Wie muss der Sinn zusammengebrochen sein, bis es so weit kommt
Foto: Marwan Ibrahim/AFP/Getty Images
Jürgen Manemanns Büchlein Der Dschihad und der Nihilismus des Westens erscheint zum rechten Zeitpunkt. Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? lautet der Untertitel. Die Attentäter von Paris waren kein Nahostimport. Was Manemann zeigen will und mit Zahlen und Fakten untermauert: Solche Männer sind nicht etwa einer extremistischen Religion erlegen. Im Gegenteil, Religion spielt in ihren Erwägungen kaum eine Rolle, und sie kennen sich wenig in ihr aus.
Innerhalb Europas werden die meisten IS-Kämpfer in Belgien rekrutiert: 400 Muslime von 400.000. In Ägypten aber zum Beispiel, wo es 70 Millionen Muslime gibt, sind maximal 3.000 Menschen beigetreten. Die Ägypter werden über den Islam Bescheid wissen, die Teilnehmer der terroristischen „S
der terroristischen „Sauerland-Gruppe“ berichten aber, dass es religiöse Unterweisung im Ausbildungslager kaum gegeben habe.Die leere AggressionAuch der deutsche Verfassungsschutz spricht der religiösen Motivation keine bedeutende Rolle zu. Sogar der Salafismus scheint mehr eine Jugendprotest- als eine Erweckungsbewegung zu sein. Und auch aus Österreich hören wir, dass paradoxerweise gerade bei denjenigen Dschihadisten, die zum Islam konvertiert sind, ein religiöser Hintergrund gefehlt habe.Aber wenn nicht die Religion, was ist es dann sonst? Der frühere Dschihadist Irfan Peci, ein Bosnier, der später V-Mann wurde, sagt: „Ich bin immer noch gläubiger Muslim. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann war mein Glaube nicht der Hauptgrund dafür, einen amerikanischen GI halb zu Tode zu treten. Es war etwas anderes. Ich wollte stark sein. Ich wollte Chef sein. Ich wollte der Langeweile entkommen.“ Die Situation, aus der heraus es zu solchen Sätzen kommt, scheint exemplarisch. „Immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, verlieren die Kontrolle über das eigene Leben“, stellt Manemann fest. Dieser Kontrollverlust tritt aber nicht nur ein, wenn einer den Arbeitsplatz verliert. Viele spätere Dschihadisten waren sozial gut integriert, doch ein kleines Scheitern überforderte sie schon. Zum Beispiel, dass einer sich mit seinem Vater überwarf. Youssef el-Hajdib, der Kofferbomber von Köln, wollte Ingenieur werden, um die Ehre seiner verarmten Familie wiederherzustellen – da jedoch der Studienerfolg auf sich warten ließ, dachte er, die Teilnahme am Krieg sei auch ein Weg. Das Internet unterstützt solche Kurzschlüsse. „Der Sprung von der Virtualität in die Realität ist ein Klacks“, sagt Irfan Peci. Und wie Olivier Roy, ein Politikwissenschaftler, ergänzt, „haben Gewaltfilme sehr großen Erfolg in den französischen Banlieues“.Da unterscheiden sich IS-Jünger nicht sehr von prügelnden Neonazis. Auch ihnen scheint der Unterschied von Virtualität und Realität zu verschwimmen. „Der jugendliche Mörder, der Jagd auf Wehrlose macht, gibt, nach seinen Motiven gefragt, folgende Auskünfte: ‚Ich habe mir nichts dabei gedacht.‘ – ‚Mir war langweilig.‘ – ‚Die Ausländer waren mir irgendwie unangenehm.‘ Das genügt.“ So wird Hans Magnus Enzensberger zitiert. Im Vordergrund stehe „das Verlangen nach der leeren Aggression“. Am interessanten und wichtigsten ist aber die „Langeweile“. Von ihr scheinen Neonazis wie Dschihadisten befallen zu sein, und man kennt sie als Stichwort, das eine nihilistische Situation andeutet.„Aktiver Nihilismus“ ist Manemanns Diagnose, die übrigens von Navid Kermani geteilt wird (Dynamit des Geistes, Göttingen 2002). Der aktive Nihilist leidet darunter, dass es neben ihm noch andere gibt. Angst vor dem Fremden, in der sich Todesangst kristallisiert, ist zwar ein anthropologisches Phänomen. Der aktive Nihilist leidet aber so sehr darunter, dass er die anderen totschlagen will. Um nicht nachdenken zu müssen, wie André Glucksmann schreibt: „Die Ideen spielen keine große Rolle, auch der Anlass ist unwichtig.“ Wie muss der Sinn zusammengebrochen sein, bis es so weit kommt. Wichtiger als das eigene leere Leben wird ein selbstgewählter Tod, durch dessen verheerende Folgen man kurz zwar nur, aber gleichsam endgültig zum „Chef“ wird. Wir haben es schon bei Theodor W. Adorno gelesen: Je mehr mir mein Tod zeige, dass ich gar nicht gelebt habe, desto schrecklicher werde er und desto größer werde die Todesangst. Das sei die gesellschaftliche Situation. Die im Westen lebenden Jugendlichen jedenfalls, die zum Dschihad konvertieren, scheinen es so zu empfinden. Das Selbstmordattentat schafft volles Leben wenigstens im Sterbensaugenblick.Das FührerprinzipHier zeigen sich auch Verbindungen zum klassischen Faschismus. „Bekanntlich lautete der Schlachtruf der spanischen Faschisten: ‚Viva la muerte – Es lebe der Tod!‘“, ruft Manemann in Erinnerung. „Es zeichnete gerade den hitlerischen Radikalfaschismus aus, dass er den Naturgrund des Zusammenlebens als einen ‚Todeskampf der souveränen, kriegerischen, in sich antagonistischen Gruppe‘ verstand.“Auch andere Übereinstimmungen fallen auf: das Führerprinzip, die Erbarmungslosigkeit, die Dauermobilisierung. Der Dschihadismus ist mit dem europäischen Faschismus auch direkt verbunden. Sayyid Qutb, 1906 in Ägypten geboren, führender Theoretiker der Muslimbruderschaft, hat die IS-Ideologie wesentlich mitgeprägt. „Gegen die Dekadenz, von der sich der Dschihadist umgeben sieht, setzt er auf eine neue Vitalität, die erst durch den Kampf entfacht werde.“ „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“, schreiben dann die Täter der Anschläge in Madrid am 11. März 2004. Wegen der Huris im islamischen Paradies? Schwerlich.Eher wegen ihrer „Erfahrung des Nichts“, wie es im Jugendbuch Nichts der dänischen Schriftstellerin Janne Teller erzählt wird: Schon die Kinder erkennen, „dass in ihrer Welt nichts wirklich etwas bedeute, dass die Erwachsenen nur so täten, als ob irgendetwas etwas bedeuten würde“. Der Dschihad braucht nicht importiert zu werden, wir selbst bringen ihn hervor.Placeholder infobox-1
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