimaforschern aus der Naturwissenschaft): Kaku leitet fast jedes Kapitel mit einer Erinnerung an Science-Fiction ein, Literatur oder Film, und erzählt Geschichten von Raumfahrtpionieren, deren Wünsche von dort ihre Prägung erhalten haben.

Was macht das Centauri-System für diese Menschen so interessant? Warum bleiben sie nicht im Kino, was viel billiger käme? Fast möchte man meinen, es könne im All solche Paradiese geben, wie die Erde sie zu bieten hat. Die Toskana, die Fidschi-Inseln, die Lüneburger Heide. Aber das ist ja gerade nicht der Fall. Überall, wo wir hinfliegen würden, ob Mars oder „Exoplanet“, erwarten uns menschenfeindliche Geröllwüsten. Aber solche werden wir ohnehin bald auf der Erde selbst vorfinden, wenn unsere Finanzmittel nicht in deren Rettung investiert, sondern ins All geschossen werden. Warum bleiben die Raumfahrer nicht gleich hier? Oder ist das etwa ihr Antrieb, ihnen selbst unbewusst, sich zur zerstörten Erde hin- statt von ihr wegzubewegen?

Info

Abschied von der Erde. Die Zukunft der Menschheit Michio Kaku Monika Niehaus, Bernd Schuh (Übers.), Rowohlt 2019, 480 S., 25 €

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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